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BVerfG 11.10.2013 - 1 BvR 2616/13
BVerfG 11.10.2013 - 1 BvR 2616/13 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: Aussetzung von Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung bei drohenden irreparablen Schäden durch Vollstreckungsmaßnahmen
Normen
Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 80 Abs 2 S 1 Nr 1 VwGO, § 802c ZPO
Vorinstanz
vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 6. September 2013, Az: OVG 9 S 47.13, Beschluss
Tenor
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1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Verbandsvorstehers des Wasser- und Abwasserverbandes "H." vom 12. Mai 2011 wird vorläufig bis zur Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg über die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 3. Juli 2013 angeordnet, längstens bis zum 11. April 2014.
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2. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen vor Abschluss eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens.
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II.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 186>; 103, 41 42>; stRspr).
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Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 88, 185 186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde (vgl. BVerfGE 34, 211 216>).
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b) Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung angezeigt.
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aa) Die eingelegte Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist zumindest offen.
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(1) Verwaltungsbehörden und Gerichte bleiben auch dann, wenn sich der Gesetzgeber - wie in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO - angesichts der Besonderheiten eines Sachbereiches (vgl. BVerfGE 65, 1 70 f.>) zu einer generellen Anordnung des Sofortvollzuges entschließt, den verfassungsrechtlichen Bindungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unterworfen (vgl. BVerfGE 69, 220 229>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Verwaltungsbehörden haben bei den ihnen obliegenden Ermessensentscheidungen über Vollstreckungsmaßnahmen zu berücksichtigen, dass der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verlangte umfassende und wirksame gerichtliche Rechtsschutz illusorisch wäre, wenn sie irreparable Maßnahmen durchführten, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben (vgl. BVerfGE 35, 382 401>; 69, 220 227> vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Dies gilt auch für den vorläufigen Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 46, 166 178>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Von Verfassungs wegen liegt es unter Berücksichtigung der Effektivität verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes jedenfalls nahe, für die Dauer des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens - zumindest soweit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht offensichtlich aussichtslos oder rechtsmissbräuchlich ist - von Maßnahmen der Vollstreckung abzusehen, wenn anderenfalls schwere und unabwendbare Nachteile drohen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Dies gilt zumal, wenn - wie hier - die vollstreckende Verwaltungsbehörde durch bereits durchgeführte Maßnahmen eine genügende Sicherheit für ihre Forderung erreicht hat.
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Weigert sich eine Verwaltungsbehörde in diesen Fällen trotz formloser gerichtlicher Aufforderung ohne ersichtlichen Grund, bis zur endgültigen Entscheidung im Eilverfahren auf Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten, obliegt es dem Gericht, dies der Behörde durch einen sogenannten Hängebeschluss förmlich aufzugeben. Kommt das Fachgericht dem nicht nach, verletzt es seinerseits die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.
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(2) Im vorliegenden Fall drohen der Beschwerdeführerin durch die vom Antragsgegner wegen einer erheblichen Geldforderung eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen irreparable Nachteile. Zwar hat der Antragsgegner, nachdem er sich im fachgerichtlichen Eilverfahren zunächst geweigert hatte, im verfassungsgerichtlichen Verfahren erklärt, er beabsichtige nicht, vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über die Beschwerde weitere Vollstreckungsmaßnahmen durchzuführen. Er ist jedoch nach wie vor nicht bereit, seine Anträge auf Abgabe der Vermögensauskunft und Erlass eines Haftbefehls zurückzunehmen oder bis zur Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht weiter zu verfolgen. Die durch eine Abgabe der Vermögensauskunft eintretenden Folgen für die Kreditwürdigkeit der Beschwerdeführerin wären irreparabel.
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(3) Es ist auch weder ersichtlich noch wurde dies vom Oberverwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass die von der Beschwerdeführerin eingelegte Beschwerde offensichtlich aussichtslos oder rechtsmissbräuchlich ist. Das Oberverwaltungsgericht hat vielmehr lediglich seine Einschätzung dargetan, die Beschwerde werde "nach dem bisherigen Sachstand voraussichtlich keinen Erfolg haben". Zur Begründung seiner Auffassung, der Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - (NVwZ 2013, S. 1004) dürfte für eine Änderung der ursprünglichen Eilentscheidung nach § 80 Abs. 7 VwGO "nichts hergeben", verweist das Oberverwaltungsgericht auf seine Entscheidung vom 27. Mai 2013 - OVG 9 S 75.12 - (juris, Rn. 25 ff.). Aus deren ausführlicher Begründung und der Verweisung auf die weitere Klärung im Hauptsacheverfahren (vgl. Rn. 29) wird allerdings gerade deutlich, dass die Auswirkungen der Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 auf die Rechtslage in Brandenburg auch aus Sicht des Fachgerichts noch nicht abschließend geklärt sind.
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Die weiteren Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts in der angegriffenen Entscheidung sind ohne Kenntnis der Verfahrensakten nicht nachvollziehbar. Der Beitragsbescheid wurde am 12. Mai 2011 erlassen. Dem Vorbringen der Beschwerdeführerin zufolge bestand in ihrem Fall die Möglichkeit des Anschlusses und damit die beitragsrelevante Vorteilslage bereits im Jahr 2004. Der Hinweis des Oberverwaltungsgerichts, wonach der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts keine Konsequenzen für den Fall habe, dass ein Anschlussbeitragsbescheid innerhalb der "normalen" Festsetzungsverjährungsfrist ergehe, also innerhalb von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Anschlussmöglichkeit entstanden sei, ist damit nicht vereinbar. Der Zeitpunkt der Entstehung der Vorteilslage erscheint daher ebenfalls noch klärungsbedürftig.
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bb) Die Folgenabwägung nach § 32 BVerfGG führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, drohen der Beschwerdeführerin - wie oben dargelegt - irreparable Nachteile im Hinblick auf ihre Kreditwürdigkeit.
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Dementgegen führt der Erlass der einstweiligen Anordnung lediglich zu einer kurzfristigen Verzögerung des Vollstreckungsverfahrens. Gründe, welche die Abgabe der Vermögensauskunft im vorliegenden Fall besonders dringlich erscheinen lassen, hat der Antragsgegner weder dargetan noch sind diese sonst ersichtlich. Eine wesentliche Schmälerung seiner Chancen auf eine Realisierung der Abgabenforderung durch eine kurzfristige Verzögerung des Vollstreckungsverfahrens dürfte im Übrigen nicht zu besorgen sein, weil das Grundstück der Beschwerdeführerin zugunsten des Antragsgegners mit einer erstrangigen Sicherungshypothek belastet wurde.
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Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die Nachteile, die der Beschwerdeführerin im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung entstehen könnten.
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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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