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BVerfG 19.12.2016 - 2 BvR 1490/16
BVerfG 19.12.2016 - 2 BvR 1490/16 - Auslagenerstattung im Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie im eA-Verfahren nach Erledigterklärung - Billigkeit der Auslagenerstattung bei Verletzung des Anspruchs auf effektiven fachgerichtlichen Eilrechtsschutz im Ausgangsverfahren (eV-Verfahren gem §§ 935, 940 ZPO) - Verwirkung des Verfügungsgrundes vorliegend unvertretbar
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 34a Abs 3 BVerfGG, § 90 BVerfGG, § 935 ZPO, § 940 ZPO
Vorinstanz
vorgehend OLG München, 15. Juni 2016, Az: 32 W 915/16, Beschluss
vorgehend LG München I, 25. Mai 2016, Az: 23 O 7955/16, Beschluss
vorgehend BVerfG, 28. Juli 2016, Az: 2 BvR 1490/16, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 14. März 2017, Az: 2 BvR 1490/16, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
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Das Land Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betraf die Ablehnung eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß §§ 935, 940 ZPO.
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1. Der Beschwerdeführer (Antragsteller im Ausgangsverfahren) ist ein Sozialwerk der Deutschen Bahn und des Bundeseisenbahnvermögens in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins, der aufgrund eines Generalpachtvertrags aus dem Jahr 2008 eine an Einzelpersonen unterverpachtete Kleingartenanlage unterhält. Der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens hat Teile der betroffenen Flächen erworben und streitet mit dem Beschwerdeführer darüber, wem der Besitz an einer durch ein 1983 errichtetes Vereinsheim und einen Gemeinschaftsgarten genutzten Fläche zusteht. Der Beschwerdeführer hat im Ausgangsverfahren vorgetragen, der Antragsgegner habe von dieser Fläche mit Gewalt Besitz ergriffen und angedroht, das vom Beschwerdeführer errichtete Gebäude zu zerstören.
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2. Das Landgericht hat den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass eines Betretensverbots gegen den Antragsgegner des Ausgangsverfahrens zurückgewiesen, weil ein Verfügungsgrund nicht (mehr) vorliege. Der Beschwerdeführer habe in dem schon seit Jahren andauernden Streit über den Umfang der Besitzrechte zu lange mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gewartet. Das Oberlandesgericht München hat die sofortige Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer könne Eilbedürftigkeit nicht mehr geltend machen, weil er mit einer Klärung der Rechtslage so lange zugewartet habe, bis die jetzige dringliche Situation entstanden sei.
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3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) gerügt. Landgericht und Oberlandesgericht hätten ihm in nicht mehr vertretbarer Auslegung der §§ 935, 940 ZPO einen Verfügungsgrund abgesprochen. Zusätzlich hat er den Antrag gestellt, im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG das Oberlandesgericht zu verpflichten, dem Antragsgegner den Abriss der betroffenen Gebäude zu untersagen. Mit Beschluss vom 28. Juli 2016 hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die beantragte einstweilige Anordnung erlassen.
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4. Am 16. August 2016 haben die Parteien des Ausgangsverfahrens einen Vergleich geschlossen, durch den sich der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens verpflichtet hat, bis zur rechtskräftigen Klärung des Besitzrechts keine Veränderungen an der Substanz des streitgegenständlichen Grundstücks und an den darauf befindlichen Gebäuden vorzunehmen. Der Beschwerdeführer hat die Verfassungsbeschwerde daraufhin für erledigt erklärt und beantragt die Anordnung der Auslagenerstattung gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG. Der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens beantragt die Aufhebung der einstweiligen Anordnung vom 28. Juli 2016 und die Feststellung, dass die Angelegenheit auch vor dem Bundesverfassungsgericht erledigt sei.
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II.
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1. Über das Beschwerdebegehren ist infolge der Erledigungserklärung nicht mehr zu entscheiden. Eines besonderen gerichtlichen Ausspruchs hierüber bedarf es nicht (vgl. BVerfGE 7, 75 76>; 85, 109 113>).
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2. Es bedarf auch keiner Aufhebung der mit Beschluss vom 28. Juli 2016 gemäß § 32 BVerfGG erlassenen einstweiligen Anordnung. Denn eine einstweilige Anordnung wird im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegenstandslos, wenn sich das Hauptsacheverfahren - etwa durch zulässige Rücknahme einer Verfassungsbeschwerde erledigt hat (vgl. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Lfg. Juli 2002, § 32 Rn. 244). Dies gilt auch im Fall einer Erledigungserklärung.
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3. Dem Beschwerdeführer sind gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG seine Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren und im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
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a) Die Anordnung einer Auslagenerstattung ist unter Billigkeitsgesichtspunkten auch für den Fall einer Erledigungserklärung möglich (vgl. Schenk, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 34a Rn. 33 und 36; Lenz/ Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 34a Rn. 35). Zwar findet eine überschlägige Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Auslagenerstattungsverfahren regelmäßig nicht statt, denn eine solche kursorische Prüfung entspricht nicht der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, verfassungsrechtliche Zweifelsfragen mit bindender Wirkung inter omnes zu klären (vgl. BVerfGE 33, 247 264 f.>; 85, 109 115 f.>; 87, 394 397 f.>). Eine Erstattung aus Billigkeitsgesichtspunkten kommt jedoch in Betracht, wenn die Verfassungsbeschwerde bei überschlägiger Beurteilung offensichtlich Aussicht auf Erfolg gehabt hätte und wenn im Rahmen der lediglich kursorischen Prüfung zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen nicht Stellung genommen zu werden braucht. Dies ist der Fall, wenn die Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Billigkeitsentscheidung angenommen werden kann oder wenn die verfassungsrechtliche Lage bereits geklärt ist (vgl. BVerfGE 85, 109 115 f.>; 133, 37 38 f.>).
