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BFH 15.02.2022 - X B 137/20
BFH 15.02.2022 - X B 137/20 - Akteneinsicht bei Wiederbestellung als Prozessbevollmächtigter
Normen
§ 78 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 17. November 2020, Az: 12 K 188/19, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Wird der Prozessbevollmächtigte nach einer Mandatsniederlegung kurz vor der mündlichen Verhandlung erneut bestellt, liegt keine Prozessverschleppung darin, dass er eine Akteneinsicht gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO beantragt, wenn bislang keine Akteneinsicht erfolgt war.
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2. NV: Dem Kläger bzw. dessen Prozessbevollmächtigten ist in einem solchen Fall zumindest Akteneinsicht unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung oder im Wege einer denkbaren Unterbrechung der mündlichen Verhandlung anzubieten.
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 17.11.2020 - 12 K 188/19 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Niedersächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I.
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Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war als Trockenbauer tätig. Daneben passte er Einbauschränke nach Maß ein. Den Gewinn seines Einzelunternehmens ermittelte er durch Einnahmen-Überschussrechnung gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes.
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Im Rahmen einer für die Streitjahre durchgeführten Außenprüfung kam der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) zu der Feststellung, dass der Kläger eine Kasse nicht geführt und trotz teilweiser Barvereinnahmung die Betriebseinnahmen nicht einzeln aufgezeichnet habe. Die vom Prüfer des FA aufgestellte Geldverkehrsrechnung wies für alle Streitjahre Einnahmefehlbeträge aus. Auch habe es ungeklärte Bareinzahlungen auf dem betrieblichen Bankkonto gegeben.
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Aufgrund dieser Feststellungen ging das FA davon aus, dass die Aufzeichnungen des Klägers in den Streitjahren nicht ordnungsgemäß gewesen seien. Es schätzte deshalb in Höhe der Einnahmefehlbeträge aus der Geldverkehrsrechnung Einnahmen und Umsätze hinzu, was zu (erhöhten) Gewinnen aus Gewerbebetrieb führte. Dementsprechend erließ das FA geänderte Einkommensteuer-, Umsatzsteuer- sowie Gewerbesteuermessbetragsbescheide für alle Streitjahre und hob die Bescheide über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbesteuerverlusts auf. Der Gewerbesteuermessbetrag betrug trotz der Hinzuschätzungen in allen Streitjahren weiterhin 0 €.
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Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob der Kläger Klage.
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Während das FA im Rahmen der Einspruchsverfahren eine vom Kläger beantragte Akteneinsicht verweigert hatte, hat das Finanzgericht (FG) am 26.11.2019 aufgrund eines Antrags des Klägers die ihm vorgelegten FA-Akten wie auch die FG-Akten zur Akteneinsicht binnen einem Monat an das Amtsgericht Frankfurt am Main übersandt. Die Prozessbevollmächtigte hat am 17.12.2019 dem FG mitgeteilt, dass sie das Mandat niedergelegt habe. Eine Einsicht in die Akten erfolgte nicht mehr.
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Nachdem der Kläger den Klagegegenstand bezeichnet und die Klage begründet hat, hat das FG ihn mit Schreiben vom 05.10.2020 zur mündlichen Verhandlung am 17.11.2020 geladen.
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Am 16.11.2020 um 18:13 Uhr hat sich die Prozessbevollmächtigte durch Telefax-Schreiben erneut bestellt und Terminsverlegung sowie Akteneinsicht beantragt. Dem Schreiben war eine Prozessvollmacht des Klägers vom 16.11.2020 beigefügt.
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Der Vorsitzende des FG-Senats hat am 17.11.2020 vor der mündlichen Verhandlung die Ablehnung der Terminsverlegung telefonisch dem Büro der Prozessbevollmächtigten mitgeteilt und auch die bereits erfolglos gebliebene Aktenübersendung angesprochen. Persönlich hat er nicht mit der Prozessbevollmächtigten sprechen können, da diese nicht anwesend und der Zeitpunkt ihrer Ankunft nicht bekannt gewesen sei.
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In der anschließenden mündlichen Verhandlung ist für den Kläger niemand erschienen.
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Das FG hat die Ablehnung sowohl des Antrags auf Akteneinsicht wie auf Terminsverlegung im Urteil damit begründet, beide seien allein aus Gründen der Prozessverschleppung gestellt worden. In Bezug auf die beantragte Akteneinsicht spreche hierfür, dass die Prozessbevollmächtigte bereits während des Klageverfahrens Akteneinsicht beantragt habe, diese auch gewährt, von ihr aber nicht genutzt worden sei. Auch sei sie bereits im Einspruchsverfahren involviert gewesen und habe angabegemäß Sachverhaltskenntnis gehabt.
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Das FG sah die Aufzeichnungen des Klägers im Übrigen aufgrund der durchgeführten Geldverkehrsrechnung als nicht ordnungsgemäß an. Die Hinzuschätzungen des FA beanstandete das FG der Höhe nach nicht. Eine willkürliche und zur Nichtigkeit der Bescheide führende Schätzung sei vom FA nicht vorgenommen worden.
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Der Kläger begehrt die Zulassung der Revision wegen Divergenz und Verfahrensmängeln.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht dem Kläger keine Akteneinsicht gewährt.
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1. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 des Grundgesetzes --GG--) verletzt, indem es dem Kläger auf seinen Antrag vom 16.11.2020 nicht (erneut) Akteneinsicht gemäß § 78 FGO gewährt hat. Dies stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 FGO dar.
