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EuGH 19.07.2012 - C-522/10
EuGH 19.07.2012 - C-522/10 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) - 19. Juli 2012 ( *1) - „Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen — Verordnung (EG) Nr. 987/2009 — Art. 44 Abs. 2 — Prüfung eines Anspruchs auf Altersrente — Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten — Anwendbarkeit — Art. 21 AEUV — Freizügigkeit“
Leitsatz
In der Rechtssache C-522/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sozialgericht Würzburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Oktober 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 2010, in dem Verfahren
Doris Reichel-Albert
gegen
Deutsche Rentenversicherung Nordbayern
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters J. Malenovský, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis und D. Šváby (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Reichel-Albert, vertreten durch Rechtsanwalt J. Schwach,
der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern, vertreten durch Direktor W. Willeke,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und M. van Hoof als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. März 2012
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Reichel-Albert und der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern (im Folgenden: DRN) wegen deren Weigerung, die „Kindererziehungszeiten“ und „Berücksichtigungszeiten“, die Frau Reichel-Albert in Belgien zurückgelegt hat, für die Berechnung ihrer künftigen Altersrente anzuerkennen und anzurechnen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71
Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), enthält eine Reihe von Regeln zur Bestimmung der jeweils anzuwendenden Rechtsvorschriften. Er sieht vor, dass diese Regeln zur Anwendung kommen, soweit nicht die Art. 14 bis 17 dieser Verordnung, die verschiedene spezielle Regeln enthalten, etwas anderes bestimmen.
Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:
„ein Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaats beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und auch dann, wenn er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sein Arbeitgeber oder das Unternehmen, das ihn beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat“.
Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71, der mit Wirkung ab 29. Juli 1991 durch die Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 206, S. 2) eingefügt wurde, bestimmt:
„eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gemäß einer der Vorschriften in den vorhergehenden Buchstaben oder einer der Ausnahmen bzw. Sonderregelungen der Artikel 14 bis 17 auf sie anwendbar würden, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, nach Maßgabe allein dieser Rechtsvorschriften“.
Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004
Die am 20. Mai 2004 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) bezweckt die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Sie gilt gemäß ihrem Art. 91 ab dem Tag des Inkrafttretens ihrer Durchführungsverordnung, der Verordnung Nr. 987/2009, d. h. seit 1. Mai 2010, und ist an die Stelle der vorherigen Regelung getreten, die durch sie aktualisiert und vereinfacht wurde.
Art. 87 („Übergangsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„(1) Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem Beginn ihrer Anwendung.
(2) Für die Feststellung des Leistungsanspruchs nach dieser Verordnung werden alle Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat zurückgelegt worden sind.
(3) Vorbehaltlich des Absatzes 1 begründet diese Verordnung einen Leistungsanspruch auch für Ereignisse vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat.
…“
Die Verordnung Nr. 987/2009
Die Verordnung Nr. 987/2009 regelt die Durchführung der Grundverordnung Nr. 883/2004, wie in deren Art. 89 vorgesehen.
Art. 44 („Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten“) der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:
„(1) Im Sinne dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck ‚Kindererziehungszeit‘ jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden und unabhängig davon, ob sie während der Erziehungszeit anfallen oder rückwirkend anerkannt werden.
(2) Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden.
…“
Art. 93 („Übergangsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:
„Artikel 87 der Grundverordnung gilt für die Sachverhalte im Anwendungsbereich der Durchführungsverordnung.“
Deutsches Recht
Nach dem deutschen Recht werden Zeiten der Kindererziehung im System der gesetzlichen Rentenversicherung auf zwei Arten berücksichtigt. Die erste Art ist die Anerkennung von „Kindererziehungszeiten“ als Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, so dass diese Zeiträume auf die erforderliche Wartezeit für einen Anspruch auf Altersrente angerechnet werden können. Die zweite Art ist die Anrechnung in Form von „Berücksichtigungszeiten“, die keinen Rentenanspruch begründen, aber bei der Erfüllung bestimmter Wartezeiten berücksichtigt werden, den Erwerbsminderungsschutz aufrechterhalten und sich positiv bei der Bewertung beitragsfreier Zeiten auswirken.
