Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 04.06.2020 - C-301/18
EuGH 04.06.2020 - C-301/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) - 4. Juni 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 2002/65/EG – Im Fernabsatz geschlossener Darlehensvertrag – Widerrufsrecht – Folgen – Art. 7 Abs. 4 – Rückgewähr der empfangenen Leistungen – Zahlung von Nutzungsersatz – Pflicht des Anbieters – Ausschluss“
Leitsatz
In der Rechtssache C-301/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Bonn (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. April 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Mai 2018, in dem Verfahren
Thomas Leonhard
gegen
DSL-Bank – eine Niederlassung der DB Privat- und Firmenkundenbank AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter L. Bay Larsen und N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn Leonhard, vertreten durch Rechtsanwältin C. Köhler,
der DSL-Bank – eine Niederlassung der DB Privat- und Firmenkundenbank AG, vertreten durch Rechtsanwalt A. Menkel,
der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und E. Lankenau, dann durch die beiden Letztgenannten sowie durch J. Möller als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und C. Valero als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. 2002, L 271, S. 16).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Thomas Leonhard und der DSL-Bank – eine Niederlassung der DB Privat- und Firmenkundenbank AG (im Folgenden: DSL-Bank) über das von Herrn Leonhard ausgeübte Widerrufsrecht in Bezug auf einen zwischen diesen Parteien geschlossenen Darlehensvertrag.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 1, 3, 13 und 14 der Richtlinie 2002/65 heißt es:
Im Rahmen der Verwirklichung der Ziele des Binnenmarkts sind Maßnahmen zu dessen schrittweiser Festigung zu ergreifen; diese Maßnahmen müssen gemäß den Artikeln 95 und 153 [EG] zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus beitragen.
…
… Um den Verbrauchern die Freiheit der Wahl zu gewährleisten, die für sie ein wesentliches Recht darstellt, ist ein hohes Verbraucherschutzniveau erforderlich, damit das Vertrauen des Verbrauchers in den Fernabsatz wächst.
…
Mit der vorliegenden Richtlinie soll ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleistet werden, um den freien Verkehr von Finanzdienstleistungen sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sollten in den durch diese Richtlinie harmonisierten Bereichen keine anderen als die darin festgelegten Bestimmungen vorsehen dürfen, es sei denn, die Richtlinie sieht dies ausdrücklich vor.
Diese Richtlinie erfasst Finanzdienstleistungen jeder Art, die im Fernabsatz erbracht werden können. Für bestimmte Finanzdienstleistungen gelten jedoch besondere gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen, die auch weiterhin auf diese Finanzdienstleistungen anwendbar sind. Dennoch sollten Grundsätze für den Fernabsatz solcher Dienstleistungen festgelegt werden.“
Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Gegenstand dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher.“
Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
‚Fernabsatzvertrag‘ jeden zwischen einem Anbieter und einem Verbraucher geschlossenen, Finanzdienstleistungen betreffenden Vertrag, der im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- bzw. Dienstleistungssystems des Anbieters geschlossen wird, wobei dieser für den Vertrag bis zu und einschließlich dessen Abschlusses ausschließlich ein oder mehrere Fernkommunikationsmittel verwendet;
‚Finanzdienstleistung‘ jede Bankdienstleistung sowie jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung;
‚Anbieter‘ jede natürliche oder juristische Person des öffentlichen oder privaten Rechts, die im Rahmen ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit Dienstleistungen aufgrund von Fernabsatzverträgen erbringt;
‚Verbraucher‘ jede natürliche Person, die bei Fernabsatzverträgen zu Zwecken handelt, die nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können;
…“
Art. 3 („Unterrichtung des Verbrauchers vor Abschluss des Fernabsatzvertrags“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Rechtzeitig bevor der Verbraucher durch einen Fernabsatzvertrag oder durch ein Angebot gebunden ist, sind ihm folgende Informationen zur Verfügung zu stellen:
…
betreffend den Fernabsatzvertrag
Bestehen oder Nichtbestehen eines Widerrufsrechts gemäß Artikel 6 sowie für den Fall, dass ein solches Recht besteht, die Widerrufsfrist und Modalitäten für dessen Ausübung, einschließlich des Betrags, den der Verbraucher gegebenenfalls gemäß Artikel 7 Absatz 1 zu entrichten hat, sowie die Folgen der Nichtausübung dieses Rechts;
…“
In Art. 6 („Widerrufsrecht“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Verbraucher innerhalb einer Frist von 14 Kalendertagen den Vertrag widerrufen kann, ohne Gründe nennen oder eine Vertragsstrafe zahlen zu müssen. …
Die Widerrufsfrist beginnt zu laufen:
am Tag des Abschlusses des Fernabsatzvertrags …
oder an dem Tag, an dem der Verbraucher die Vertragsbedingungen und Informationen gemäß Artikel 5 Absatz 1 oder 2 erhält, wenn dieser Zeitpunkt später als der im ersten Gedankenstrich genannte liegt.
