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BFH 06.04.2016 - X K 1/15
BFH 06.04.2016 - X K 1/15 - Begrenzte Rückwirkung einer Verzögerungsrüge - materieller Schaden
Normen
§ 198 Abs 1 GVG, § 198 Abs 3 GVG
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 16. Dezember 2014, Az: 2 K 2472/10, Urteil
Leitsatz
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1. Durch eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge wird der Anspruch eines Entschädigungsklägers auf Entschädigung der durch die überlange Verfahrensdauer erlittenen Nachteile auf einen Zeitraum begrenzt, der im Regelfall sechs Monate vor Erhebung der Rüge umfasst .
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2. Zur Ermittlung des materiellen Nachteils sind die wirtschaftlichen Folgen des tatsächlichen Geschehensablaufs mit denen eines Verfahrensverlaufs ohne die unangemessene Verzögerung zu vergleichen .
Tenor
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Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer des Klageverfahrens 2 K 2472/10 beim Finanzgericht Köln für einen Zeitraum von 19 Monaten Entschädigung in Höhe von insgesamt 4.275 € zu zahlen.
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Es wird festgestellt, dass das Verfahren im Umfang von einem weiteren Monat verzögert war.
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Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Tatbestand
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I.
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Der Kläger begehrt gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigung wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer eines vom 3. August 2010 (Klageeingang) bis zum 16. Dezember 2014 (übereinstimmende Erledigungserklärungen) vor dem Finanzgericht (FG) Köln anhängigen Verfahrens.
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Gegenstand des Ausgangsverfahrens war die Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden, in denen das Finanzamt W (FA) von einer unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers ausging und Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag sowie Zinsen für die Streitjahre 1995 bis 2001 sowie 2003 bis 2005 in Höhe von rund 660.000 € festsetzte. Materiell-rechtlich war die Frage zu entscheiden, ob der Kläger in den Streitjahren 1995 bis 2001 sowie 2003 bis 2005 im Inland über einen Wohnsitz gemäß § 8 der Abgabenordnung (AO) verfügt hat und dementsprechend unbeschränkt steuerpflichtig war.
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Der Kläger war als Handelsvertreter u.a. für X mit Schwerpunkt in Polen tätig gewesen. Im Sommer 1994 beendete er seine berufliche Tätigkeit und meldete sich beim Finanzamt B ab. Nach der Trennung von seiner Ehefrau meldete er im Juni 1995 seinen Hauptwohnsitz in B und im September 1995 seinen Nebenwohnsitz in W ab.
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In der Folge hat der Kläger seinen Wohnsitz bis 2003 in Spanien, von 2003 bis 2005 in Österreich und ab August 2005 in der Schweiz angemeldet.
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Das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung leitete im Jahr 2006 ein Steuerstrafverfahren gegen den Kläger ein. Es ging davon aus, der Kläger habe seinen inländischen Wohnsitz beibehalten und durch die Abmeldung der inländischen und die Anmeldung ausländischer Wohnsitze versucht, die Besteuerung der in den Jahren 1995 bis 2005 erhaltenen Handelsvertreterprovisionen zu vermeiden. Die Staatsanwaltschaft hat das Strafverfahren im Dezember 2009 gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt.
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Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen die Steuerbescheide der Jahre 1995 bis 2001, 2003 bis 2005 erhob der Kläger am 3. August 2010 Klage vor dem FG. Mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2010 trug der Kläger ergänzend vor. Am 14. April 2011 begründete das FA seinen Antrag auf Klageabweisung und wies dabei unter Bezugnahme auf Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) darauf hin, es sei zur Bejahung eines inländischen Wohnsitzes weder eine Mindestnutzungsdauer erforderlich noch müsse sich der Lebensmittelpunkt im Inland befinden. Das FG übersandte diesen Schriftsatz am 19. April 2011 dem Kläger mit der Bitte um Stellungnahme.
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Am 24. Oktober 2012 teilte der Kläger persönlich dem FG seine Adressänderung in der Schweiz mit. Mit Schreiben vom 29. Oktober 2012 wurde der Kläger vom FG an die Erledigung des Schreibens vom 19. April 2011 erinnert. Mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2012 nahm der Kläger erneut Stellung und verwies darauf, dass die vom FA zitierte BFH-Rechtsprechung nicht einschlägig sei, da sie sich nur auf Fälle bezogen habe, in denen kein Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) anwendbar gewesen sei. Im Streitfall müsse die Frage des Wohnsitzes aber im Kontext mit den einschlägigen DBA geprüft werden. Am 9. Januar 2013 verzichtete das FA auf eine weitergehende Stellungnahme.
