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EuGH 12.11.2014 - C-140/13
EuGH 12.11.2014 - C-140/13 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) - 12. November 2014 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Richtlinie 2004/39/EG — Art. 54 — Berufsgeheimnis der nationalen Finanzaufsichtsbehörden — Informationen über eine betrügerische Wertpapierfirma, die sich im Verfahren der gerichtlichen Liquidation befindet“
Leitsatz
In der Rechtssache C-140/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2013, in dem Verfahren
Annett Altmann,
Torsten Altmann,
Hans Abel,
Waltraud Apitzsch,
Uwe Apitzsch,
Simone Arnold,
Barbara Assheuer,
Ingeborg Aubele,
Karl-Heinz Aubele
gegen
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht,
Beteiligter:
Frank Schmitt,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau und Herrn Altmann, Herrn Abel, Frau und Herrn Apitzsch, Frau Arnold und Frau Assheuer sowie Frau und Herrn Aubele, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Kilian und S. Giller,
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, vertreten durch R. Wiegelmann als Bevollmächtigten,
von Herrn Schmitt als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Phoenix Kapitaldienst GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt A. J. Baumert,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Germani, K. Nasopoulou und F. Dedousi als Bevollmächtigte,
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. Cunha und M. Manuel Simões als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch K.-P. Wojcik, A. Nijenhuis und J. Rius als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. September 2014
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. L 145, S. 1).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau und Herrn Altmann, Herrn Abel, Frau und Herrn Apitzsch, Frau Arnold und Frau Assheuer sowie Frau und Herrn Aubele auf der einen und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden: BaFin) auf der anderen Seite wegen der Entscheidung der BaFin vom 9. Oktober 2012, den Zugang zu bestimmten Dokumenten und Informationen über die Phoenix Kapitaldienst GmbH Gesellschaft für die Durchführung und Vermittlung von Vermögensanlagen (im Folgenden: Phoenix) zu verweigern.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 2 und 63 der Richtlinie 2004/39 heißt es:
… [Es] ist … erforderlich, eine Harmonisierung in dem Umfang vorzunehmen, der notwendig ist, um Anlegern ein hohes Schutzniveau zu bieten und Wertpapierfirmen das Erbringen von Dienstleistungen in der gesamten Gemeinschaft im Rahmen des Binnenmarkts auf der Grundlage der Herkunftslandaufsicht zu gestatten. …
…
… In Anbetracht zunehmender grenzüberschreitender Tätigkeiten sollten die zuständigen Behörden einander die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben zweckdienlichen Informationen übermitteln, um eine wirksame Anwendung dieser Richtlinie auch in Situationen zu gewährleisten, in denen Verstöße oder mutmaßliche Verstöße für die Behörden in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten von Bedeutung sein können. Bei diesem Informationsaustausch ist die strikte Wahrung des Berufsgeheimnisses erforderlich, um die reibungslose Übermittlung dieser Informationen und den Schutz individueller Rechte zu gewährleisten.“
Art. 17 („Allgemeine Verpflichtung zur laufenden Überwachung“) der Richtlinie 2004/39 bestimmt in seinem Abs. 1:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden die Tätigkeit von Wertpapierfirmen überwachen, um die Einhaltung der Bedingungen für die Ausübung der Tätigkeit gemäß dieser Richtlinie zu beurteilen. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass geeignete Maßnahmen vorhanden sind, damit die zuständigen Behörden die notwendigen Informationen erhalten, um die Einhaltung dieser Bedingungen durch die Wertpapierfirmen zu prüfen.“
Art. 50 („Befugnisse der zuständigen Behörden“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die zuständigen Behörden sind mit allen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben notwendigen Überwachungs- und Ermittlungsbefugnissen auszustatten. …
(2) Die Befugnisse gemäß Absatz 1 werden in Einklang mit dem nationalen Recht ausgeübt und umfassen zumindest das Recht,
Unterlagen aller Art einzusehen und eine Kopie von ihnen zu erhalten,
von jeder Person Auskünfte zu verlangen und, falls notwendig, eine Person vorzuladen und zu vernehmen,
…“
Art. 54 („Berufsgeheimnis“) der Richtlinie 2004/39 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden, alle Personen, die für diese … tätig sind oder waren, sowie die von den zuständigen Behörden beauftragten Wirtschaftsprüfer und Sachverständigen dem Berufsgeheimnis unterliegen. Diese dürfen vertrauliche Informationen, die sie in ihrer beruflichen Eigenschaft erhalten, an keine Person oder Behörde weitergeben, es sei denn in zusammengefasster oder allgemeiner Form, so dass die einzelnen Wertpapierfirmen, Marktbetreiber, geregelten Märkte oder anderen Personen nicht zu erkennen sind; davon unberührt bleiben Fälle, die unter das Strafrecht oder andere Bestimmungen dieser Richtlinie fallen.
