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BSG 26.11.2020 - B 14 AS 350/19 B
BSG 26.11.2020 - B 14 AS 350/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Verwehrung der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung - Ablehnung eines Antrags auf Terminsaufhebung - Anforderungen an die Geltendmachung eines Aufhebungsgrundes - Beruhenkönnen der angefochtenen Entscheidung auf dem Verfahrensmangel
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, § 294 Abs 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Karlsruhe, 5. Dezember 2016, Az: S 6 AS 1152/16, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 19. Juli 2018, Az: L 7 AS 152/17, Urteil
Tenor
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Der Klägerin wird hinsichtlich der Versäumnis der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juli 2018 - L 7 AS 152/17 - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juli 2018 - L 7 AS 152/17 - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Streitig sind Ansprüche der Klägerin auf Alg II (Ablehnungsbescheid vom 8.12.2014 idF des Widerspruchsbescheids vom 7.1.2015). Klage und Berufung (Gerichtsbescheid des SG Karlsruhe vom 5.12.2016, Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 19.7.2018 für den Zeitraum März bis Dezember 2014) hatten keinen Erfolg.
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Im Berufungsverfahren hatte der Senatsvorsitzende eine mündliche Verhandlung für den 17.5.2018 anberaumt. Schon wegen dieses Termins hatte die Klägerin verschiedene Atteste ihrer Hausärztin vom 5.3.2018 ("aufgrund einer Erkrankung kann Frau G voraussichtlich bis Ende Mai nicht arbeiten und verhandeln"), 3.5.2018 ("aufgrund einer Erkrankung konnte die Patientin in den letzten Monaten ihre Gerichtskorrespondenz nicht erhalten und bearbeiten sowie Fristen einhalten", Arbeitsunfähigkeit bis 31.5.2018) und 11.5.2018 ("der … Patientin ist derzeit keine Teilnahme an Verhandlungsterminen möglich, weil Sie an einer starken depressiven Episode leidet … die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen ist derzeit medizinisch absolut kontraindiziert …") sowie ihres behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 17.4.2018 ("die Pat. ist an einer schweren depressiven Episode erkrankt und aus ärztlicher Sicht mindestens zwei weitere Monate verhandlungsunfähig") vorgelegt.
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Eine weitere Ladung, nunmehr zur mündlichen Verhandlung am 19.7.2018, erhielt die Klägerin am 13.6.2018. Am 22.6.2018 teilte sie telefonisch mit, dass sie krankgeschrieben sei und es ihr schlecht gehe. Mit Schreiben vom 26.6.2018 wies der Vorsitzende die Klägerin darauf hin, dass der Termin aufgehoben werden könne, wenn sie ein amtsärztliches Attest vorlege, in dem bescheinigt werde, dass sie an der Verhandlung am 19.7.2018 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen könne. Das angefragte Gesundheitsamt teilte mit, es könne eine Stellungnahme nicht rechtzeitig vor dem anberaumten Termin fertigen; daraufhin hob der Vorsitzende den Begutachtungsauftrag auf. Mit Schreiben vom 9.7.2018 und Erinnerung vom 11.7.2018 informierte der Vorsitzende die Klägerin hierüber und forderte sie auf, unverzüglich eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, aus der sich ergebe, wann sie zuletzt behandelt worden sei, welche Befunde erhoben und welche Diagnosen gestellt worden seien und wie sich diese auf ihre Fähigkeiten, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, auswirkten. Die Klägerin legte am 13.7.2018 Schreiben ihrer Hausärztin vom 4.7.2018, des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 5.7.2018, eines weiteren Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 22.5.2018 und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Hausärztin vom 22.6.2018 (Arbeitsunfähigkeit bis 31.7.2018) vor. Diese Bescheinigungen benannten die Diagnose einer schweren depressiven Episode und attestierten zum Teil Verhandlungsunfähigkeit. Auf Anfrage des Vorsitzenden am 16.7.2018 teilte der behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit, er werde ohne Schweigepflichtentbindungserklärung keine Auskunft geben. Mit Schreiben vom 17.7.2018 erhielt die Klägerin den Hinweis, dass die vorgelegten ärztlichen Unterlagen keine Befunde enthielten und sich der Senat daher nicht von ihrer Verhandlungsunfähigkeit überzeugen könne. Dem folgten Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und dann gegen den Senat.
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Mit Urteil vom 19.7.2018 - L 7 AS 152/17 - hat das LSG entschieden, ohne dass die zum damaligen Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene Klägerin an der vorangegangenen mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Die Atteste wegen der Verhandlung im Mai seien zu alt. Die Atteste aus Juli 2018 seien mangels konkreter Angaben zur jeweils letzten ärztlichen Untersuchung und den dabei erhobenen Befunden nicht nachvollziehbar.