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Am 27. Juli 2013 erhob der Kläger Verzögerungsrüge.
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Nach einem senatsinternen Berichterstatterwechsel lud das FG am 17. September 2014 die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung am 5. November 2014. Am 30. September 2014 wurden zu diesem Termin auch sechs Zeugen geladen. Am 22. Oktober 2014 wies der Berichterstatter zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung darauf hin, die Bestimmung des Wohnsitzes enthalte ein Zeitelement, bei dem auf die Sechsmonatsfrist des § 9 Satz 2 AO zurückgegriffen werden könne. Er bat das FA im Hinblick auf die bislang zusammengetragenen Indizien sowie die Frage der eigenen örtlichen Zuständigkeit zu überprüfen, ob die Steuerbescheide aufrechterhalten werden sollten. Da das FA mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2014 und auch der Kläger mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2014 die Vernehmung weiterer Zeugen beantragten, wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 16. Dezember 2014 verlegt. In diesem Termin sagte das FA zu, die streitgegenständlichen Bescheide aufzuheben. Daraufhin erklärten der Kläger und das FA übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
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Am 8. April 2015 hat der Kläger Entschädigungsklage gegen das Land Nordrhein-Westfalen (Beklagter) erhoben. Er rügt, die Verfahrensdauer von 50 1/2 Monaten müsse nicht hingenommen werden. Hinzu komme, dass das Verfahren bei der Finanzverwaltung bereits seit Juni 2006 anhängig gewesen sei.
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Er habe zwar auf die Klageerwiderung des FA erst aufgrund der erneuten Anfrage des FG geantwortet. In dem Schriftsatz des FA sei jedoch nur Rechtsprechung angeführt worden, die das FG auf den ersten Blick als nicht einschlägig hätte erkennen können. Mangels Ausführungen zum Sachverhalt habe es daher einer Gegenäußerung des Klägers nicht bedurft. Insgesamt betrachtet sei der Verfahrensgegenstand nicht allzu schwierig gewesen.
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Sein Interesse an einer schnellen Verfahrensbeendigung ergebe sich daraus, dass er im Unterliegensfall 6 % Zinsen p.a. hätte zahlen müssen, da er die Steuern nicht entrichtet habe. Hinzu komme, dass er zur Sicherung der vom FA geforderten Steuerschuld eine Bankbürgschaft habe erbringen müssen, die ihn jährlich 1.500 € gekostet habe. Hätte er beim FG verloren, wäre wegen Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Gewerbesteuer und Zinsen seit 1995 sowie der Kosten des Verfahrens ein Betrag von bis zu 1 Mio. € auf ihn zugekommen, den er nicht hätte bezahlen können, so dass er zum Sozialfall geworden wäre. Diese Umstände hätten bei ihm zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn wegen überlanger Dauer des beim FG Köln durchgeführten Klageverfahrens 2 K 2472/10 eine Entschädigung für materielle sowie immaterielle Nachteile in Höhe von mindestens 2.400 € zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Dauer des Verfahrens sei unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des angerufenen Senats nicht unangemessen. Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien lasse eher eine längere Verfahrensdauer angemessen erscheinen. Der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens sei hoch gewesen. Die Klageschrift sei mit 37 Seiten zuzüglich zahlreicher Anlagen überdurchschnittlich umfangreich gewesen. Abgesehen von den generellen Besonderheiten von Fällen, denen eine Steuerfahndungsprüfung zugrunde liege, sei das Verfahren dadurch gekennzeichnet gewesen, dass der Sachverhalt nicht sofort durchschaubar sowie streitig gewesen sei und bereits zum Zeitpunkt des Klageantrags lange zurückgelegen habe. Außerdem habe es sich um einen Sachverhalt mit Auslandsbezug gehandelt, in dem Steuerbescheide aus drei Staaten zu prüfen gewesen seien. Da die Kriterien, wann eine Wohnung i.S. des § 8 AO beibehalten werde, schwer zu fassen und daher letztlich Tatfrage seien, sei im Streitfall eine umfangreiche Sachverhaltsaufklärung, die zudem die private Sphäre des Klägers betroffen habe, erforderlich gewesen, was auch die umfangreiche Beweisaufnahme gezeigt habe.