(2) Wurde gegen eine Wertpapierfirma … durch Gerichtsbeschluss das Konkursverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung eingeleitet, so dürfen vertrauliche Informationen, die sich nicht auf Dritte beziehen, in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden, sofern dies für das betreffende Verfahren erforderlich ist.
(3) Unbeschadet der Fälle, die unter das Strafrecht fallen, dürfen die zuständigen Behörden … vertrauliche Informationen, die sie gemäß dieser Richtlinie erhalten, nur zur Wahrnehmung ihrer Verantwortlichkeiten und Aufgaben … verwenden. Gibt die zuständige Behörde oder andere Behörde, Stelle oder Person, die die Information übermittelt, jedoch ihre Zustimmung, so darf die Behörde, die die Information erhält, diese für andere Zwecke verwenden.
(4) Vertrauliche Informationen, die gemäß dieser Richtlinie empfangen, ausgetauscht oder übermittelt werden, unterliegen den Vorschriften dieses Artikels über das Berufsgeheimnis. Dieser Artikel steht dem allerdings nicht entgegen, dass die zuständigen Behörden … vertrauliche Informationen mit Zustimmung der die Informationen übermittelnden zuständigen Behörde oder anderen Behörden, Stellen und sonstigen juristischen oder natürlichen Personen austauschen oder solche übermitteln.
(5) Dieser Artikel steht dem Austausch oder der Übermittlung vertraulicher Informationen, die nicht von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats empfangen wurden, durch die zuständigen Behörden im Einklang mit dem jeweils maßgebenden nationalen Recht nicht entgegen.“
In Art. 56 („Pflicht zur Zusammenarbeit“) der Richtlinie 2004/39 heißt es in Abs. 1:
„Die zuständigen Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, wann immer dies zur Wahrnehmung der in dieser Richtlinie festgelegten Aufgaben erforderlich ist und machen dazu von den ihnen entweder durch diese Richtlinie oder das nationale Recht übertragenen Befugnissen Gebrauch.
Die zuständigen Behörden leisten den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten Amtshilfe. Sie tauschen insbesondere Informationen aus und arbeiten bei Ermittlungen oder der Überwachung zusammen.
…“
Deutsches Recht
In § 1 Abs. 1 des Informationsfreiheitsgesetzes vom 5. September 2005 (BGBl. 2005 I S. 2722, im Folgenden: IFG) heißt es:
„Jeder hat nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen.“
§ 3 („Schutz von besonderen öffentlichen Belangen“) IFG bestimmt in Nr. 4:
„Der Anspruch auf Informationszugang besteht nicht,
…
wenn die Information einer durch Rechtsvorschrift oder durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen geregelten Geheimhaltungs- oder Vertraulichkeitspflicht oder einem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis unterliegt.“
§ 9 („Verschwiegenheitspflicht“) des Kreditwesengesetzes vom 9. September 1998 (BGBl. 1998 I S. 2776) in der Fassung des Gesetzes vom 4. Juli 2013 (BGBl. 2013 I S. 1981) (im Folgenden: KWG) sieht in Abs. 1 vor:
„Die bei der [BaFin] beschäftigten … Personen …, soweit sie zur Durchführung dieses Gesetzes tätig werden, dürfen die ihnen bei ihrer Tätigkeit bekanntgewordenen Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse [der diesem Gesetz unterliegenden Rechtssubjekte] oder eines Dritten liegt, insbesondere Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse, nicht unbefugt offenbaren oder verwerten, auch wenn sie nicht mehr im Dienst sind oder ihre Tätigkeit beendet ist. …“
§ 8 („Verschwiegenheitspflicht“) des Wertpapierhandelsgesetzes vom 9. September 1998 (BGBl. 1998 I S. 2708) in der Fassung des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. 2013 I S. 2390) (im Folgenden: WpHG) hat in seinem Abs. 1 den gleichen Wortlaut wie § 9 Abs. 1 KWG.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass mit Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 1. Juli 2005 in Bezug auf Phoenix ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Zugleich wurde die Gesellschaft aufgelöst und befindet sich seitdem in Liquidation. Das Geschäftsmodell von Phoenix war im Wesentlichen auf Anlagebetrug angelegt. Rund 30000 Anleger wurden geschädigt; die Schadenssumme beläuft sich auf 600 Mio. Euro.