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Ihre Nichtzulassungsbeschwerde stützt die Klägerin über ihren beigeordneten Prozessbevollmächtigten auf den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels. Das LSG habe entgegen §§ 202 SGG, 227 ZPO und 124 SGG ohne ihre Anwesenheit verhandelt und entschieden. Das sei zugleich ein Verstoß gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör.
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II. Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 Abs 1 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung ihres beigeordneten Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).
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Die Klägerin hat formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt, vom LSG nicht ausreichend rechtlich gehört worden zu sein. Sie hat die Verletzung des § 62 SGG hinreichend bezeichnet. Die Rüge trifft auch zu, weil ihr durch das LSG die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor der Urteilsfindung zu Unrecht verwehrt worden ist.
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Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet, dass die Beteiligten ua auch in der mündlichen Verhandlung als dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ausreichend Gelegenheit zu sachgemäßen Erklärungen haben müssen. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Zwar kann nach entsprechenden Hinweisen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch bei Ausbleiben eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden (vgl § 110 Abs 1 Satz 2 SGG; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 110 RdNr 11). Hieran ist das Gericht jedoch gehindert, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsaufhebung vorliegen und ein Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen (BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 6 mwN).
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Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter Aufhebungsantrag - hier zuletzt bekräftigt durch die von der Klägerin gestellten Befangenheitsanträge - mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Grund, den Termin aufzuheben, begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsaufhebung (BSG vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - RdNr 16). Welche Anforderungen an die Geltendmachung des Aufhebungsgrundes zu stellen sind, ergibt sich aus § 202 Satz 1 SGG iVm §§ 227 Abs 2, 294 ZPO. Danach sind die erheblichen Gründe auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Eines Vollbeweises bedarf es grundsätzlich nicht; zu fordern ist ein den konkreten Umständen angepasstes Maß an Glaubhaftigkeit, dh die Sicherheit der Feststellung muss von den Folgen der zu treffenden Entscheidung abhängig gemacht werden (vgl zu § 294 ZPO Greger in Zöller, ZPO, 33. Aufl 2020, § 294 RdNr 6). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsaufhebung hat der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen, insbesondere, wenn - wie vorliegend - eine mündliche Verhandlung vor dem SG nicht stattgefunden hat (vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 7 mwN). Ein erheblicher Grund für die Aufhebung eines Termins kann die durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Erkrankung eines nicht vertretenen Beteiligten sein (BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - RdNr 12), erst recht gilt dies für eine ärztlich bescheinigte Verhandlungsunfähigkeit.
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Diesen Vorgaben wird die Entscheidung des LSG aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19.7.2018 nicht gerecht. Anhand der im Urteil vorgenommenen Begründung ist schon nicht klar, aufgrund welchen Maßstabs über die Ablehnung des Aufhebungsantrags entschieden worden ist. Zwar enthält das Urteil die Formulierung, die Klägerin habe keinen Verhinderungsgrund glaubhaft gemacht, andererseits wird der Inhalt des letzten Schreibens des Vorsitzenden vom 17.7.2018 mit den Worten wiedergegeben, der Senat habe sich nicht von der Verhandlungsunfähigkeit der Klägerin überzeugen können.
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Dass eine volle richterliche Überzeugung von der Verhandlungsunfähigkeit Maßstab einer Terminsaufhebung sein durfte, ergibt sich aus dem in der angegriffenen Entscheidung dargestellten Verfahrensverlauf nicht. Objektivierbare Umstände, die darauf hindeuten könnten, dass der Antrag auf Aufhebung des Termins durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen sein könnte (vgl BSG vom 24.10.2013 - B 13 R 59/13 B - RdNr 20 mwN), sind nicht festgestellt oder ersichtlich. Vielmehr konnte die Klägerin davon ausgehen, dass die Glaubhaftmachung der Verhandlungsunfähigkeit durch sie nachrangig war, weil der Vorsitzende weitere eigene Ermittlungen zur Verhandlungsunfähigkeit aufgenommen hatte (Auftrag für ein amtsärztliches Gutachten; Nachfrage beim behandelnden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie). Eine Prozessverschleppungsabsicht ist darin nicht erkennbar. Die Nichtverlegung des Termins verletzt daher den Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör.
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Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 551 ZPO), ist doch "wegen des Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten - wie hier die Klägerin - daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung beeinflusst hat (BSG vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 11).
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Die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfahrensrüge zur Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch der Klägerin unter Mitwirkung der abgelehnten Richter kann angesichts dessen dahinstehen. Die weiteren geltend gemachten Verletzungen von Verfahrensrecht sind schon keine tauglichen Zulassungsgründe (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG wegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) bzw nicht schlüssig bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
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