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BFH 20.06.2012 - V R 56/10
BFH 20.06.2012 - V R 56/10 - Auslegung eines zeitlich nicht beschränkten Kindergeldantrags - Keine Berücksichtigung der späteren Änderung der Rechtslage - Bindung des BFH an die vom FG vorgenommene Auslegung von Willenserklärungen
Normen
§ 31 S 3 EStG 1997, § 66 Abs 2 S 1 EStG 1997, § 155 Abs 4 AO, § 169 Abs 2 S 1 Nr 2 AO, § 170 Abs 1 AO, § 171 Abs 3 AO, § 133 BGB, § 157 BGB, § 118 Abs 2 FGO
Vorinstanz
vorgehend FG Münster, 5. November 2009, Az: 11 K 4246/08 Kg, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Ein zeitlich nicht beschränkter Kindergeldantrag ist nach seinem objektiven Inhalt in der Regel dahin zu verstehen, dass die Festsetzung von Kindergeld für den längstmöglichen Zeitraum und somit auch für die Zeit vor der Antragstellung begehrt wird.
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2. NV: Aufgrund besonderer Umstände kann der Kindergeldantrag im Einzelfall abweichend dahin auszulegen sein, dass die Festsetzung ab dem Monat beantragt wird, in dem die zum Zeitpunkt der Antragstellung erforderlichen Voraussetzungen erstmals vorlagen.
Tatbestand
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I. Der aus Vietnam stammende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vater seiner 1986 und 1999 geborenen Kinder. Nachdem er von Januar 1996 bis Mai 2000 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis war, wurde ihm am 28. Juni 2000 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
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Am 13. Juli 2000 reichte der Kläger beim Beklagten und Revisionskläger (Familienkasse) auf dem --keine Eintragungen für eine zeitliche Einschränkung enthaltenden-- amtlichen Vordruck einen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld ein. Dem Antrag hatte er eine Kopie seiner ihm kurz vorher erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt. Die Familienkasse zahlte das Kindergeld aufgrund einer Kassenanordnung vom 19. Juli 2000 ab Juni 2000 aus, ohne dass ein ausdrücklicher Festsetzungsbescheid erging.
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Mit Schreiben vom 3. Juni 2008 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160) für den Zeitraum, in dem er nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügte, die Festsetzung von Kindergeld. Die Familienkasse lehnte eine nachträgliche Festsetzung mit Bescheid vom 24. Juni 2008 ab, da inzwischen Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Der nach erfolglosem Einspruch eingelegten Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2010, 489 veröffentlichten Urteil statt.
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Hiergegen wendet sich die Familienkasse mit der vom FG zugelassenen Revision, die sie auf Verletzung materiellen Rechts stützt. Die Festsetzungsfrist sei abgelaufen, da ein den Ablauf der Frist hemmender "Antragsrest" nach § 171 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) nicht vorliege. Für die Auslegung des Antrags sei der Kenntnisstand im Jahre 2000 maßgeblich.
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Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Er ist der Auffassung, dass es für die Auslegung des Kindergeldantrags nicht auf den Kenntnisstand des Jahres 2000 ankomme, sondern auf die Rechtslage nach der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 111, 160. Weder die Beifügung der Aufenthaltserlaubnis noch das Fehlen eines Einspruchs bedeuteten eine Einschränkung seines Antrags. Vielmehr sei der Wille zu unterstellen, für einen möglichst langen Zeitraum Kindergeld zu erhalten.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Auffassung des FG war der Anspruch auf Kindergeld bereits durch Verjährung erloschen (§ 47 AO), als der Kläger im Juni 2008 die nachträgliche Auszahlung von Kindergeld begehrte.
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1. Das Kindergeld wird nach § 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG) als Steuervergütung gezahlt. Auf Steuervergütungen sind nach § 155 Abs. 4 AO die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 177 AO) und damit auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO) sinngemäß anzuwenden.
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Die Festsetzungsfrist beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) und beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch auf die Steuervergütung entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Da der Anspruch auf Kindergeld für jeden Monat entsteht, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen haben (§ 66 Abs. 2 EStG), begann die Festsetzungsfrist für das in den Monaten Januar 1996 bis Mai 2000 zu zahlende Kindergeld mit Ablauf der Jahre 1996 bis 2000 und endete somit mit Ablauf der Jahre 2000 bis 2004.