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a) Das Gebot rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ein Gericht nicht nur, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, sondern auch, die Beteiligten über die entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu informieren. Eine Art. 103 Abs. 1 GG genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 08.06.1993 - 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, unter C.I., m.w.N.). Das Gebot rechtlichen Gehörs sichert daher den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Zum Recht auf rechtliches Gehör gehört daher auch die Möglichkeit der Akteneinsicht (vgl. BVerfG-Beschluss vom 19.01.2006 - 2 BvR 1075/05, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 7, 205, unter IV.1.a, m.w.N.; Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25.05.2011 - VI B 3/11, BFH/NV 2012, 46, Rz 4), die das Recht auf die Erteilung von Ausfertigungen, Auszügen, Ausdrucken und Abschriften (§ 78 Abs. 2 FGO) umfasst.
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b) Prozessrechtliche Gründe, die es gerechtfertigt hätten, dem Kläger die am 16.11.2020 beantragte Akteneinsicht nicht zu gewähren, sind nicht ersichtlich. Insbesondere liegt (noch) kein Fall der Prozessverschleppung vor.
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aa) Der Vorsitzende des FG-Senats hat unter Berufung auf die bereits zuvor genehmigte, aber vom Kläger nicht genutzte Akteneinsicht die am 16.11.2020 erneut verlangte Einsichtnahme abgelehnt. Durch eine nicht gewährte Akteneinsicht wird das rechtliche Gehör zwar nur verletzt, wenn die Akteneinsicht ausdrücklich verweigert worden ist (vgl. nur BFH-Beschluss vom 25.02.2010 - IX B 156/09, BFH/NV 2012, 176, Rz 4, m.w.N.). Dies ist hier der Fall, zumal dem Kläger trotz Durchführung der mündlichen Verhandlung weder unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung noch im Wege einer denkbaren Unterbrechung der mündlichen Verhandlung Akteneinsicht gewährt werden sollte. Vielmehr hat sich der Vorsitzende wie das FG in seinem Urteil auf die bereits am 26.11.2019 gewährte Akteneinsicht berufen, ohne allerdings darauf einzugehen, dass die Prozessbevollmächtigte während des damaligen Akteneinsichtszeitraums das Mandat niedergelegt hatte und es deshalb nicht zur Akteneinsicht gekommen sein kann. Folglich bestand das Recht des Klägers auf Akteneinsicht unverändert fort.
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bb) Dass der Kläger sein Recht auf Akteneinsicht missbräuchlich geltend gemacht hätte, kann aus dem konkreten Geschehensablauf nicht zwingend abgeleitet werden. Denn anders als vom FG angenommen, kann aufgrund der zwischenzeitlichen Mandatsniederlegung der Prozessbevollmächtigten nicht ohne Weiteres eine Prozessverschleppung nur deshalb angenommen werden, weil sie kurzfristig vor dem Termin der mündlichen Verhandlung erneut Akteneinsicht verlangt hat. Insbesondere kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Beteiligung der Prozessbevollmächtigten im Einspruchsverfahren dieses Recht einschränkt. Da in diesem Verfahrensstadium noch keine Kenntnis über die Gerichtsakte vorhanden sein kann, ist nicht sichergestellt, dass der Kläger umfassende und erschöpfende Kenntnis über die dem Gericht vorgelegten Akten des FA hat. Dies gilt erst recht, wenn wie hier das FA eine Akteneinsicht während des Verwaltungsverfahrens verweigert hat. Schließlich befreit auch die Angabe eines Klägers bzw. seines Bevollmächtigten, er habe Sachverhaltskenntnis, das Gericht nicht von seiner Verpflichtung nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO Akteneinsicht zu gewähren.
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cc) Dem Kläger bzw. seiner Bevollmächtigten kann auch nicht vorgehalten werden, dass er bewusst an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Kläger auch noch zu diesem Zeitpunkt bereit sein muss, die Einsicht in die Akten vorzunehmen. Vorliegend ist ihm bzw. ihr eine solche Akteneinsicht jedoch vom Vorsitzenden des FG-Senats auch im Telefonat vor der mündlichen Verhandlung nicht angeboten worden.
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Damit verletzt das angefochtene Urteil des FG Art. 103 Abs. 1 GG.
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c) Der Gehörsverstoß ist nicht durch Rügeverzicht unbeachtlich geworden.
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Ein verzichtbarer Verfahrensmangel wie die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht kann zwar nach der Rechtsprechung des BFH dann nicht mehr als Gehörsverstoß gerügt werden, wenn der Beteiligte darauf verzichtet hat (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung). Das Rügerecht geht bei solchen Verfahrensmängeln nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Auch wird diese Folge vom BFH für den Fall angenommen, dass der Kläger rechtskundig vertreten ist (vgl. nur BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 46, Rz 7, m.w.N.). Vorliegend ist jedoch aufgrund des am Tag vor der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags auf Akteneinsicht klar zum Ausdruck gebracht worden, dass der Kläger gerade nicht hierauf verzichten wollte. Diesen Antrag musste der Kläger auch nicht nach dem Telefonat des Vorsitzenden mit dem Büro der Prozessbevollmächtigten wiederholen. Auch kann ihm nicht vorgehalten werden, dass er bewusst an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat; dass zu diesem Termin die Möglichkeit zur Einsicht in das weitere Aktenmaterial möglich gewesen wäre, war nicht zu erwarten.
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2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufgrund des Verfahrensfehlers aufzuheben und die Rechtsstreitigkeit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Der Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 3 FGO davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Eine Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat verwehrt (s. BFH-Urteile vom 05.11.1991 - VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425; vom 18.02.1999 - I R 127-129/97, BFH/NV 1999, 1464).
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3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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