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Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger stelle sich zweischneidig dar. Einerseits sei die Steuerschuld von nicht unbeträchtlicher Höhe gewesen, andererseits habe das FA Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewährt, so dass sich der Kläger während der gesamten Verfahrensdauer keinen fälligen Forderungen des FA gegenüber gesehen habe, auch wenn er bei Klageabweisung Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO hätte tragen müssen.
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Umstände, die für eine besondere Eilbedürftigkeit sprächen, seien vom Kläger weder dargelegt worden noch seien sie für das FG sonst ersichtlich gewesen. Die erste Phase des Klageverfahrens, die vom FG nur schwer zu steuern sei, habe bis zum Verzicht des FA auf eine weitere Stellungnahme im Januar 2013 fast zweieinhalb Jahre gedauert. Der Kläger habe selbst zur zeitlichen Ausdehnung des Verfahrens beigetragen, da er erst auf erneute gerichtliche Aufforderung vom 29. Oktober 2012 die erbetene Stellungnahme zur Klageerwiderung des FA vom 14. April 2011 abgegeben habe. Es hätte dem Kläger oblegen, dem FG mitzuteilen, er sehe von einer Stellungnahme ab. Das FG habe nicht davon ausgehen können, dass der Kläger auf eine Replik habe verzichten wollen.
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Daher sei der Zeitraum von 20 Monaten (vom 9. Januar 2013 bis zum 17. September 2014), in dem das Verfahren nach Aktenlage durch das FG nicht fortbetrieben wurde, hinzunehmen gewesen. Dies zeige auch das Senatsurteil vom 19. März 2014 X K 8/13 (BFHE 244, 521, BStBl II 2014, 584), in dem ein gerichtlicher Untätigkeitszeitraum von 20 Monaten als unschädlich angesehen wurde. Die Dauer des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens sei hingegen grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteil vom 19. März 2014 X K 3/13, BFH/NV 2014, 1053).
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Sollte eine unangemessene Verfahrensdauer bejaht werden, er-scheine die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer aus-reichend, da der Kläger nicht zu erkennen gegeben habe, dass ihm an einer besonders zügigen Verfahrenserledigung gelegen gewesen sei. Er habe sich zur Klageerwiderung des FA vom 14. April 2011 erst am 31. Oktober 2012 geäußert und sich bis auf die Erhebung der Verzögerungsrüge auch nicht nach dem Sachstand des Verfahrens erkundigt.
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Rein vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass der geltend gemachte Entschädigungsanspruch jedenfalls der Höhe nach ungerechtfertigt sei. Es könne --wenn überhaupt-- nur innerhalb eines Zeitfensters vom 9. Januar 2013 (Verzicht auf eine weitere Stellungnahme des FA) oder der Erhebung der Verzögerungsrüge am 27. Juli 2013 bis zur aktenkundigen Fortbetreibung des Verfahrens durch das FG eine unangemessene Verfahrensdauer in Betracht kommen. Es seien keine Umstände erkennbar, die die Festsetzung eines höheren Betrages rechtfertigen könnten.
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Zudem stelle die Avalprovision, die für die Erbringung der Bürgschaft zu zahlen gewesen sei, keinen materiellen Schaden dar, weil ihr die Erlangung eines Liquiditäts- und Zinsvorteils gegenüberstehe. Die höchstrichterliche Rechtsprechung im Hinblick auf den Erlass von Aussetzungszinsen bei gewährter AdV im Falle überlanger Verfahrensdauer, die einen Billigkeitserlass ablehne (vgl. BFH-Urteil vom 21. Februar 1991 V R 105/84, BFHE 163, 313, BStBl II 1991, 498), könne auch auf dieses Verfahren übertragen werden. Auch seien die Zinsen gegenzurechnen, die der Kläger aus der Anlage des vom FA freigegebenen Betrages von 200.000 € erzielt habe.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Klage hat Erfolg. Das Klageverfahren 2 K 2472/10 beim FG Köln war um 20 Monate verzögert (unter 1.). Dem Kläger steht wegen der überlangen Dauer des Verfahrens für einen Zeitraum von 19 Monaten eine Entschädigung für materielle Nachteile in Höhe von 2.375 € sowie für immaterielle Nachteile in Höhe von 1.900 € zu (unter 2.). In Bezug auf die Verzögerung des Verfahrens im September 2012 kann wegen der verspätet erhobenen Verzögerungsrüge lediglich die Verzögerung des Verfahrens festgestellt werden (unter 3.).
