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BSG 04.07.2013 - B 2 U 79/13 B
BSG 04.07.2013 - B 2 U 79/13 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Anspruch auf rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - Auswertung unfallmedizinischer Literatur
Normen
§ 62 SGG, § 128 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 8 Abs 1 S 2 SGB 7, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Stuttgart, 24. Juli 2012, Az: S 1 U 1542/11
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 27. Februar 2013, Az: L 9 U 3739/12, Beschluss
Leitsatz
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt bei Gerichtsentscheidungen nur vor überraschenden tragenden Entscheidungsgründen oder überraschenden Entscheidungsergebnissen, nicht aber vor lediglich überraschenden Zitaten.
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Februar 2013 wird zurückgewiesen.
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Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
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1. Umstritten ist die Feststellung eines Arbeitsunfalls. Die Beklagte hat es abgelehnt, das Anheben einer Eisenstange im Rahmen der Beschäftigung bei später nachgewiesener Bizeps-Sehnenruptur als Arbeitsunfall festzustellen. Das SG hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat seinen die Berufung zurückweisenden Beschluss auf zwei jeweils tragende Gründe gestützt. Es liege einerseits kein Unfallereignis iS von § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII vor, weil es sich bei dem Anheben einer Stange um kein äußeres Ereignis handele. Ein solches äußeres Ereignis unterstellt, fehle es aber auch an dem Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den beim Kläger festgestellten Gesundheitsschäden, insbesondere einem Bizeps-Sehnen-Riss.
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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Divergenz, auf der die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Bei der Verneinung des Unfallereignisses habe das LSG den Rechtssatz aufgestellt, eine in Ausübung der versicherten Tätigkeit vorgenommene, vom Willen getragene und gesteuerte Eigenbewegung schließe die Annahme eines von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses iS des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII aus. Damit sei das LSG von einem Rechtssatz aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, hier des BSG (vgl Urteil vom 24.7.2010 - B 2 U 9/11 R), abgewichen. Daneben verletze der Beschluss des LSG das rechtliche Gehör des Klägers. Zur Verneinung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem (unterstellten) Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden habe sich das LSG in dem Beschluss auf unfallmedizinische Literatur gestützt, ohne diese zuvor in den Rechtsstreit eingeführt zu haben. Dadurch sei der Kläger überrascht worden. Er habe keine Gelegenheit gehabt, zu dem vom LSG aus dieser Literaturmeinung entnommenen Erfahrungssatz Stellung zu nehmen. Hätte das LSG ihn auf diese Auffassung hingewiesen, hätte er ihr widersprochen.
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2. Die Beschwerde ist zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
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a) Der behauptete Verfahrensmangel gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegt nicht vor. Der angefochtene Beschluss des LSG verletzt nicht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG).
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll ua verhindern, dass Beteiligte durch eine Entscheidung eines Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Auf neue bisher nicht berücksichtigte Tatsachen, rechtliche Aspekte oder neue Beweismittel muss das Gericht die Beteiligten so rechtzeitig hinweisen, dass diese Gelegenheit zur Stellungnahme haben. Dagegen gibt es keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung leitenden Gesichtspunkte vorab mit den Beteiligten zu erörtern (BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3).
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Der angegriffene Beschluss des LSG verletzt die Anforderungen an die Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht.
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Entgegen dem Vorbringen des Klägers in der Beschwerdeschrift hat sich das LSG zur Verneinung der Kausalität zwischen dem (unterstellten) Unfallereignis und den beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen weder vorrangig noch allein auf einen zuvor nicht in den Rechtsstreit eingeführten Erfahrungssatz aus der Literatur gestützt. Vielmehr hat das LSG zur Begründung seiner Auffassung in dem angegriffenen Beschluss (S 8 unten) wörtlich ausgeführt:
"Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund der übereinstimmenden Beurteilungen durch die Fachärzte für Orthopädie bzw. Chirurgie Dr. S. und Dr. H., deren Ausführungen als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertet wird, und des Gutachters Dr. P., die nachvollziehbar darlegen, dass das vom Kläger geschilderte Ergreifen der Metallstange nach medizinischen Erkenntnissen nicht geeignet ist, eine Bizepssehnenruptur zu verursachen. Diese Auffassung steht auch in Übereinstimmung mit der unfallmedizinischen Literatur (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. Seite 408),…".
