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BFH 21.10.2011 - VII B 69/11
BFH 21.10.2011 - VII B 69/11 - Auslegungsfähigkeit einer Klagerücknahme - Urteil trotz Klagerücknahme hat keine Rechtswirkung - Urteilsaufhebung - Zeitpunkt der Wirksamkeit einer Klagerücknahme bei Faxübermittlung
Normen
§ 72 FGO, § 133 BGB, § 116 Abs 6 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 23. März 2011, Az: 2 K 3225/09, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Die Klagerücknahme ist eine prozessuale Willenserklärung, die einer Auslegung zugänglich ist .
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2. NV: Ergeht ein Urteil, obwohl die Klage noch vor dem Beginn der mündlichen Verhandlung wirksam zurückgenommen worden ist, kann dieses keine Rechtswirkung entfalten; aus Gründen der Rechtssicherheit ist es aufzuheben .
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) machte gegenüber dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) einen Zahlungsanspruch aufgrund einer ihrer Ansicht nach rechtsgrundlosen Pfändung geltend. Zur Begründung ihres Begehrens berief sie sich auf einen Aufteilungsbescheid. Das FA erkannte den geltend gemachten Anspruch nicht an, worauf die Klägerin Klage erhob. Mit Beschluss des Finanzgerichts (FG) vom 1. Februar 2011 wurde der Rechtsstreit auf einen Einzelrichter übertragen. Unter Hinweis darauf, dass sich die Klage als unzulässig erweisen dürfte, riet der Berichterstatter der Klägerin in seinem Schreiben vom 1. Februar 2011 die Klage zurückzunehmen. Am Tag der mündlichen Verhandlung übermittelte die Klägerin dem FG ein Fax, in dem sie ausführte, die Klage werde im Hinblick auf die zwar unzutreffenden, aber ja leider nicht anfechtbaren Ausführungen des Gerichts vom 1. Februar 2011 im Falle einer Entscheidung zurückgenommen. Das Fax ging um 08:30 Uhr beim FG ein. Dennoch wurde die auf 10:30 Uhr terminierte mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Klägerin durchgeführt. Wie bereits angekündigt, wies das FG die Klage als unzulässig ab. Mit Schreiben vom 24. März 2011 wies der Berichterstatter die Klägerin darauf hin, die Klagerücknahme entfalte als bedingte Prozesserklärung keine rechtliche Wirkung und die Sache sei zwischenzeitlich durch Urteil vom 23. März 2011 entschieden worden.
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Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zur Begründung beruft sie sich auf eine Gehörsverletzung. Das FG habe den Rechtsstreit auf einen Einzelrichter übertragen, ohne ihr zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme bzw. Zustimmung zu geben. Darüber hinaus habe das FG zu Unrecht eine bedingte Klagerücknahme angenommen. Im Urteil sei das FG mit keinem Wort auf die für unwirksam gehaltene Prozesserklärung eingegangen. Da von einer wirksamen Klagerücknahme auszugehen sei, hätte das FG das angefochtene Urteil nicht erlassen dürfen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Die Klägerin hat die Klage wirksam zurückgenommen, so dass deren Rechtshängigkeit rückwirkend beseitigt worden ist. Das Urteil des FG ist daher ohne Rechtswirkung; es hätte nicht ergehen dürfen.
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1. Entgegen der Auffassung des FG ist die Mitteilung der Klägerin vom 23. März 2011 als wirksame Klagerücknahme zu deuten. Als prozessuale Willenserklärung ist die Klagerücknahme unter Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs einer Auslegung zugänglich (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. April 1981 II R 38/79, BFHE 133, 151, BStBl II 1981, 532, und vom 6. Februar 1979 VII R 82/78, BFHE 127, 135, BStBl II 1979, 374). Dabei ist nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern es ist der in der Erklärung verkörperte wirkliche Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln. Aus der Mitteilung der Klägerin ging eindeutig ihr Wille hervor, den Rechtsstreit durch Rücknahme der vom FG zuvor als unzulässig erachteten Klage zu beenden. Die Wendung "im Falle einer Entscheidung" bezieht sich erkennbar auf die Ausführungen des FG im Schreiben vom 1. Februar 2011, in dem der Berichterstatter darauf hingewiesen hat, "dass sich die vorliegende Klage als unzulässig erweisen dürfte". Nach diesem klaren Hinweis musste die Klägerin für den Fall einer gerichtlichen Entscheidung von einer Abweisung der Klage als unzulässig ausgehen. Demzufolge sah sie sich --im Hinblick auf die zu erwartenden Ausführungen des FG im Falle einer Entscheidung-- zur Rücknahme der Klage veranlasst. Unter prozessualen Gesichtspunkten würde eine andere Deutung ihrer Willensbekundung zu einem unverständlichen Ergebnis führen. Es ist nämlich kein unmittelbar einleuchtender Grund ersichtlich, warum sie sich nur für den Fall eines nach Durchführung der mündlichen Verhandlung ergangenen Urteils die Rücknahme der Klage vorbehalten sollte. Bei verständiger Würdigung des objektiven Erklärungsinhalts ihrer Mitteilung vom 23. März 2011 ist daher von einer Rücknahme der Klage auszugehen, die mit Zugang des Faxes beim FG wirksam geworden ist (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 72 Rz 5). Bei diesem Befund kommt es auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme durch den Einzelrichter nicht an.
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2. Aufgrund der wirksamen Rücknahme der Klage noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung ist das Verfahren als nicht anhängig geworden zu betrachten. Infolgedessen kann das dennoch ergangene Urteil des FG keine Rechtswirkungen entfalten. Aus Gründen der Rechtssicherheit hält der Senat seine Aufhebung für angebracht. Ein Urteil, das schon aus formalen Gründen nicht hätte erlassen werden dürfen, kann unmittelbar im Rahmen der Entscheidung über eine Nichtzulassungsbeschwerde aufgehoben werden (BFH-Beschluss vom 30. Dezember 2008 I B 171/08, BFH/NV 2009, 949). Die Sache ist an das FG zurückzugeben, um diesem unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats eine Beschlussfassung nach § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO zu ermöglichen.
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3. Da das angefochtene Urteil bereits aus den genannten Gründen wirkungslos ist, kann es dahingestellt bleiben, ob das FG verfahrensfehlerhaft vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter von einer Anhörung der Klägerin abgesehen hat. Jedenfalls könnte das Schreiben vom 23. März 2011, in dem die Klägerin die nunmehr mit der Beschwerde vorgebrachten Einwände nicht geltend gemacht hat, als rügelose Einlassung gedeutet werden, die der Geltendmachung des Verfahrensmangels entgegenstünde.
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