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b) Nach diesen Maßstäben entspricht es der Billigkeit, die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers anzuordnen. Die Verfassungsbeschwerde wäre vorliegend offensichtlich zulässig und begründet gewesen. Denn das Landgericht und das Oberlandesgericht haben die Bedeutung des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruchs bei der Auslegung zivilprozessualer Vorschriften grundlegend verkannt.
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aa) Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, abzuleitende Justizgewährungsanspruch gewährleistet nicht nur den Zugang zu den Gerichten sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter aufgrund einer grundsätzlich umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Streitgegenstands (vgl. BVerfGE 97, 169 185>; 107, 395 401>; 108, 341 347>). Er beeinflusst vielmehr auch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtsweges und die Beschreitung des Instanzenzugs von Bedeutung sind (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2015 - 1 BvR 2811/14 -, juris, Rn. 12).
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bb) Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verlangt bei Eilverfahren, dass Rechtsschutz jedenfalls dann gewährt wird, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfGE 46, 166 179>; 79, 69 74> zu Art. 19 Abs. 4 GG). Die Auslegung und Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. November 2016 - 2 BvR 2275/16 -, juris, Rn. 9). Dies gilt im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG auch im Zivilprozess (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 - 2 BvR 1493/16 -, juris, Rn. 12).
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cc) Eine wirksame Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht haben das Landgericht und das Oberlandesgericht vorliegend mit nicht vertretbarer Argumentation verhindert, indem sie dem Beschwerdeführer ohne Prüfung der Sach- und Rechtslage einen Verfügungsgrund abgesprochen haben, weil er mit seinem Rechtsschutzbegehren zu lange zugewartet habe.
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Zwar kann ein ursprünglich vorliegender Verfügungsgrund durch Zeitablauf entfallen. Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn sich der Streitgegenstand im fraglichen Zeitraum nicht wesentlich verändert hat (vgl. KG Berlin, Urteil vom 9. Februar 2001 - 5 U 9667/00 -, juris, Rn. 14; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 20. März 2008 - 7 W 19/08 -, juris, Rn. 9 ff.; OLG Hamm, Urteil vom 9. März 1990 - 7 U 142/89 -, NJW-RR 1990, S. 1236 1236>). Dem Ausschluss eines Verfügungsgrundes liegt in diesen Fällen der Rechtsgedanke der Verwirkung zugrunde (vgl. OLG Hamm, a.a.O., S. 1236). Derjenige, dem Verwirkung entgegengehalten werden soll, muss aber jedenfalls auch einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen haben, dass er sein (vermeintliches) Recht nicht mehr geltend machen werde (vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 242 Rn. 95).
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Eine derartige Situation war vorliegend jedoch nicht gegeben. Vielmehr hatte sich die Sach- und Rechtslage im Mai 2016 erheblich geändert. Der Beschwerdeführer hat glaubhaft vorgetragen, dass er seit mehreren Jahrzehnten im Besitz der vom Streit betroffenen Fläche sei und dass der Antragsgegner nun erstmalig verbotene Eigenmacht ausgeübt und weitere verbotene Eigenmacht (Abriss der Gebäude) angedroht habe. Zuvor sei lediglich um die Berechtigung zum Besitz gestritten worden. Dieser Geschehensablauf schließt die Heranziehung des Verwirkungsgedankens im Rahmen der §§ 935, 940 ZPO aus. Im Ausgangspunkt ist zu beachten, dass das Entfallen eines Verfügungsgrundes wegen Verwirkung grundsätzlich - auch aufgrund der im Zivilprozess gegebenen Dispositionsbefugnis der beteiligten Parteien - eine Ausnahme darstellt. Denn es kann durchaus vernünftige Gründe für einen besonnenen Gläubiger geben, mit einem Eilantrag zu warten, etwa weil sich zwischenzeitlich eine unstreitige Lösung abzeichnet (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 74. Aufl. 2016, § 940 Rn. 6). Entscheidend ist vorliegend, dass es für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor Mai 2016 keinen Grund gab, da es bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu Handlungen verbotener Eigenmacht gekommen war. Die gegenteilige Auffassung des Landgerichts und des Oberlandesgerichts würde zu einem Entzug des Rechtsschutzes gerade dort führen, wo er nötig ist, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Diese Auslegung lässt außer Betracht, dass der Justizgewährungsanspruch als staatliche Pflicht und individuelles Recht die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols, der bürgerlichen Friedenspflicht und des Selbsthilfeverbots bildet (vgl. BVerfGE 54, 277 292>; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, 77. EL Juli 2016, Art. 19 Abs. 4 Rn. 16).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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