§ 56 („Kindererziehungszeiten“) Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (im Folgenden: SGB VI) bestimmt:
„(1) Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn
die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,
die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und
der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.
…
(3) Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.
…“
In § 57 („Berücksichtigungszeiten“) SGB VI heißt es:
„Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr ist bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. …“
Für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind verringern sich die Beitragszeiten wegen Kindererziehung gemäß § 249 SGB VI von drei Jahren auf zwölf Monate.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Frau Reichel-Albert ist deutsche Staatsangehörige. Bis zum 30. Juni 1980 übte sie in Deutschland eine unselbständige Beschäftigung aus und lebte dort. Anschließend bezog sie bis zum 10. Oktober 1980 Arbeitslosengeld aus diesem Mitgliedstaat.
In der Zeit vom 1. Juli 1980 bis 30. Juni 1986 wohnte sie zusammen mit ihrem Ehemann in Belgien, der dort in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stand. Das Ehepaar hat zwei Kinder, die am 25. Mai 1981 und 29. Oktober 1984 in Belgien geboren wurden.
Ab dem 1. Januar 1984 entrichtete Frau Reichel-Albert freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.
Seit dem 1. Juli 1986 sind Frau Reichel-Albert, ihr Ehemann und ihre Kinder behördlich mit Wohnsitz in Deutschland gemeldet.
Mit Bescheiden vom 12. August und 28. Oktober 2008 lehnte die DRN den Antrag von Frau Reichel-Albert auf Anerkennung und Anrechnung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten während ihres Aufenthalts in Belgien mit der Begründung ab, dass die Kinder in dieser Zeit im Ausland erzogen worden seien. Nur die Zeiten nach dem 1. Juli 1986, als die Familie in Deutschland wieder behördlich gemeldet war, wurden als Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung angerechnet. Am 1. Dezember 2008 legte Frau Reichel-Albert hiergegen einen Widerspruch ein, den die DRN mit Bescheid vom 29. Januar 2009 zurückwies.
In den Bescheiden der DRN wird ausgeführt, während des Aufenthalts von Frau Reichel-Albert in Belgien sei der Bezug zur deutschen Arbeitswelt weder durch ein eigenes Beschäftigungsverhältnis noch durch das ihres Ehegatten erhalten geblieben, da zwischen dem Ende ihrer unselbständigen Tätigkeit – einschließlich der Zeit, in der sie Arbeitslosengeld bezogen habe – und dem Beginn der Kindererziehungszeit mehr als ein voller Monat gelegen habe.
Mit Klageschrift vom 13. Februar 2009 erhob Frau Reichel-Albert beim Sozialgericht Würzburg Klage auf Aufhebung des Bescheids vom 29. Januar 2009 und beantragte, die DRN zu verurteilen, für das erste ihrer Kinder die Zeit vom 25. Mai 1981 bis 30. Juni 1986 und für das zweite die Zeit vom 29. Oktober 1984 bis 30. Juni 1986 zu berücksichtigen. Zur Stützung ihrer Klage berief sie sich auf die Urteile vom 23. November 2000, Elsen (C-135/99, Slg. 2000, I-10409), und vom 7. Februar 2002, Kauer (C-28/00, Slg. 2002, I-1343), und trug vor, dass sie damals nicht vollständig von Deutschland nach Belgien verzogen sei.
Nach Ansicht des Sozialgerichts Würzburg gibt § 56 Abs. 3 SGB VI in Verbindung mit Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 Frau Reichel-Albert nicht die Möglichkeit, die streitigen Zeiten, in denen sie ihre Kinder erzogen hat, anrechnen zu lassen, und zwar weder in Deutschland noch in Belgien, da sie zu dem Zeitpunkt, zu dem die betreffenden Zeiträume für das jeweilige Kind begonnen hätten, weder in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis noch selbständig erwerbstätig gewesen sei. Somit werde sie benachteiligt, weil sie von ihrem Recht aus Art. 21 AEUV auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt im Gebiet der Europäischen Union Gebrauch gemacht habe.