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1. Die Dauer des Verfahrens war unangemessen i.S. des § 198 GVG.
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a) Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Senatsurteil vom 7. November 2013 X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, unter II.2., auf das zur Vermeidung von Wiederholungen wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird). Nach dieser Entscheidung ist der Begriff der "Angemessenheit" für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen --wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter-- Rechnung tragen. Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden; dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens --auch in zeitlicher Hinsicht-- einzuräumen. Zwar schließt es die nach der Konzeption des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG vorzunehmende Einzelfallbetrachtung aus, im Rahmen der Auslegung der genannten Vorschrift konkrete Fristen zu bezeichnen, innerhalb derer ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte. Gleichwohl kann für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, die Vermutung aufgestellt werden, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene ("dritte") Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt. Diese Vermutung gilt indes nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt.
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b) Nach diesen Grundsätzen war das Ausgangsverfahren um 20 Monate verzögert.
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aa) Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien vermittelt im Streitfall kein einheitliches Bild. So war der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens eher als überdurchschnittlich anzusehen, da zur Lösung des Streitfalles nicht nur nationales Recht zu prüfen war, sondern auch Fragen des jeweils anzuwendenden DBA berücksichtigt werden mussten. Sowohl die umfangreiche Klageschrift samt beigefügtem Ordner als auch die Tatsache, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren vorausgegangen war, ließen erwarten, dass eine umfängliche und überdurchschnittlich zeitaufwändige Sachverhaltsermittlung des FG notwendig werden würde.
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In Bezug auf die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist zum einen zu berücksichtigen, dass --wie der Kläger dargelegt hat und auch für das FG erkennbar war-- die Frage, ob er in den Streitjahren im Inland steuerpflichtig war, für ihn angesichts der hohen in Streit stehenden Steuerbeträge von existentieller Bedeutung war. Indes hat der Kläger in dem Verfahren nie explizit darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, das Verfahren beschleunigt zu bearbeiten. Er hat es vielmehr sogar zugelassen, dass das Verfahren knapp eineinhalb Jahre überhaupt nicht gefördert wurde.
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bb) Die vom Senat erkannte Verzögerung des Rechtsstreits um 20 Monate ergibt sich aus einer Betrachtung des konkreten Verfahrensablaufs.
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(1) In dem seit dem 3. August 2010 beim FG anhängigen Klage-verfahren endete der Wechsel der vorbereitenden Schriftsätze zwischen den Beteiligten und damit die sog. erste Phase nach zwei Jahren und fünf Monaten am 9. Januar 2013, als das FA auf eine weitergehende Stellungnahme verzichtete. Das FG hätte nach gut zwei Jahren, also im September 2012, mit der Bearbeitung des Verfahrens beginnen müssen. Es ist dem FG zwar zuzugeben, dass es nach seiner Aufforderung zur Stellungnahme von dem Kläger noch eine Äußerung zur Klageerwiderung des FA erwarten durfte und nicht davon ausgehen musste, das Verfahren sei bereits ausgeschrieben. Dennoch hat die fehlende Reaktion des Klägers das FG nicht davon entbunden, das Verfahren nach gut zwei Jahren voranzutreiben, was es jedoch verabsäumt hat. Das bedeutet, dass im September 2012 das Verfahren verzögert wurde.
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(2) In der Zeit von Oktober 2012 bis Januar 2013 wurde das Verfahren gefördert. Es ist nicht als unangemessen anzusehen, wenn das FG etwas mehr als zwei Monate auf eine angeforderte Stellungnahme des FA wartet.
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(3) Ab Februar 2013 bis August 2014 wurde das Verfahren vom FG erneut nicht gefördert. Das FG hat selbst die Verzögerungsrüge des Klägers nicht zum Anlass genommen, tätig zu werden, so dass das Verfahren um weitere 19 Monate verzögert war.
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(4) Vom September 2014 an wurde das Verfahren sachgerecht und zügig mit dem Ergebnis betrieben, dass das FA in der mündlichen Verhandlung vom 16. Dezember 2014 die Aufhebung der Steuerbescheide zusagte und die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärten.