Mit Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 11. Juli 2006 wurden zwei ehemalige Führungskräfte von Phoenix in einem Strafverfahren der Untreue und des Anlagebetrugs für schuldig befunden und zu Freiheitsstrafen von sieben Jahren und vier Monaten bzw. zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Am 21. Mai 2012 beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens unter Berufung auf § 1 Abs. 1 IFG bei der BaFin Einsicht in Unterlagen über Phoenix, u. a. in die Berichte der Wirtschaftsprüfer, die Verträge, die Aktennotizen, die internen Stellungnahmen, die einschlägige Korrespondenz sowie die Tätigkeits- und Geschäftsberichte der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen.
Mit Entscheidung vom 31. Juli 2012 kam die BaFin dem Auskunftsersuchen weitgehend nach. Sie verweigerte den Klägern des Ausgangsverfahrens jedoch Einsicht in den Sonderprüfungsbericht von Ernst & Young vom 31. März 2002, die Berichte der Wirtschaftsprüfer von Phoenix, die internen Stellungnahmen, Berichte, Korrespondenz, Unterlagen, Absprachen, Verträge, Aktennotizen und Schreiben, die Phoenix betrafen, sowie sämtliche internen Stellungnahmen und geführte Korrespondenz, die nach Bekanntgabe des genannten Prüfungsberichts erstellt wurden.
Die BaFin lehnte diese Anträge u. a. mit der Begründung ab, der Gewährung des Zugangs zu den in Rede stehenden Informationen stünden die Verschwiegenheitspflichten aus § 9 KWG und § 8 WpHG in Verbindung mit § 3 Nr. 4 IFG entgegen. Am 21. August 2012 legten die Kläger des Ausgangsverfahrens gegen den ablehnenden Bescheid Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 9. Oktober 2012 wies die BaFin den Widerspruch zurück.
Am 12. November 2012 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens gegen diesen Bescheid Klage vor dem vorlegenden Gericht. Mit Urteil vom 11. Dezember 2012 verpflichtete das vorlegende Gericht die BaFin auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Zugang zu einem Teil der begehrten Informationen zu gewähren.
Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht jedoch hervor, dass das vorlegende Gericht in einem anderen Verfahren, das ebenfalls den Zugang zu Informationen der BaFin über Phoenix betraf, mit Urteil vom 12. März 2008 entschieden hatte, dass der Informationsanspruch nach § 1 Abs. 1 IFG geltend gemacht werden könne, wenn eine Geheimhaltung aufgrund der Schutzzwecke der §§ 9 KWG und 8 WpHG nicht mehr geboten sei. In diesem Urteil führte es aus, dass kein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen von Phoenix bestehe, weil sich die begehrten Informationen auf strafbare Handlungen oder sonstige schwerwiegende Rechtsverstöße bezögen.
Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass es in einem Fall wie dem vorliegenden die Interessen von Phoenix weiterhin nicht für schutzbedürftig halte, so dass von der Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht nach § 9 KWG und § 8 WpHG ausnahmsweise abgesehen werden könne.
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist es mit dem Recht der Europäischen Union zu vereinbaren, dass zwingende Verschwiegenheitspflichten, die den nationalen Behörden, welche die Aufsicht über Finanzdienstleistungsunternehmen ausüben, obliegen und die ihre Grundlage in einschlägigen Rechtsakten des Unionsrechts haben (hier: Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG [ABl. L 390, S. 38], Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute [ABl. L 177, S. 1] und Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren [OGAW] [ABl. L 302, S. 32]) und entsprechend in nationales Recht umgesetzt worden sind, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland mit § 9 KWG und § 8 WpHG geschehen ist, durch die Anwendung und Auslegung einer nationalen prozessrechtlichen Vorschrift, wie sie § 99 der Verwaltungsgerichtsordnung darstellt, durchbrochen werden können?