…
(2) Das Widerrufsrecht ist ausgeschlossen bei
…
Verträgen, die auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers von beiden Seiten bereits voll erfüllt sind, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausübt.
(3) Die Mitgliedstaaten können bestimmen, dass das Widerrufsrecht in folgenden Fällen ausgeschlossen ist:
bei einem Kredit, der überwiegend für den Erwerb oder die Erhaltung von Eigentumsrechten an einem Grundstück oder einem bestehenden oder geplanten Gebäude oder zur Renovierung oder Aufwertung eines Gebäudes bestimmt ist; oder
bei einem Kredit, der entweder durch eine Hypothek auf einen unbeweglichen Vermögensgegenstand oder durch ein Recht an einem unbeweglichen Vermögensgegenstand gesichert ist; …
…
(6) Übt der Verbraucher sein Widerrufsrecht aus, so teilt er dies vor Fristablauf unter Beachtung der ihm gemäß Artikel 3 Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe d) gegebenen praktischen Hinweise in einer Weise mit, die einen Nachweis entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ermöglicht. Die Frist gilt als gewahrt, wenn die Mitteilung, sofern sie in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften dem Empfänger zur Verfügung stehenden und ihm zugänglichen Datenträger erfolgt, vor Fristablauf abgesandt wird.
…“
Art. 7 („Zahlung für eine vor Widerruf des Vertrags erbrachte Dienstleistung“) der Richtlinie bestimmt:
„(1) Übt der Verbraucher sein Widerrufsrecht gemäß Artikel 6 Absatz 1 aus, so darf von ihm lediglich die unverzügliche Zahlung für die vom Anbieter gemäß dem Fernabsatzvertrag tatsächlich erbrachte Dienstleistung verlangt werden. Mit der Erfüllung des Vertrags darf erst nach Zustimmung des Verbrauchers begonnen werden. …
…
(3) Der Anbieter darf vom Verbraucher eine Zahlung gemäß Absatz 1 nur verlangen, wenn er nachweisen kann, dass der Verbraucher über den zu zahlenden Betrag gemäß Artikel 3 Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe a) ordnungsgemäß unterrichtet worden ist. Er kann eine solche Zahlung jedoch nicht verlangen, wenn er vor Ende der Widerrufsfrist gemäß Artikel 6 Absatz 1 ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers mit der Vertragsausführung begonnen hat.
(4) Der Anbieter erstattet dem Verbraucher unverzüglich und spätestens binnen 30 Kalendertagen jeden Betrag, den er von diesem gemäß dem Fernabsatzvertrag erhalten hat; hiervon ausgenommen ist der in Absatz 1 genannte Betrag. Diese Frist beginnt an dem Tag, an dem der Anbieter die Mitteilung über den Widerruf erhält.
(5) Der Verbraucher gibt unverzüglich und nicht später als binnen 30 Kalendertagen vom Anbieter erhaltene Geldbeträge und/oder Gegenstände an den Anbieter zurück. …“
Deutsches Recht
§ 312b Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: BGB) sieht vor:
„Fernabsatzverträge sind Verträge über die Lieferung von Waren oder über die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich Finanzdienstleistungen, die zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abgeschlossen werden, es sei denn, dass der Vertragsschluss nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems erfolgt. Finanzdienstleistungen im Sinne des Satzes 1 sind Bankdienstleistungen sowie Dienstleistungen im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung.“
In § 312d BGB heißt es:
„(1) Dem Verbraucher steht bei einem Fernabsatzvertrag ein Widerrufsrecht nach § 355 zu. …
(2) Die Widerrufsfrist beginnt abweichend von § 355 Abs. 2 Satz 1 nicht vor Erfüllung der Informationspflichten gemäß § 312c Abs. 2 … und bei Dienstleistungen nicht vor dem Tage des Vertragsschlusses.
