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BFH 19.04.2011 - VII B 234/10
BFH 19.04.2011 - VII B 234/10 - AdV eines Einfuhrabgabenbescheids für in den aktiven Veredelungsverkehr übergeführte Waren bei nach Insolvenzeröffnung abgelaufener Veredelungsfrist
Normen
Art 244 UAbs 2 ZK, Art 244 UAbs 3 ZK, Art 546 UAbs 1 ZKDV, § 38 InsO, § 55 Abs 1 Nr 1 InsO, § 69 Abs 3 FGO, Art 244 UAbs 2 EWGV 2913/92, Art 244 UAbs 3 EWGV 2913/92, Art 546 UAbs 1 EWGV 2454/93
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 8. Juni 2010, Az: 7 V 688/10, Beschluss
Leitsatz
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NV: Es bestehen begründete Zweifel, ob eine Zollschuld, welche im Verfahren der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren mit dem Ablauf der Frist für die Beendigung des Verfahrens für bis dahin nicht zu einem Zollverfahren angemeldete Veredelungserzeugnisse oder unveränderte Waren entsteht, insolvenzrechtlich als bereits zu einem früheren Zeitpunkt begründet anzusehen ist, nämlich mit dem Verbringen der Waren in das Zollgebiet der Union oder ihrer Überführung in den aktiven Veredelungsverkehr .
Tatbestand
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I. Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) ist Insolvenzverwalter in dem am 1. Dezember 2009 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Fa. X (Schuldnerin). Diese war Inhaber von Bewilligungen für aktive Veredelungsverkehre, in denen die Überführung der Hauptveredelungserzeugnisse und unveredelt gebliebener Einfuhrwaren in den freien Verkehr ohne Zollanmeldung global zugelassen war. Für die im vierten Quartal 2008 in den aktiven Veredelungsverkehr übergeführten Einfuhrwaren lief die Frist für die Beendigung des Verfahrens mit dem 31. Dezember 2009 ab. Soweit für diese Waren keine Zollanmeldungen zur Überführung in ein Zollverfahren abgegeben worden waren, setzte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Hauptzollamt --HZA--) mit Bescheid vom 2. Februar 2010 unter Zugrundelegung einer für die Schuldnerin abgegebenen Abgabenberechnung Einfuhrabgaben (Zoll, Einfuhrumsatzsteuer und Ausgleichszinsen) fest. Über den hiergegen vom Antragsteller erhobenen Einspruch ist noch nicht entschieden. Den zugleich gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das HZA ab. Die festgesetzten Einfuhrabgaben wurden entrichtet.
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Auch der beim Finanzgericht (FG) gestellte Antrag auf Aufhebung der Vollziehung hatte keinen Erfolg. Das FG entschied, dass die Einfuhrabgabenschuld durch Überführung der Waren in den zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art. 546 der Zollkodex-Durchführungsverordnung --ZKDVO-- (hinsichtlich der Einfuhrumsatzsteuer i.V.m. § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes) entstanden sei; die Festsetzung von Ausgleichszinsen beruhe auf Art. 519 ZKDVO. Diese Einfuhrabgabenschuld habe durch Bescheid festgesetzt werden dürfen, weil sie als Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 der Insolvenzordnung (InsO) anzusehen sei. Eine Einfuhrabgabenforderung sei erst dann insolvenzrechtlich "begründet", wenn der Beteiligte die für die Überführung der Ware in den zollrechtlich freien Verkehr erforderlichen Einfuhrförmlichkeiten erfüllt habe. Im Streitfall habe es einer Zollanmeldung allerdings nicht bedurft, weil die im aktiven Veredelungsverkehr befindlichen Veredelungserzeugnisse bzw. unveränderten Waren keine zollrechtliche Bestimmung erhalten hätten und somit gemäß Art. 546 Unterabs. 1 ZKDVO als mit dem Ablauf der Frist für die Beendigung des Verfahrens in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt gälten. Der Begriff der "Handlung des Insolvenzverwalters" i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sei weit zu verstehen und umfasse auch Unterlassungen im Rahmen seines Amtes.
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Mit seiner Beschwerde vertritt der Antragsteller weiterhin die Ansicht, dass die Einfuhrabgabenforderung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, nämlich mit der Überführung der betreffenden Ware in das Zollverfahren der aktiven Veredelung i.S. des § 38 InsO "begründet" worden sei, denn der Rechtsgrund für die Entstehung der Einfuhrabgabenschuld bei Beendigung des Verfahrens werde bereits mit der Überführung der Ware in das Verfahren gelegt. Im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hätten im Übrigen die in das aktive Veredelungsverfahren übergeführten Waren teilweise gar nicht mehr zu seiner (des Antragstellers) Verfügung gestanden, sondern seien bereits durch Verbrauch oder Veräußerung dem Vermögen der Schuldnerin entzogen gewesen.
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Das HZA verweist darauf, dass der Antragsteller nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Rahmen der Fortführung des Unternehmens die Möglichkeit gehabt habe, dem Vermögen der Schuldnerin äquivalente Gemeinschaftswaren zuzuführen und die aktiven Veredelungsverkehre durch Wiederausfuhr der buchmäßig offenen Warenmengen ordnungsgemäß zu beenden.