Unter diesen Umständen hat das Sozialgericht Würzburg beschlossen, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Kindererziehungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegt wurden, nur dann wie solche, die im Inland zurückgelegt wurden, anzuerkennen sind, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat oder wenn bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 SGB VI genannten Personen gehörte oder nach § 6 SGB VI von der Versicherungspflicht befreit war (§§ 56 Abs. 3 Sätze 2 und 3, 57, 249 SGB VI)?
Ist Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 über den Wortlaut hinaus dahin auszulegen, dass im Ausnahmefall auch ohne eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit eine Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten erfolgen muss, wenn sonst eine solche weder im zuständigen Mitgliedstaat noch in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sich die Person während der Erziehung der Kinder gewöhnlich aufgehalten hat, nach den jeweiligen Rechtsvorschriften angerechnet wird?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen zur Anwendbarkeit von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 in zeitlicher Hinsicht
Angesichts des zeitlichen Verlaufs der Geschehnisse, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegen und in den obigen Randnrn. 15 bis 21 wiedergegeben sind, sowie des Tages des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 987/2009 ist vorab zu prüfen, ob deren Art. 44, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in zeitlicher Hinsicht tatsächlich anwendbar ist.
Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit es im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Union auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen, sofern dies nicht ausnahmsweise aufgrund eines im Allgemeininteresse liegenden Ziels geboten ist, das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist und aus Wortlaut, Zweck oder Aufbau der betreffenden Vorschriften eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2009, Mitsui & Co. Deutschland, C-256/07, Slg. 2009, I-1951, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Unionsgesetzgeber hat in Art. 97 der Verordnung Nr. 987/2009 als Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung den 1. Mai 2010 festgelegt, ohne dass ein Erwägungsgrund oder eine andere Vorschrift dieser Verordnung in dem Sinne verstanden werden könnte, dass die Geltung von Art. 44 der genannten Verordnung zu einem früheren Zeitpunkt als dem der Veröffentlichung dieses Rechtsaktes beginnen sollte. Vielmehr ergibt sich aus Art. 87 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004, der gemäß Art. 93 der Verordnung Nr. 987/2009 für die von dieser geregelten Sachverhalte gilt, dass diese keinen Anspruch für den Zeitraum vor Beginn ihrer Anwendung, dem 1. Mai 2010, begründet.
In Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 40 seiner Schlussanträge ist damit festzustellen, dass zu der Zeit, als die DNR ihre im Ausgangsverfahren angefochtenen Bescheide erließ, mit denen sie die Anrechnung der streitigen Kindererziehungszeiten zugunsten von Frau Reichel-Albert ablehnte, die Verordnung Nr. 987/2009 noch nicht anwendbar war.
Demzufolge ist Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar.
Unter diesen Umständen sind auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens grundsätzlich die Regeln der Union zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit wie die der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden, die im Licht der einschlägigen Bestimmungen des AEU-Vertrags und insbesondere der Bestimmungen über die Freizügigkeit, die das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung erwähnt, auszulegen sind.
Da die Verordnung Nr. 1408/71 jedoch keine spezielle Regel zur Anrechnung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten im Rahmen der Altersrente enthält, sind die Fragen des vorlegenden Gerichts dahin aufzufassen, dass mit ihnen Aufschluss darüber begehrt wird, ob Art. 21 AEUV in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen in dem Sinne auszulegen ist, dass er die zuständige Einrichtung eines ersten Mitgliedstaats dazu verpflichtet, im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente wie als im Inland zurückgelegte Zeiten diejenigen Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen, die in einem zweiten Mitgliedstaat von einer Person zurückgelegt wurden, die zur Zeit der Geburt ihrer Kinder ihre Berufstätigkeit in dem ersten Mitgliedstaat eingestellt und ihren Wohnsitz vorübergehend im Hoheitsgebiet eines zweiten Mitgliedstaats begründet hatte, ohne dort eine unselbständige oder selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.