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Unzweifelhaft stützt das LSG seine Entscheidung damit auf die Beurteilung von zwei Ärzten, die diese als beratungsärztliche Stellungnahme bzw Gutachten gegenüber der Beklagten abgegeben haben. Das Gericht zieht die von Ärzten vermittelten Erfahrungssätze heran und stützt unmittelbar hierauf seine "Überzeugung". In einem weiteren Schritt überprüft das Gericht das von den genannten Ärzten vermittelte Erfahrungswissen anhand der aktuellen unfallmedizinischen Literatur. Dies ist nicht zu beanstanden, sondern stellt eine sowohl dem § 128 SGG entsprechende Beweiswürdigung, als auch eine für den Kläger weder überraschende noch in anderer Weise sein rechtliches Gehör verletzende Verfahrensweise dar.
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Der Fall liegt insoweit anders als derjenige, der der Entscheidung des Senats vom 9.11.2010 (B 2 U 168/10 B) zugrunde lag. Dort hatte das LSG sich in der Entscheidung auf einen neuen, für den Kläger überraschenden medizinischen Aspekt gestützt und hierzu allein unfallmedizinische Literatur ausgewertet, dagegen lagen ihm keine Gutachten oder ähnliche ärztliche Expertisen vor. Schon deshalb ist dieser Fall mit demjenigen, der dem Beschluss vom 9.11.2010 zugrunde lag, nicht vergleichbar.
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Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf das Urteil des Senats vom 24.7.2012 (B 2 U 9/11 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) berufen. Dort hat der Senat lediglich entschieden, dass eine "bloße Literaturauswertung" nicht geeignet ist (BSG aaO RdNr 69), den wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Kausalbeziehungen festzustellen. Dagegen ist es sachgerecht, Stellungnahmen und Gutachten über den aktuellen Stand des Erfahrungswissens über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erheben und hierauf die richterliche Überzeugungsbildung zu stützen (BSG aaO RdNr 60 f).
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Liegen dem Gericht Gutachten und andere Expertisen vor und will es hierauf seine Überzeugungsbildung stützen, kann es unfallmedizinische Literatur zur Prüfung der Plausibilität und Schlüssigkeit der vorliegenden Gutachten heranziehen. Ein solches Verfahren verletzt nicht das rechtliche Gehör, denn das LSG hat die auf S 8 seines Beschlusses zusätzlich angeführte Literatur nicht in einem neuen inhaltlichen Sinn, sondern lediglich als weiteren Beleg für die zuvor bereits in das Verfahren eingeführten medizinischen Kriterien zugrunde gelegt (ähnlich BSG vom 28.8.2012 - B 2 U 176/12 B).
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Letztlich läuft das Vorbringen des Klägers darauf hinaus, dass das Tatsachengericht den genauen Inhalt eines jeden wissenschaftlichen Beitrags, den es in seinem Urteil zitiert, sogar dann zuvor in den Prozess einführen muss, wenn es die darin belegte wissenschaftliche Erkenntnis bereits unter Bezugnahme auf andere Quellen ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt bei Gerichtsentscheidungen nur vor überraschenden Entscheidungsergebnissen und überraschenden tragenden Entscheidungsgründen, nicht aber vor lediglich überraschenden Zitaten (so schon BSG vom 28.8.2012 - B 2 U 176/12 B).
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b) Damit ist auch die Rüge der Divergenz, auf der die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG), unbegründet, denn es kann nicht festgestellt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf der behaupteten Divergenz beruht.
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Da das LSG seine Entscheidung auf zwei selbständig tragende Gründe gestützt hat, muss diese auch dann Bestand haben, wenn der mit der Divergenzrüge angegriffene abstrakt-generelle Rechtssatz zu den Voraussetzungen eines Unfallereignisses iS des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII keinen Bestand haben könnte. Denn dann stünde einer für den Kläger günstigeren Entscheidung weiterhin entgegen, dass das LSG den Ursachenzusammenhang zwischen dem angeschuldigten Ereignis und dem geltend gemachten Gesundheitserstschaden verneint hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
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