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BVerfG 04.01.2021 - 1 BvQ 108/20
BVerfG 04.01.2021 - 1 BvQ 108/20 - Erfolgloser Eilantrag gegen das Inkrafttreten der §§ 68b Abs 3, § 284 Abs 1 S 1 Nr 19 SGB 5 (Verwendung gespeicherter Sozialdaten durch gesetzliche Krankenkassen für die Vorbereitung von Versorgungsinnovationen; Ersatz des Einwilligungserfordernisses der Betroffenen durch eine Widerspruchsmöglichkeit) idF des Gesetzes zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutz-Gesetz – PDSG) vom 14.10.2020 - Subsidiarität bei Klärungsbedarf hinsichtlich entscheidungserheblicher unbestimmter Rechtsbegriffe
Normen
Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 90 BVerfGG, Art 1 Nr 6a Buchst b PDSG, Art 1 Nr 22 Buchst a DBuchst bb PDSG, § 68b Abs 3 SGB 5 vom 14.10.2020, § 284 Abs 1 S 1 Nr 19 SGB 5 vom 14.10.2020
Tenor
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe
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I.
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Der Antragsteller wendet sich im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen § 68b Abs. 3, § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 19 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) in der Fassung des Gesetzes zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutz-Gesetz, BGBl 2020 S. 2115 ff.).
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1. § 68b Abs. 1 Satz 4 SGB V erlaubt den gesetzlichen Krankenversicherungen, die von ihnen rechtmäßig erhobenen und gespeicherten versichertenbezogenen Sozialdaten im Sinne von § 284 SGB V für die Vorbereitung von - gesetzlich nicht näher bestimmten - Versorgungsinnovationen und für die Gewinnung Versicherter für dieser Versorgungsinnovationen im erforderlichen Umfang auszuwerten. Die Auswertung erfolgt pseudonymisiert und, soweit möglich, auch anonymisiert. Nach § 68b Abs. 2 Satz 1 SGB V können die Krankenkassen ihre Versicherten über individuell geeignete Versorgungsinnovationen und andere Versorgungsleistungen informieren und ihnen entsprechende individuelle Angebote machen. Nach der bis zum Inkrafttreten des Patientendaten-Schutz-Gesetzes geltenden Rechtslage bestand sowohl für die Datenauswertung als auch für die Information und das Unterbreiten von Angeboten ein Einwilligungserfordernis der Versicherten. Durch § 68b Abs. 3 SGB V in der angegriffenen Fassung des Patientendaten-Schutz-Gesetzes ist dieses Einwilligungserfordernis hinsichtlich der Datenauswertung nach § 68 Abs. 1 Satz 4 SGB V gänzlich entfallen. Hinsichtlich der gezielten Information und der Unterbreitung individueller Angebote nach § 68b Abs. 2 SGB V wurde das vorher bestehende Einwilligungserfordernis durch eine Widerspruchsmöglichkeit ersetzt. § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 19 SGB V flankiert die Vorschrift des § 68b SGB V, indem er die Datenerhebungs- und -speicherungsbefugnis der gesetzlichen Krankenversicherungen auf solche Sozialdaten erweitert, die zur Vorbereitung von Versorgungsinnovationen, zur Information der Versicherten und zur Unterbreitung von Angeboten nach § 68b Abs. 1 und Abs. 2 SGB V dienen.
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2. § 68b SGB V hatte bereits in Gestalt seiner Vorgängerfassung durch das Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation vom 9. Dezember 2019 (Digitale-Versorgung-Gesetz, BGBl 2019 S. 2562 ff.) von Seiten des Bundesrates und verschiedener Verbände Kritik hinsichtlich der darin verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe erfahren (vgl. BRDrucks 360/19 [Beschluss], S. 9 f.; Stellungnahme des Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe e.V. zum Digitale-Versorgung-Gesetz, S. 2; Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zum Digitale-Versorgung-Gesetz, S. 2). Die Kritik bezog sich insbesondere auf die mangelnde Bestimmtheit des Umfangs der auszuwertenden Daten ("in erforderlichem Umfang") und auf den gesetzlich nicht näher eingegrenzten Zweck der Datenauswertung ("für die Vorbereitung von Versorgungsinnovationen"), von Seiten der medizinischen Fachgesellschaften auch darauf, dass die Abgrenzung der Informationen und Angeboten zu diagnostischen und therapeutischen Interventionen nicht klar getroffen werde.