Zu den beiden Fragen
Zunächst ist zu prüfen, nach den Rechtsvorschriften welches der beiden in Rede stehenden Mitgliedstaaten die Zeiten, die die Klägerin des Ausgangsverfahrens zwischen 1981 und 1986 in Belgien der Erziehung ihrer Kinder widmete, als eigentlichen Versicherungszeiten gleichgestellte Zeiten anzusehen oder anzuerkennen sind. Falls es sich hierbei um die deutschen Rechtsvorschriften handeln sollte, ist sodann zu prüfen, ob die darin vorgesehenen Modalitäten der Anrechnung von Kindererziehungszeiten mit Art. 21 AEUV vereinbar sind.
Was die anwendbaren Rechtsvorschriften angeht, kann der Anspruch auf Anrechnung von Kindererziehungszeiten, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung zu Recht geltend gemacht hat, nur auf den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats beruhen, dessen Recht die betroffene Person bei der Geburt des Kindes unterlag.
Im Ausgangsverfahren ergibt sich aus den Akten, dass Frau Reichel-Albert, nachdem sie bis zum 30. Juni 1980 in Deutschland gewohnt, gearbeitet und Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt hatte, ihren Wohnsitz nach Belgien verlegte, wo sie weiterhin bis zum 30. Oktober 1980 Arbeitslosengeld bezog und später zwei Kinder zur Welt brachte, bevor sie sich am 1. Juli 1986 zusammen mit ihrer Familie wieder in Deutschland niederließ und dort wieder eine regelmäßige Erwerbstätigkeit aufnahm.
Daher wäre, selbst wenn das Bestehen von Art. 13 Abs. 2 Buchst. f, der durch die Verordnung Nr. 2195/91 – also nachdem Frau Reichel-Albert die Zeiten für die Erziehung ihrer Kinder in Belgien zurückgelegt hatte – in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügt worden ist, zu berücksichtigen sein sollte, diese Bestimmung unter den Umständen des Ausgangsverfahrens für eine Berücksichtigung von Erziehungszeiten im Rahmen der Altersversicherung dennoch nicht relevant (vgl. in diesem Sinne Urteil Kauer, Randnr. 31).
Wenn nämlich eine Person wie Frau Reichel-Albert ausschließlich in ein und demselben Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, und zwar sowohl vor als auch nach der vorübergehenden Verlegung ihres Wohnsitzes aus rein familiären Gründen in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie zu keiner Zeit gearbeitet oder Beiträge gezahlt hat, ist davon auszugehen, dass zwischen diesen Kindererziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die aufgrund einer Berufstätigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, eine hinreichende Verbindung besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile Elsen, Randnrn. 25 bis 28, und Kauer, Randnr. 32). Im Übrigen hat Frau Reichel-Albert bei der DRN wegen der Zurücklegung eben dieser Versicherungszeiten die Anrechnung der Zeiten beantragt, die sie während der Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit der Erziehung ihrer Kinder widmete.
Demnach ist festzustellen, dass die deutschen Rechtsvorschriften in einem Fall wie dem von Frau Reichel-Albert anwendbar sind und sie, was die Berücksichtigung und Anrechnung der von ihr zurückgelegten Kindererziehungszeiten im Rahmen der Altersversicherung angeht, während dieser Zeiten nicht den Rechtsvorschriften des Staates unterlag, in dem sie wohnte (vgl. in diesem Sinne Urteil Elsen, Randnr. 28).