Kann sich eine Aufsichtsbehörde wie die BaFin gegenüber einer Person, die bei ihr den Zugang zu Informationen über einen bestimmten Finanzdienstleister nach dem IFG beantragt hat, auch dann auf die ihr u. a. nach Unionsrecht obliegenden Verschwiegenheitspflichten berufen, wie sie in § 9 KWG und § 8 WpHG normiert sind, wenn das wesentliche Geschäftskonzept der Gesellschaft, die Finanzdienstleistungen angeboten hatte, zwischenzeitlich aber wegen Insolvenz aufgelöst worden ist und sich in Liquidation befindet, in groß angelegtem Anlagebetrug verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern bestand und Verantwortliche dieser Gesellschaft rechtskräftig zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden sind?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Mit Beschluss vom 19. Mai 2014, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht mitgeteilt, dass es an seiner ersten Frage nicht mehr festhalten möchte. Daher braucht diese Frage gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht beantwortet zu werden.
Zur zweiten Vorlagefrage
Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht zwar auf die Richtlinien 2004/109, 2006/48 und 2009/65 Bezug genommen hat, doch ist im Hinblick auf die ergänzenden Informationen, die es in Beantwortung eines gemäß Art. 101 der Verfahrensordnung ergangenen Ersuchens um Klarstellung übermittelt hat, und angesichts des Umfangs der Erlaubnis, über die Phoenix verfügte, allein Art. 54 der Richtlinie 2004/39 im Ausgangsverfahren einschlägig.
Daher ist die Vorlagefrage ausschließlich im Hinblick auf diesen Artikel zu prüfen.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 54 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/39 dahin auszulegen ist, dass sich eine nationale Aufsichtsbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens auf die Pflicht berufen kann, das Berufsgeheimnis gegenüber einer Person zu wahren, die bei ihr Zugang zu Informationen über eine nunmehr in Liquidation befindliche Wertpapierfirma beantragt hat, wenn das wesentliche Geschäftskonzept dieser Firma in groß angelegtem Anlagebetrug, verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern, bestand und mehrere Verantwortliche der Firma zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage sind die mit der Richtlinie 2004/39 verfolgten Ziele und der Zusammenhang, in dem ihr Art. 54 steht, zu berücksichtigen.
Aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/39 geht hervor, dass mit ihr eine Harmonisierung in dem Umfang vorgenommen werden soll, der notwendig ist, um Anlegern ein hohes Schutzniveau zu bieten und Wertpapierfirmen das Erbringen von Dienstleistungen in der gesamten Union auf der Grundlage der Herkunftslandaufsicht zu gestatten.
Ferner ergibt sich aus dem 63. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten in Anbetracht zunehmender grenzüberschreitender Tätigkeiten einander die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben zweckdienlichen Informationen übermitteln sollen, um eine wirksame Anwendung dieser Richtlinie zu gewährleisten.
Daher haben die Mitgliedstaaten nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 sicherzustellen, dass die zuständigen Behörden die Tätigkeit von Wertpapierfirmen ständig überwachen, um sich zu vergewissern, dass sie ihren Pflichten nachkommen.
Nach Art. 50 Abs. 1 und 2 der Richtlinie müssen die zuständigen Behörden über alle für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben notwendigen Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse verfügen, einschließlich des Rechts, Unterlagen aller Art einzusehen und von jeder Person Auskünfte zu verlangen.
Art. 56 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 schreibt vor, dass die zuständigen Behörden den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten Amtshilfe leisten und dass sie insbesondere Informationen austauschen und bei Ermittlungen oder der Überwachung zusammenarbeiten.
Das wirksame Funktionieren des in den vorstehenden Randnummern kurz beschriebenen Systems zur Überwachung der Tätigkeit von Wertpapierfirmen, das auf einer Überwachung innerhalb eines Mitgliedstaats und dem Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden mehrerer Mitgliedstaaten beruht, erfordert es, dass sowohl die überwachten Firmen als auch die zuständigen Behörden sicher sein können, dass die vertraulichen Informationen grundsätzlich auch vertraulich bleiben (vgl. entsprechend Urteil Hillenius, 110/84, EU:C:1985:495, Rn. 27).
Wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie auch aus dem letzten Satz des 63. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2004/39 hervorgeht, könnte das Fehlen eines solchen Vertrauens die reibungslose Übermittlung der vertraulichen Informationen gefährden, die zur Ausübung der Überwachungstätigkeit erforderlich sind.