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2. Der Ablauf der Verjährungsfrist wurde --entgegen der Ansicht des FG-- durch den im Juli 2000 gestellten Kindergeldantrag nicht nach § 171 Abs. 3 AO gehemmt. Der Antrag auf Kindergeld vom Juli 2000 kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Kläger auch für den Zeitraum Januar 1996 bis Mai 2000 Kindergeld begehrte.
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a) Nach dem Urteil des III. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 9. Februar 2012 III R 45/10 (BFH/NV 2012, 1048), dem sich der Senat anschließt, ist zwar ein zeitlich nicht beschränkter Antrag nach seinem objektiven Inhalt in der Regel dahin zu verstehen, dass die Festsetzung von Kindergeld für den längstmöglichen Zeitraum und somit auch für die Zeit vor der Antragstellung begehrt wird. Etwas anderes kann sich jedoch im Einzelfall durch Auslegung des Kindergeldantrags entsprechend §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ergeben, sofern er auslegungsbedürftig ist. Entscheidend ist danach, wie die Familienkasse als Erklärungsempfängerin einen Antrag nach seinem objektiven Erklärungswert verstehen musste (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 1048).
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b) Zwar obliegt die Auslegung von Willenserklärungen dem FG als Tatsacheninstanz; sie bindet den BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO, wenn sie den Grundsätzen der §§ 133, 157 BGB entspricht und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt, d.h. jedenfalls möglich ist (vgl. z.B. zur Vertragsauslegung BFH-Urteile vom 27. Januar 2011 V R 7/09, BFH/NV 2011, 1030; vom 25. Februar 2009 IX R 76/07, BFH/NV 2009, 1268). Sind allerdings die anerkannten Auslegungsregeln verletzt, so kann das Revisionsgericht, soweit weitere tatsächliche Feststellungen nicht mehr erforderlich sind, die Auslegung selbst vornehmen (BFH-Urteil vom 4. November 1997 VIII R 18/94, BFHE 184, 374, BStBl II 1999, 344).
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3. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann das Urteil des FG, dem die BFH-Entscheidung des III. Senats in BFH/NV 2012, 1048 noch nicht bekannt war, keinen Bestand haben.
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a) Das FG hat die anerkannten Auslegungsregeln verletzt, indem es nicht alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalls gewürdigt hat. Im Rahmen der Auslegung hat es zwar berücksichtigt, dass im amtlichen Vordruck keine Eintragungen für eine zeitliche Einschränkung des Kindergelds vorgesehen waren, nicht aber, welche Bedeutung der dem Kindergeldantrag in Kopie beigefügten Aufenthaltserlaubnis zukommt. Da die tatsächlichen Feststellungen des FG hierfür ausreichen, kann der Senat als Revisionsgericht die Auslegung selbst vornehmen.
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b) Nach seinem objektiven Erklärungsinhalt konnte der Kindergeldantrag vom 7. Juli 2000, bei der Familienkasse eingegangen am 13. Juli 2000, nur dahingehend verstanden werden, dass der Kläger die Festsetzung ab dem Monat begehrte, in dem er erstmals die ausländerrechtlichen Voraussetzungen erfüllte, die nach der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG vorliegen mussten. Hiernach hatte ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Der Kläger hatte seinem Kindergeldantrag eine Kopie der erst kurz zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt. Damit wollte er --wie der III. Senat in BFH/NV 2012, 1048 zu einem Parallelfall bereits entschieden hat-- offensichtlich gegenüber der Familienkasse zum Ausdruck bringen, dass nunmehr die ausländerrechtlichen Voraussetzungen für eine Kindergeldberechtigung erfüllt waren.
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c) Entgegen der Auffassung des Klägers kann für die Auslegung seines Antrags nicht auf die Rechtslage nach der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 111, 160 zurückgegriffen werden. Dabei handelt es sich um einen Umstand, der erst mehrere Jahre nach der Antragstellung zutage getreten ist und aus der maßgeblichen Sichtweise der Familienkasse als Erklärungsempfängerin bei der Auslegung noch nicht berücksichtigt werden konnte.
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