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BVerfG 09.05.2023 - 1 BvR 1/23
BVerfG 09.05.2023 - 1 BvR 1/23 - Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde in einer sozialrechtlichen Angelegenheit - keine Verletzung des fair-trial-Grundsatzes durch fachgerichtliche Entscheidung nach "überraschendem" richterlichen Hinweis - Subsidiaritätsgrundsatz gebietet zur Ermöglichung eigenen Vortrags ggf Antrag auf Vertagung bzw Schriftsatznachlass
Normen
§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 112 Abs 2 SGG
Vorinstanz
vorgehend BSG, 24. November 2022, Az: B 5 R 9/22 C, Beschluss
vorgehend BSG, 25. August 2022, Az: B 5 R 11/22 B, Beschluss
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 26. August 2021, Az: L 7 R 31/19, Urteil
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Sie ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte anzunehmen, da sie unzulässig ist und damit keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen nicht genügt.
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1. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde muss sich mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll. Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden (vgl. BVerfGE 140, 229 232 Rn. 9> m.w.N.).
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2. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, dass das Landessozialgericht eine gegen das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verstoßende Überraschungsentscheidung (vgl. BVerfGE 107, 395 410>) getroffen hätte. Die Beschwerdeführerin beanstandet gerade auch den in der mündlichen Verhandlung ergangenen Hinweis des Senats zu dem in § 1 Abs. 1 Satz 1 lit. a) des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) enthaltenen Tatbestandsmerkmal der Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss. Sie setzt sich jedoch nicht mit der Bedeutung dieses Hinweises für den Grundsatz des rechtlichen Gehörs auseinander. Dieser Grundsatz gebietet es, die Beteiligten auf entscheidungserhebliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 86, 133 144 f.>; 98, 218 263>; BVerfGK 9, 295 302 f.>). Der nach dem damaligen Verlauf des fachgerichtlichen Verfahrens von den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin durchaus nachvollziehbar als überraschend empfundene Hinweis des Senats kann daher auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (vgl. BVerfGK 7, 350 354>) begründen. Zugleich kann das nach der mündlichen Verhandlung verkündete Urteil des Landessozialgerichts aber nicht mehr als überraschend angesehen werden.
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3. Soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß des Landessozialgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG darin sieht, dass das Gericht ihr keine Gelegenheit gegeben habe, zu dem Tatbestandsmerkmal der aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung vorzutragen, ist diese Rüge auch im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig.
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Aus dem - auch in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden - subsidiären Charakter der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechts-behelf sowie der Kompetenzverteilung zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht folgt, dass der Beschwerdeführer über das Erfordernis einer Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich alle ihm zumutbaren, nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um den geltend gemachten Verstoß gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte zu verhindern oder dessen Korrektur zu erwirken (vgl. BVerfGE 5, 9 10>; 22, 287 290 f.>; 81, 22 27>; 84, 203 208>; 95, 163 171>; stRspr). Die Beachtung der aus dem Grundsatz der Subsidiarität folgenden Anforderungen muss ein Beschwerdeführer, wenn sie nicht offensichtlich gewahrt sind, in seiner Verfassungsbeschwerde substantiiert darlegen (vgl. BVerfGK 4, 102 103 f.>; BVerfGE 129, 78 93>).