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2. Für die Verzögerung des Rechtsstreits von Februar 2013 bis August 2014, also für 19 Monate, steht dem Kläger eine Entschädigung für die erlittenen materiellen und immateriellen Schäden zu.
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a) Der materielle Nachteil i.S. des § 198 Abs. 1 GVG liegt darin, dass der Kläger für die Zeit der überlangen Verfahrensdauer die Kosten der vom FA geforderten Bankbürgschaft zu tragen hatte. Da die Belastung jährlich 1.500 € betrug, ist während der neunzehnmonatigen Verzögerung ein zu entschädigender Vermögensschaden in Höhe von 2.375 € entstanden.
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aa) Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten ist die BFH-Rechtsprechung zum Billigkeitserlass bei Aussetzungszinsen nicht auf die Entschädigung der materiellen Nachteile wegen einer überlangen Verfahrensdauer übertragbar. Es geht nicht um die Überprüfung, ob es zu einem nicht gewollten und im Einzelfall unbilligen Überhang einer gesetzlichen Regelung gekommen ist, sondern vielmehr darum, ob ein Verfahrensbeteiligter infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erlitten hat, der gemäß § 198 Abs. 1 GVG angemessen zu entschädigen ist. Der materielle Nachteil muss dabei durch die unangemessene Verfahrensdauer im Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers verursacht worden sein. Der Entschädigungsanspruch umfasst als Vermögensnachteile insbesondere auch Kostenerhöhungen im Ausgangsverfahren aufgrund der Verzögerung (BTDrucks 17/3802, 19).
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Zur Ermittlung des materiellen Nachteils muss geprüft werden, wie das Verfahren ohne die Verzögerung verlaufen wäre; das Ergebnis ist dann dem tatsächlichen Geschehensablauf gegenüberzustellen (ähnlich auch Roderfeld in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren, 2013, § 198 GVG, Rz 67; Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 155 FGO Rz 85; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 74. Aufl., § 198 GVG Rz 16).
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bb) Im Streitfall hätte der Kläger 19 Monate früher vom FA die Zusage erhalten, dass wegen seines fehlenden inländischen Wohnsitzes die streitgegenständlichen Steuerbescheide aufgehoben würden. Die Verpflichtungen der Bank aus der Bankbürgschaft wären 19 Monate früher beendet worden, so dass vom Kläger für diesen Zeitraum keine Avalprovisionen zu zahlen gewesen wären. Damit sind deren Kosten durch die Verzögerung verursacht worden.
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cc) Die Avalprovisionen sind --entgegen der Auffassung des Beklagten-- nicht um ggf. erhaltene Zinsen zu mindern. Bei der Bemessung des Entschädigungsanspruches sind zwar die Zinsvorteile, die sich aus den Vorschriften der AO zur Vollverzinsung ergeben, nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen, um eine Überkompensation zu vermeiden (BTDrucks 17/3802, 19). Ein Gegenrechnen von Zinsvorteilen aufgrund der Vollverzinsung kommt im Streitfall aber nicht in Betracht, da es zu keiner Rückerstattung von zu viel gezahlter Steuer gekommen ist. Die Berücksichtigung der möglicherweise erhaltenen Zinsen aus einer Anlage des vom FA freigegebenen Betrages von 200.000 € ist ebenfalls nicht möglich, da sie dem Kläger unabhängig von der Dauer des Verfahrens zugeflossen wären bzw. sind. Wäre der Rechtsstreit zügig beendet worden, hätte der Kläger die Zinsen ebenso erhalten wie er sie tatsächlich erhalten hat.
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b) Das Bestehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet (vgl. auch Senatsurteil vom 17. April 2013 X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, unter III.6.a). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 GVG wäre im Streitfall für die unangemessene Verzögerung nicht ausreichend. Dafür spricht vor allem, dass das FG auf die Verzögerungsrüge des Klägers über ein Jahr lang nicht reagiert hat. Umstände dafür, dass der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG genannte Regelbetrag von 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung vorliegend unbillig (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) sein könnte, sind nicht ersichtlich. Die Entschädigung in Geld nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG kann nach Monaten bemessen werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. z.B. Urteil vom 20. August 2014 X K 9/13, BFHE 247, 1, BStBl II 2015, 33, Rz 38), so dass dem Kläger eine Entschädigung wegen immaterieller Nachteile für 19 Monate in Höhe von insgesamt 1.900 € zu gewähren ist.