(3) Das Widerrufsrecht erlischt bei einer Dienstleistung auch in folgenden Fällen:
bei einer Finanzdienstleistung, wenn der Vertrag von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt ist, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat …
…
(5) Das Widerrufsrecht besteht ferner nicht bei Fernabsatzverträgen, bei denen dem Verbraucher bereits auf Grund der §§ 495, 499 bis 507 ein Widerrufs- oder Rückgaberecht nach § 355 oder § 356 zusteht. Bei solchen Verträgen gilt Absatz 2 entsprechend.
(6) Bei Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungen hat der Verbraucher abweichend von § 357 Abs. 1 Wertersatz für die erbrachte Dienstleistung nach den Vorschriften über den gesetzlichen Rücktritt nur zu leisten, wenn er vor Abgabe seiner Vertragserklärung auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden ist und wenn er ausdrücklich zugestimmt hat, dass der Unternehmer vor Ende der Widerrufsfrist mit der Ausführung der Dienstleistung beginnt.“
§ 346 BGB lautet auszugsweise:
„(1) Hat sich eine Vertragspartei vertraglich den Rücktritt vorbehalten oder steht ihr ein gesetzliches Rücktrittsrecht zu, so sind im Falle des Rücktritts die empfangenen Leistungen zurückzugewähren und die gezogenen Nutzungen herauszugeben.
(2) Statt der Rückgewähr oder Herausgabe hat der Schuldner Wertersatz zu leisten, soweit
die Rückgewähr oder die Herausgabe nach der Natur des Erlangten ausgeschlossen ist …
Ist im Vertrag eine Gegenleistung bestimmt, ist sie bei der Berechnung des Wertersatzes zugrunde zu legen; ist Wertersatz für den Gebrauchsvorteil eines Darlehens zu leisten, kann nachgewiesen werden, dass der Wert des Gebrauchsvorteils niedriger war.“
§ 355 Abs. 3 BGB bestimmt:
„Das Widerrufsrecht erlischt spätestens sechs Monate nach Vertragsschluss. Bei der Lieferung von Waren beginnt die Frist nicht vor dem Tag ihres Eingangs beim Empfänger. Abweichend von Satz 1 erlischt das Widerrufsrecht nicht, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden ist, bei Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungen ferner nicht, wenn der Unternehmer seine Mitteilungspflichten gemäß § 312c Abs. 2 Nr. 1 nicht ordnungsgemäß erfüllt hat.“
§ 495 Abs. 1 BGB sieht vor:
„Dem Darlehensnehmer steht bei einem Verbraucherdarlehensvertrag ein Widerrufsrecht nach § 355 zu.“
Die Verordnung über Informations- und Nachweispflichten nach bürgerlichem Recht (im Folgenden: BGB-InfoV) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung enthält die Informationspflichten, die ein Unternehmer beachten muss, wenn er mit einem Verbraucher u. a. Fernabsatzverträge abschließt, sowie die Informationspflichten von Kreditinstituten gegenüber Darlehensnehmern.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Im November 2005 schloss Herr Leonhard als Verbraucher mit der DSL-Bank, einem Kreditinstitut, zwei Darlehensverträge zur Finanzierung zweier Eigentumswohnungen (im Folgenden: in Rede stehende Verträge).
Die Vertragsschlüsse kamen wie folgt zustande.
Am 10. November 2005 überließ die DSL-Bank Herrn Leonhard zwei vorformulierte Dokumente, die jeweils als „Darlehensvertrag“ bezeichnet waren und eine Widerrufsbelehrung enthielten. Wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, entsprach die Widerrufsbelehrung nicht dem Wortlaut der geltenden deutschen Regelung und konnte daher nicht den Musterschutz beanspruchen, den die Musterbelehrung in der Anlage zur BGB-InfoV in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung genießt.
Herr Leonhard unterzeichnete die Dokumente am 11. November 2005 und ließ sie der DSL-Bank zukommen. In der Folge stellte er die vereinbarten Sicherheiten; insbesondere bestellte er Grundschulden an den betreffenden Immobilien. Auf seinen Wunsch hin brachte die DSL-Bank die Darlehen zur Auszahlung.