Hinsichtlich der Modalitäten für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ist zu prüfen, ob nationale Vorschriften wie die §§ 56 und 57 SGB VI mit Art. 21 AEUV vereinbar sind, nach denen im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente durch die zuständige Einrichtung eines Mitgliedstaats Kindererziehungszeiten, die außerhalb dieses Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, im Gegensatz zu denen, die in diesem Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, nicht berücksichtigt werden, außer u. a. dann, wenn sich der erziehende Elternteil mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Beitragszeiten hat.
Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten zwar weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, dabei jedoch das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des Vertrags über die nach Art. 21 AEUV gewährleistete Freizügigkeit beachten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile Elsen, Randnr. 33, und vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, Slg. 2008, I-1683, Randnr. 43).
Insbesondere hat der Gerichtshof in Randnr. 34 des Urteils Elsen bereits in Bezug auf eine frühere Fassung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften entschieden, dass derartige Vorschriften Unionsangehörige, die von ihrem in Art. 21 AEUV verbürgten Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, benachteiligen.
In einem Fall wie dem von Frau Reichel-Albert haben die fraglichen Vorschriften zur Folge, dass eine Person, die Kinder erzieht und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt ihrer Kinder keine Pflichtbeitragszeiten wegen einer ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit erworben hat, bei der Festsetzung der Höhe ihrer Altersrente allein deshalb, weil sie ihren Wohnsitz vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, keinen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Kindererziehungszeiten besitzt, selbst wenn sie in diesem zweiten Mitgliedstaat weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.
Dadurch wird eine solche Person in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, weniger günstig behandelt, als wenn sie von den Erleichterungen, die ihr der Vertrag in Bezug auf die Freizügigkeit gewährt, nicht Gebrauch gemacht hätte (vgl. Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C-503/09, Slg. 2011, I-6497, Randnr. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Eine nationale Regelung, die bestimmte Inländer allein deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, führt jedoch zu einer Ungleichbehandlung, die den Grundsätzen widerspricht, auf denen der Status eines Unionsbürgers beruht, nämlich der Garantie der gleichen rechtlichen Behandlung bei der Ausübung seiner Freizügigkeit (Urteil vom 9. November 2006, Turpeinen, C-520/04, Slg. 2006, I-10685, Randnr. 22).
Außerdem hat der betroffene Mitgliedstaat nicht nachgewiesen oder auch nur behauptet, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche aufgrund objektiver Erwägungen gerechtfertigt sein und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C-391/09, Slg. 2011, I-3787, Randnr. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Demzufolge ist festzustellen, dass in einem Kontext wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen der in den §§ 56 und 57 SGB VI vorgesehene Ausschluss der Berücksichtigung von Erziehungszeiten, die außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets zurückgelegt wurden, gegen Art. 21 AEUV verstößt.
Unter diesen Umständen ist in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 21 AEUV in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen dahin auszulegen ist, dass er die zuständige Einrichtung eines ersten Mitgliedstaats dazu verpflichtet, im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente Kindererziehungszeiten, die in einem zweiten Mitgliedstaat von einer Person zurückgelegt wurden, welche nur in dem ersten Mitgliedstaat eine berufliche Tätigkeit ausgeübt hat und welche zur Zeit der Geburt ihrer Kinder ihre Berufstätigkeit vorübergehend eingestellt und ihren Wohnsitz aus rein familiären Gründen im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats begründet hatte, so zu berücksichtigen, als seien diese Kindererziehungszeiten im Inland zurückgelegt worden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 21 AEUV ist in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen dahin auszulegen, dass er die zuständige Einrichtung eines ersten Mitgliedstaats dazu verpflichtet, im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente Kindererziehungszeiten, die in einem zweiten Mitgliedstaat von einer Person zurückgelegt wurden, welche nur in dem ersten Mitgliedstaat eine berufliche Tätigkeit ausgeübt hat und welche zur Zeit der Geburt ihrer Kinder ihre Berufstätigkeit vorübergehend eingestellt und ihren Wohnsitz aus rein familiären Gründen im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats begründet hatte, so zu berücksichtigen, als seien diese Kindererziehungszeiten im Inland zurückgelegt worden.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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