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3. In Bezug auf die Untätigkeit des Gerichts im September 2012 kann lediglich die überlange Verfahrensdauer festgestellt werden, da die erst im Juli 2013 erhobene Verzögerungsrüge, die gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG notwendige Voraussetzung für eine Entschädigung ist, nicht unbeschränkt auf eine bereits zehn Monate zurückliegende Verfahrensverzögerung zurückwirken kann.
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a) Während nach § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG die Verzögerungsrüge erst erhoben werden darf, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werden kann, legt das GVG nicht fest, bis zu welchem Zeitpunkt eine Verzögerungsrüge spätestens erhoben werden muss. Eine gesetzliche Regelung findet sich lediglich in der --im Streitfall nicht anwendbaren-- Übergangsvorschrift des Art. 23 Satz 2 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren für bereits bei dessen Inkrafttreten verzögerte Verfahren; in diesen Fällen wird eine unverzügliche Rüge gefordert.
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Einige Passagen der Gesetzesmaterialien könnten dafür sprechen, dass es grundsätzlich unschädlich ist, wenn die Rüge nach dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG bestimmten Zeitpunkt eingelegt wird. So wird in der Begründung zum Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgeführt, die Geduld eines Verfahrensbeteiligten solle nicht bestraft werden. Stelle das Verhalten des Betroffenen allerdings bei Würdigung der Gesamtumstände eher ein "dulde und liquidiere" dar, so könne das Entschädigungsgericht dies sowohl bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 GVG berücksichtigen als auch bei der Frage, ob Wiedergutmachung auf andere Weise durch Feststellung der Überlänge gemäß Abs. 4 ausreiche (BTDrucks 17/3802, 21). Der Bundesrat regte daraufhin im Gesetzgebungsverfahren an, diese von der Bundesregierung vorgenommene Auslegung des Gesetzestextes, die sich nicht aus dem Regelungstext sowie der Gesetzessystematik herleiten lasse und nur in der Begründung zum Ausdruck gebracht werde, gesetzlich klarzustellen (BTDrucks 17/3802, 35), was die Bundesregierung jedoch ablehnte, da sie insoweit keinen Klarstellungsbedarf sah. Sie wies darauf hin, dass der Regelungsvorschlag keine Unklarheit im Hinblick auf die grundsätzliche Unschädlichkeit einer Verspätung der Verzögerungsrüge aufweise. Weder im Anspruchstatbestand des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG noch bei der Rügeobliegenheit in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG werde eine Wahrung des in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG genannten frühestmöglichen Zeitpunkts als Voraussetzung für die Gewährung und die Bemessung der Entschädigung benannt. Daraus folge klar, dass grundsätzlich eine Verspätung nicht relevant sei und "Geduld" nicht "bestraft" werden solle. Werde die Verzögerungsrüge bewusst sehr spät i.S. eines "dulde und liquidiere" eingelegt, könne das Entschädigungsgericht dies schon bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer und bei der Frage, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend sei, berücksichtigen. Für die Entschädigung wegen immaterieller Nachteile enthalte § 198 Abs. 4 GVG überdies eine Möglichkeit zur Reduzierung der Entschädigung, falls der volle Pauschbetrag nach den Umständen des Einzelfalls unbillig sei (BTDrucks 17/3802, 41).
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Hieraus schließen sowohl der Bundesgerichtshof (BGH) als auch das Bundessozialgericht (BSG) in obiter dicta und damit den erkennenden Senat nicht bindend, dass die Verzögerungsrüge lediglich im laufenden Ausgangsverfahren erhoben werden müsse, ohne dass ein Endtermin bestimmt und damit eine Frist für die Rüge festgelegt werde (so BGH-Urteil vom 10. April 2014 III ZR 335/13, Neue Juristische Wochenschrift 2014, 1967, Rz 31) und eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge unschädlich sei (BSG-Urteil vom 5. Mai 2015 B 10 ÜG 8/14 R, Sozialrecht 4 1710 Art. 23 Nr. 4, Rz 24). Im Schrifttum wird ebenfalls die Auffassung vertreten, auch verspätete, d.h. nach dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG normierten Zeitpunkt erhobene Verzögerungsrügen seien grundsätzlich uneingeschränkt geeignet, den Entschädigungsanspruch zu wahren (so Stiepel in Beermann/ Gosch, FGO § 155 Rz 109; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 8. Aufl. 2015, § 198 Rz 20, m.w.N.; ähnlich auch Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 155 FGO Rz 14 "Rüge trotz eindeutiger Verfahrensverzögerung 'erst in letzter Minute'").