Nachdem Herr Leonhard jeden Monat die Darlehenszinsen gezahlt hatte, erklärte er gegenüber der DSL-Bank mit Schreiben vom 14. November 2015 den Widerruf der in Rede stehenden Verträge. Zur Stützung des Widerrufs machte er geltend, die ihm beim Vertragsschluss überlassene Widerrufsbelehrung stehe nicht im Einklang mit dem nationalen Recht. Weitere Zinszahlungen, die er leisten werde, bedeuteten keine Anerkennung von Pflichten aus den in Rede stehenden Verträgen und erfolgten nur unter dem Vorbehalt der Rückforderung von der DSL-Bank.
Da die DSL-Bank nicht anerkannte, dass Herr Leonhard die in Rede stehenden Verträge wirksam widerrufen hatte, erhob dieser beim Landgericht Bonn (Deutschland) Klage auf Feststellung der Wirksamkeit seines Widerrufs sowie auf Verurteilung der DSL-Bank zur Zahlung von Nutzungsersatz auf die Zinsen, die er bis zum Widerruf an die DSL-Bank gezahlt hatte.
Das vorlegende Gericht führt aus, bei den in Rede stehenden Verträgen handele es sich um „Fernabsatzverträge“ im Sinne von § 312b BGB. Nach den Gepflogenheiten des nationalen Rechts seien die Vorschriften zum Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen im Grundsatz auch auf Immobiliendarlehensverträge anwendbar.
Da die Widerrufsbelehrung in den in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Dokumenten nach nationalem Recht fehlerhaft gewesen sei, sei festzustellen, dass Herr Leonhard die in Rede stehenden Verträge wirksam widerrufen habe.
Was die Folgen des Widerrufs anbelange, sei darauf hinzuweisen, dass der Darlehensnehmer nach § 346 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB verpflichtet sei, dem Darlehensgeber das ausgezahlte Darlehen zurückzugewähren und die daraus gezogenen Nutzungen herauszugeben. Diese beliefen sich gemäß § 346 Abs. 2 Satz 2 BGB grundsätzlich auf die Zinsen, die in dem von den Parteien geschlossenen Vertrag vorgesehen seien. Der Darlehensgeber sei seinerseits verpflichtet, dem Darlehensnehmer nicht nur die erhaltenen Beträge zurückzugewähren, sondern außerdem Nutzungsersatz hierauf zu leisten.
Nach § 312d Abs. 6 BGB habe der Verbraucher bei Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungen Wertersatz für die erbrachte Dienstleistung nur zu leisten, wenn er vor Abgabe seiner Vertragserklärung auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden sei und ausdrücklich zugestimmt habe, dass der Unternehmer vor Ende der Widerrufsfrist mit der Ausführung der Dienstleistung beginne. Die nationale Regelung könne jedoch dahin gehend verstanden werden, dass die Ansprüche des Verbrauchers auf Nutzungsersatz gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB fortbestünden. In diesem Fall erhalte der Verbraucher bzw. Darlehensnehmer nicht nur die Zins- und Tilgungsleistungen zurück, sondern hierauf auch Nutzungsersatz.
Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts steht es allerdings nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2002/65, dass der Darlehensnehmer vom Darlehensgeber solchen Nutzungsersatz verlangen kann. Insoweit bewirke diese Richtlinie nämlich eine Vollharmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten.
Unter diesen Umständen hat das Landgericht Bonn beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65 dahin gehend auszulegen, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nach erklärtem Widerruf eines im Fernabsatz geschlossenen Verbraucherdarlehensvertrags vorsieht, dass der Anbieter dem Verbraucher über den Betrag hinaus, den er vom Verbraucher gemäß dem Fernabsatzvertrag erhalten hat, auch Nutzungsersatz auf diesen Betrag zu zahlen hat?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Dezember 2018 ist das vorliegende Verfahren bis zur Verkündung des Urteils vom 11. September 2019, Romano (C-143/18, EU:C:2019:701), ausgesetzt worden.
Die Kanzlei des Gerichtshofs hat dieses Urteil dem vorlegenden Gericht übermittelt.
Mit Schreiben vom 25. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Oktober 2019, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof auf eine von ihm gestellte Frage hin mitgeteilt, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalte, da der Gerichtshof im Urteil vom 11. September 2019, Romano (C-143/18, EU:C:2019:701), die dritte Vorlagefrage – die mit der einzigen in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage identisch ist – nicht beantwortet habe.