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Dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht lässt sich jedoch entnehmen, dass das streitige Tatbestandsmerkmal erörtert wurde und dass auch der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hierzu Ausführungen gemacht hatte. Soweit die Beschwerdeführerin auch ihren ergänzenden Vortrag nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung berücksichtigt sehen möchte, haben die beiden in dem Termin vor dem Landessozialgericht anwesenden, rechtskundigen Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin dort keine Anträge auf Vertagung oder Schriftsatznachlass gestellt (§ 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 227 ZPO bzw. § 283 ZPO, vgl. BSG, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - B 4 RA 37/03 B -, juris, Rn. 7 ff.; BSG, Beschluss vom 8. Mai 2019 - B 14 AS 37/18 B -, juris, Rn. 6 f.). Soweit die Beschwerdeführerin in ihrem Antrag an das Landessozialgericht auf Protokollberichtigung einen begehrten Schriftsatznachlass erwähnt habe, bezog sich dieser ausweislich des Antrags lediglich auf die nicht streitentscheidend gewordene Frage nach Entschädigungsleistungen nach der Anerkennungsrichtlinie, jedoch nicht auf die in der mündlichen Verhandlung erstmals vom Gericht aufgeworfene Frage der Freiwilligkeit der geleisteten Tätigkeiten. Der Vortrag der Beschwerdeführerin, wonach das Landessozialgericht in jedem Falle noch am Tag der mündlichen Verhandlung habe entscheiden wollen, ist bei fehlender Antragstellung auf Vertagung oder Schriftsatznachlass seitens der im Termin anwesenden rechtskundigen Prozessbevollmächtigten nicht hinreichend substantiiert, um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu begründen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde kommt hinzu, dass die Beschwerdeführerin in der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde auch nicht geltend gemacht hat, dass das Landessozialgericht einen auf weitere Sachverhaltsaufklärung gerichteten Antrag übergangen hätte oder dass eine solche Antragstellung offensichtlich aussichtslos gewesen wäre.
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4. Die Rüge ist auch unzulässig, soweit sie eine Verletzung des aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgeleiteten Gebots effektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 125, 104 136 f.>) durch das Bundessozialgericht betrifft. Die Beschwerdeführerin legt hierfür nicht substantiiert dar, dass das Bundessozialgericht den Zugang zur Revisionsinstanz durch eine sachlich nicht mehr zu rechtfertigende und damit objektiv willkürliche Anwendung der Verfahrensvorschriften über die Nichtzulassungsbeschwerde unzumutbar erschwert hätte (vgl. BVerfGE 151, 173 184>).
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Eine derartige willkürliche Anwendung der Regelungen über die Zulassung der Revision aufgrund einer in der Nichtzulassungsbeschwerde darzulegenden grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG in Verbindung mit § 160a Abs. 2 Satz 2 SGG) ergibt sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht. Dieser Zulassungsgrund wird verfassungsrechtlich unbedenklich dahingehend ausgelegt, dass es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommen muss, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts der Klärung bedarf (vgl. BVerfGE 151, 173 186>). Hat ein Bundesgericht eine Rechtsfrage bereits geklärt, kann sich ein weiterer Klärungsbedarf etwa dann ergeben, wenn neue Argumente vorgebracht werden, die das Bundesgericht zu einer Überprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischenzeitlich das Bundesverfassungsgericht, ein anderes Bundesgericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte oder auch der Gerichtshof der Europäischen Union eine Entscheidung getroffen hat, aus der sich neue Argumente ergeben (vgl. BVerfGE 151, 173 187>). Aus dem von der Beschwerdeführerin angeführten Urteil gerade des Bundessozialgerichts vom 20. Mai 2020 (BSGE 130, 171) kann sich hiervon ausgehend kein derartiges neues Argument und damit kein weiterer Klärungsbedarf in Bezug auf die Voraussetzungen des § 1 ZRBG ergeben. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ist im Übrigen Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Dieses kontrolliert vielmehr nur, ob bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt worden ist (vgl. BVerfGE 21, 209 216>; 89, 276 285>).
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Die Begründung der Verfassungsbeschwerde legt daneben auch keine willkürliche Anwendung der Regelungen über die Zulassung der Revision aufgrund eines in der Nichtzulassungsbeschwerde geltend zu machenden Verfahrensmangels (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG in Verbindung mit § 160a Abs. 2 Satz 2 SGG) dar. Die Beschwerdeführerin setzt sich insoweit schon nicht damit auseinander, dass das Bundessozialgericht bereits ihren Vortrag in der Nichtzulassungsbeschwerde zu der Frage der Verhinderung der prozessualen Möglichkeiten der Beschwerdeführerin durch das Landessozialgericht in der mündlichen Verhandlung als unzureichend angesehen hat.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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