Daher stellt Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 zum Schutz nicht nur der unmittelbar betroffenen Firmen, sondern auch des normalen Funktionierens der Unionsmärkte für Finanzinstrumente die Grundregel auf, dass das Berufsgeheimnis zu wahren ist.
Die speziellen Fälle, in denen das allgemeine Verbot der Weitergabe vertraulicher Informationen, die unter das Berufsgeheimnis fallen, der Übermittlung oder Verwendung solcher Informationen nicht entgegensteht, sind in Art. 54 der Richtlinie 2004/39 im Einzelnen aufgeführt.
Daraus folgt, dass es außerhalb der in Art. 54 speziell vorgesehenen Sachverhalte keine Ausnahmen vom generellen Verbot der Weitergabe vertraulicher Informationen geben kann.
Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht des betrügerischen Charakters der von Phoenix ausgeübten Tätigkeit, der strafrechtlichen Verurteilungen ihrer Führungskräfte und ihrer Liquidation zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 die Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses mit der Maßgabe zur Anwendung kommt, dass „davon unberührt … Fälle [bleiben], die unter das Strafrecht … fallen“.
Zum anderen dürfen nach Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie, wenn gegen eine Wertpapierfirma durch Gerichtsbeschluss das Konkursverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung eingeleitet wurde, „vertrauliche Informationen, die sich nicht auf Dritte beziehen, in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden, sofern dies für das betreffende Verfahren erforderlich ist“.
Daher kann in Bezug auf Informationen, die Wertpapierfirmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende betreffen, gegen die durch Gerichtsbeschluss das Konkursverfahren eröffnet oder deren Zwangsabwicklung eingeleitet wurde, von der Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses – unbeschadet der Fälle, die unter das Strafrecht fallen – nur dann abgewichen werden, wenn die drei in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen erfüllt sind, und zwar, dass sich die vertraulichen Informationen nicht auf Dritte beziehen, dass ihre Weitergabe in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren stattfindet und dass sie für das betreffende Verfahren erforderlich sind.
Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch weder hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit, der ein Verwaltungsverfahren über einen Antrag auf Zugang zu Informationen und Dokumenten betrifft, über die eine nationale Aufsichtsbehörde aufgrund des IFG verfügt, unter das Strafrecht fällt, da der Antrag im Anschluss an die strafrechtlichen Verurteilungen der Führungskräfte von Phoenix gestellt wurde, noch dass er Teil zivil- oder handelsrechtlicher Verfahren ist, die von den Klägern des Ausgangsverfahrens angestrengt wurden.
Sollte dies der Fall sein, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat, würde keine der Bestimmungen von Art. 54 der Richtlinie 2004/39 eine Abweichung von der Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses gestatten.
Die vom vorlegenden Gericht hervorgehobenen Umstände, wonach zum einen das wesentliche Geschäftskonzept der betreffenden Firma in groß angelegtem Anlagebetrug, verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern, bestanden habe und zum anderen mehrere Verantwortliche dieser Firma zu Freiheitsstrafen verurteilt worden seien, ändern nichts an der Antwort, die auf die Vorlagefrage zu geben ist.
Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 54 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/39 dahin auszulegen ist, dass sich eine nationale Aufsichtsbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens auf die Pflicht berufen kann, gegenüber einer Person, die bei ihr in einem Fall, der weder unter das Strafrecht fällt noch ein zivil- oder handelsrechtliches Verfahren betrifft, Zugang zu Informationen über eine nunmehr in Liquidation befindliche Wertpapierfirma beantragt hat, das Berufsgeheimnis zu wahren, auch wenn das wesentliche Geschäftskonzept dieser Firma in groß angelegtem Anlagebetrug, verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern, bestand und mehrere Verantwortliche der Firma zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 54 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates ist dahin auszulegen, dass sich eine nationale Aufsichtsbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens auf die Pflicht berufen kann, gegenüber einer Person, die bei ihr in einem Fall, der weder unter das Strafrecht fällt noch ein zivil- oder handelsrechtliches Verfahren betrifft, Zugang zu Informationen über eine nunmehr in Liquidation befindliche Wertpapierfirma beantragt hat, das Berufsgeheimnis zu wahren, auch wenn das wesentliche Geschäftskonzept dieser Firma in groß angelegtem Anlagebetrug, verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern, bestand und mehrere Verantwortliche der Firma zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.
Unterschriften
( *1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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