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65 dahin auszulegen ist, dass ein Verbraucher, der sein Widerrufsrecht in Bezug auf einen im Fernabsatz mit einem Anbieter geschlossenen Darlehensvertrag ausübt, von dem Anbieter vorbehaltlich der Beträge, die er selbst unter den in Art. 7 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie genannten Bedingungen an ihn zahlen muss, die Erstattung der zur Erfüllung des Vertrags gezahlten Tilgungs- und Zinsbeträge verlangen kann, nicht aber Nutzungsersatz auf diese Beträge.
Das vorlegende Gericht stellt fest, nach der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils erwähnten nationalen Regelung könne der Verbraucher bzw. Darlehensnehmer, der den Vertrag mit dem Anbieter widerrufen habe, nicht nur die Rückgewähr der Tilgungs- und Zinsleistungen verlangen, sondern auch Nutzungsersatz hierauf.
Hierzu geht aus Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65 hervor, dass der Anbieter dem Verbraucher, der beschließt, sein Widerrufsrecht in Bezug auf einen im Fernabsatz geschlossenen Darlehensvertrag auszuüben, jeden Betrag zu erstatten hat, den er von dem Verbraucher gemäß diesem Vertrag erhalten hat, mit Ausnahme des in Art. 7 Abs. 1 genannten Betrags, d. h. des im Rahmen der tatsächlich erbrachten Dienstleistung unter den Bedingungen des Art. 7 Abs. 3 erhaltenen Betrags.
Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65 ist unmissverständlich und sieht eine Pflicht des Anbieters vor, dem Verbraucher jeden Betrag zu erstatten, den er „von diesem gemäß dem Fernabsatzvertrag erhalten“ hat, und keinen weiteren Betrag.
Zahlt der Verbraucher zur Erfüllung des Darlehensvertrags das Darlehenskapital zuzüglich Zinsen an den Anbieter, muss die Erstattung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65 sowohl die vom Verbraucher gezahlten Tilgungsbeträge als auch die Darlehenszinsen umfassen.
Weder Art. 7 Abs. 4 noch irgendeine andere Vorschrift der Richtlinie 2002/65 sieht vor, dass der Anbieter, wenn der Verbraucher den mit ihm geschlossenen Vertrag widerruft, verpflichtet wäre, über die Erstattung der vom Verbraucher gezahlten Tilgungs- und Zinsbeträge hinaus auch Nutzungsersatz auf die im Rahmen der Vertragserfüllung erhaltenen Beträge an den Verbraucher zu leisten.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2002/65, wie aus ihrem Art. 1 Abs. 1 im Licht ihres 13. Erwägungsgrundes hervorgeht, grundsätzlich eine Vollharmonisierung der von ihr geregelten Aspekte bewirkt. Wie es in diesem Erwägungsgrund heißt, sollten die Mitgliedstaaten nämlich in den durch diese Richtlinie harmonisierten Bereichen keine anderen als die darin festgelegten Bestimmungen vorsehen dürfen, es sei denn, die Richtlinie sieht dies ausdrücklich vor (Urteil vom 11. September 2019, Romano, C-143/18, EU:C:2019:701, Rn. 34).
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65 dahin auszulegen ist, dass ein Verbraucher, der sein Widerrufsrecht in Bezug auf einen im Fernabsatz mit einem Anbieter geschlossenen Darlehensvertrag ausübt, von dem Anbieter vorbehaltlich der Beträge, die er selbst unter den in Art. 7 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie genannten Bedingungen an ihn zahlen muss, die Erstattung der zur Erfüllung des Vertrags gezahlten Tilgungs- und Zinsbeträge verlangen kann, nicht aber Nutzungsersatz auf diese Beträge.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG ist dahin auszulegen, dass ein Verbraucher, der sein Widerrufsrecht in Bezug auf einen im Fernabsatz mit einem Anbieter geschlossenen Darlehensvertrag ausübt, von dem Anbieter vorbehaltlich der Beträge, die er selbst unter den in Art. 7 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie genannten Bedingungen an ihn zahlen muss, die Erstattung der zur Erfüllung des Vertrags gezahlten Tilgungs- und Zinsbeträge verlangen kann, nicht aber Nutzungsersatz auf diese Beträge.
Safjan
Bay Larsen
Jääskinen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 4. Juni 2020.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident der Sechsten Kammer
M. Safjan
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK Baden-Württemberg
Persönlicher Ansprechpartner
Kontaktformular
Weitere Kontakt- und Bankdaten