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3. Der Antragsteller ist in Deutschland gesetzlich versichert. Er rügt eine Verletzung in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Die Verletzung ergebe sich schon aus der mangelnden Bestimmtheit der angegriffenen Normen, jedenfalls aber daraus, dass sie nach dem Wegfall des Einwilligungserfordernisses in § 68b Abs. 3 SGB V nicht mehr verhältnismäßig seien, da die Versicherten hierdurch ihre Datenhoheit verloren hätten. Durch die Datenauswertungsbefugnis könnten aus den in hohem Maße sensiblen Gesundheitsdaten aussagekräftige Gesundheitsprofile einzelner Versicherter erstellt werden; dies stelle eine umfassende und anlasslose Profilbildung dar. Die im Gesetz vorgesehene Pseudonymisierung sei ungenügend zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Versicherten. Es sei zudem keine hinreichende IT-Sicherheit gewährleistet. Missbräuchlicher Nutzung der Daten durch Dritte werde nicht hinreichend vorgebeugt. Infolge der durch § 263a Abs. 1 SGB V ermöglichten finanziellen Involvierung der gesetzlichen Krankenkassen am Markt für digitale Gesundheitsinnovationen seien ferner Interessenkonflikte bei den Kassen zu befürchten.
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II.
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Der Antrag ist abzulehnen.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall - auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache (vgl. BVerfGE 134, 135 137 Rn. 3> m.w.N.; stRspr) - einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 6 m.w.N.; stRspr).
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2. Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) unzulässig.
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a) Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 74, 102 113>; 77, 381 401>; 81, 22 27>; 114, 258 279>; 115, 81 91 f.>; 123, 148 172>; 134, 242 285 Rn. 150>; stRspr). Auch bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden soll hierdurch der Aufgabenverteilung zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht entsprochen und das Bundesverfassungsgericht durch eine vorherige Befassung der Fachgerichte entlastet werden (vgl. BVerfGE 55, 244 247>; 72, 39 43 f.>; 77, 381 401>; 102, 197 207>). Ihm soll ferner ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet sowie die Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden (vgl. BVerfGE 72, 39 43>; 74, 102 113 f.>; 77, 381 401>; 114, 258 279>; 150, 309 326 Rn. 42>). Angesichts der Bedeutung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen soll sichergestellt sein, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Grundlage weitreichende Entscheidungen und Aussagen über den Inhalt einer einfachgesetzlichen Regelung treffen muss, solange sich hierzu noch keine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte entwickelt hat (vgl. BVerfGE 86, 15 27>; 114, 258 280>).
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Gegebenenfalls kann daher auch die Erhebung einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage zu den zuvor zu ergreifenden Rechtsbehelfen gehören. Letztere ist auch im Fall von Parlamentsgesetzen statthaft, wenn die Feststellung begehrt wird, dass wegen Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu dem anderen Beteiligten begründet worden ist (vgl. BVerfGE 145, 20 54 f. Rn. 85 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 1999 - 1 BvR 2077/98 - juris, Rn. 7 f.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 - 1 BvR 1014/13 -, Rn. 6 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris, Rn. 15). Anderes gilt nur, wenn der Sachverhalt allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, deren Beantwortung weder von der näheren Sachverhaltsermittlung noch von der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des einfachen Rechts durch die Fachgerichte, sondern allein von der Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt, sodass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung keine verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären (vgl. BVerfGE 123, 148 172 f.>; 138, 261 271 f. Rn. 23>; 150, 309 326 f. Rn. 44>; stRspr).
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b) Gemessen hieran war der Antragsteller verpflichtet, zunächst bei den Sozialgerichten um Rechtsschutz im Wege einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage nachzusuchen.
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Die in den angegriffenen Vorschriften verankerten Datenverarbeitungsbefugnisse enthalten unbestimmte Rechtsbegriffe, von deren Auslegung entscheidend abhängt, inwiefern der Antragsteller rechtlich und tatsächlich beschwert ist. Die Reichweite und die Handhabung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe waren bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Vorgängerfassung des § 68b SGB V Thema verschiedener Stellungnahmen. Auch die Kommentarliteratur beschäftigt sich etwa mit dem Fehlen einer gesetzlichen Definition für "Versorgungsinnovationen" (vgl. Kircher, in: Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl. 2020, § 68b Rn. 2; Koch, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 68b Rn. 9). Damit sind gerade nicht nur spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen, sondern diesen vorgelagert zunächst Fragen der Auslegung des Fachrechts zu klären. Erst danach besteht eine gesicherte Tatsachen- und Rechtsgrundlage, auf der über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen entschieden werden kann.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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