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b) Diesen Überlegungen vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Eine unbeschränkt zurückwirkende Verzögerungsrüge entspräche dem präventiven Aspekt des Gesetzeszwecks nicht, sondern ließe diesen leerlaufen. Das System des § 198 GVG, mit dem die EGMR-Rechtsprechung umgesetzt worden ist, sieht erkennbar eine Kombination aus zwei Modellen vor. Zum einen wird nach der sog. "Kompensationslösung" für Verzögerungen eine nachträgliche Geldentschädigung oder anderweitige Genugtuung gewährt. Zum anderen aber soll die Verzögerungsrüge im jeweiligen Einzelfall eine "konkret-präventive Beschleunigungswirkung" (so ausdrücklich BTDrucks 17/3802, 16, Rz 4) entfalten und nach der gesetzlichen Konzeption so dazu beitragen, dass es erst gar nicht zu einer entschädigungspflichtigen Verzögerung kommt. Diese mit der Verzögerungsrüge intendierte konkret-präventive Beschleunigungswirkung würde entwertet, wenn es für den Erhalt bzw. die Höhe einer Geldentschädigung überhaupt nicht darauf ankäme, zu welchem Zeitpunkt nach Eintritt der Verzögerung sie erstmals erhoben wurde. So hat auch der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages im weiteren Verlauf der Gesetzesberatungen die "Kombination aus präventiven und kompensatorischen Regelungselementen" ausdrücklich begrüßt (BTDrucks 17/7217, 27); sie gehört daher eindeutig zum Regelungskonzept des Gesetzgebers.
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Zudem heißt es in den Gesetzesmaterialien, die Verzögerungs-rüge solle "dem Ausgangsgericht Anlass zur Prüfung geben und eine Abhilfemöglichkeit eröffnen" (BTDrucks 17/3802, 16, Rz 5). Auch dieser vom Gesetzgeber beabsichtigte Effekt könnte nicht eintreten, wenn auch eine erst sehr lange nach dem Beginn der Verzögerung erhobene Rüge --die daher für die bereits eingetretene Verzögerung keine Prüfungs- und Abhilfemöglichkeit mehr eröffnet-- mit unbeschränkter Rückwirkung für die Höhe der Geldentschädigung ausgestattet wäre. Dies lüde vielmehr zu dem seitens des Gesetzgebers ausdrücklich missbilligten "dulde und liquidiere" regelrecht ein.
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c) Aus diesen Gründen und auch um die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsprechung im Bereich der Entschädigungsklagen zu verbessern, erscheint es dem erkennenden Senat notwendig, den in der Rechtspraxis nur schwer fassbaren Zeitraum eines unzulässigen "Duldens und Liquidierens" durch eine Vermutungsregel zu typisieren. Ihm erscheint dabei für den Regelfall ein Zeitraum von gut sechs Monaten, für den eine Verzögerungsrüge zurückwirkt, als angemessen und zumutbar. Gesetzliche Anhaltspunkte für diese Zeitspanne sind § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG, wonach eine Verzögerungsrüge frühestens nach sechs Monaten wiederholt werden kann, sowie § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG, wonach die Entschädigungsklage frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge einzureichen ist; diese muss zudem spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft im Ausgangsverfahren erhoben werden (§ 198 Abs. 5 Satz 2 GVG).
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Für einen Entschädigungskläger ist die hierin liegende Einschränkung der Rückwirkung auch deshalb zumutbar, weil nur sehr geringe Anforderungen daran gestellt werden, ein Verhalten oder eine Äußerung des Klägers als Verzögerungsrüge auszulegen (vgl. Senatsurteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 27). Auch ist der Zeitraum, innerhalb dessen der künftige Entschädigungskläger die Verzögerungsrüge treffen muss, durch deren begrenzte Rückwirkung nicht unzumutbar knapp bemessen: Zwar ist eine eindeutig zu früh erhobene Rüge unwirksam; für eine wirksame Rüge ist aber nicht Voraussetzung, dass objektiv schon eine Verzögerung eingetreten ist, sondern es genügt, dass die "Besorgnis der Gefährdung" besteht (so BTDrucks 17/3802, 20).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 i.V.m. § 155 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung.
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