Entscheidungsgründe
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II. Die nach § 128 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) statthafte Beschwerde ist begründet; die Voraussetzungen des § 69 Abs. 3 FGO i.V.m. Art. 244 Unterabs. 2 des Zollkodex (ZK) für die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Einfuhrabgabenbescheids liegen vor. Art. 244 ZK gibt zwar nur den Zollbehörden die Befugnis, den Vollzug einer angefochtenen Entscheidung auszusetzen; jedoch schränkt die Vorschrift nicht die Befugnis der mit einem Rechtsbehelf befassten Gerichte ein, eine solche Aussetzung anzuordnen (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- vom 11. Januar 2001 C-226/99 --Siples--, Slg. 2001, I-277, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern --ZfZ-- 2001, 119). Da § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO die sinngemäße Anwendung der im Verwaltungsverfahren geltenden Regeln vorschreibt, findet Art. 244 Unterabs. 2 ZK auch im gerichtlichen Aussetzungsverfahren Anwendung (Senatsbeschluss vom 22. November 1994 VII B 140/94, BFHE 176, 170, ZfZ 1995, 110). Danach setzen die Zollbehörden die Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.
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1. Im Streitfall bestehen begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einfuhrabgabenbescheids vom 2. Februar 2010. Zweifelhaft ist, ob es sich bei der festgesetzten Einfuhrabgabenforderung um eine Insolvenzforderung handelt. In diesem Fall wäre eine Abgabenfestsetzung durch Bescheid nicht zulässig; vielmehr müsste das HZA seine Abgabenforderung nach den Regeln der InsO geltend machen (vgl. Senatsurteil vom 4. Mai 2004 VII R 45/03, BFHE 205, 409, BStBl II 2004, 815, m.w.N.). Der angefochtene Einfuhrabgabenbescheid wäre unwirksam und aus Gründen der Klarstellung im Einspruchsverfahren bzw. in einem gerichtlichen Verfahren aufzuheben.
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Die Insolvenzmasse dient gemäß § 38 InsO zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Im Insolvenzverfahren des Abgabenpflichtigen kommt es danach hinsichtlich der Frage, ob eine gegen ihn bestehende Abgabenforderung eine Insolvenzforderung ist, nicht darauf an, ob der Anspruch zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im abgabenrechtlichen Sinn bereits entstanden war, sondern darauf, ob in diesem Zeitpunkt nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Anspruch bereits gelegt war. Eine Abgabenforderung ist daher immer dann Insolvenzforderung i.S. des § 38 InsO, wenn sie vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Weise "begründet" worden ist, dass der zugrunde liegende Sachverhalt, der zur Entstehung der Abgabenforderung führt, bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden ist (ständige Rechtsprechung: vgl. Senatsurteile vom 16. November 2004 VII R 75/03, BFHE 208, 296, BStBl II 2006, 193, und vom 31. Mai 2005 VII R 74/04, BFH/NV 2005, 1745, jeweils m.w.N.). Entscheidend ist der Zeitpunkt, in dem die Abgabenforderung "ihrem Kern nach" entstanden ist, weshalb sie auch schon dann als insolvenzrechtlich "begründet" anzusehen ist, wenn --wie z.B. bei einer aufschiebenden Bedingung-- im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung zur abgabenrechtlichen Entstehung noch ein ungewisses künftiges Ereignis fehlt (Senatsurteil vom 21. September 1993 VII R 119/91, BFHE 172, 308, BStBl II 1994, 83).
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2. Werden Nichtgemeinschaftswaren in das Zollgebiet der Union verbracht, führt dies zwar nicht in jedem Fall zur Festsetzung von Einfuhrabgaben. Kommt es jedoch zur Festsetzung von Einfuhrabgaben, sind immer zuvor die Waren, auf welche sich die Abgabenfestsetzung bezieht, in das Zollgebiet der Union verbracht worden. Die Einfuhrabgabenfestsetzung wird also stets durch das Verbringen von Nichtgemeinschaftswaren in das Zollgebiet ausgelöst.
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Es kommt deshalb in Betracht, eine Einfuhrabgabenforderung bereits mit dem Verbringen der jeweiligen Ware in das Zollgebiet der Union als insolvenzrechtlich "begründet" anzusehen. Wird die vorschriftsgemäß verbrachte Ware in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt, bedarf es zwar zur Entstehung der Zollschuld weiterer Realakte und Rechtshandlungen, wie der Gestellung, der Zollanmeldung und der Annahme der Zollanmeldung (Art. 201 Abs. 2 ZK); hierbei handelt es sich jedoch um rein abgabenrechtliche Voraussetzungen der Zollschuldentstehung, auf die es insolvenzrechtlich nicht unbedingt ankommen muss. Auch wenn die Ware nicht zum freien Verkehr, sondern zu einem Nichterhebungsverfahren wie z.B. der vorübergehenden Verwendung oder --wie im Streitfall-- der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren, angemeldet wird, kommt es in Betracht, die Entstehung der Einfuhrabgabenschuld als --wegen beabsichtigter Wiederausfuhr-- nur vorläufig ausgesetzt oder aufgeschoben, jedoch bereits mit dem Verbringen der Ware oder ihrer Überführung in das Nichterhebungsverfahren als "ihrem Kern nach" entstanden anzusehen, lediglich unter der aufschiebenden Bedingung stehend, dass die Ware der zollamtlichen Überwachung nicht entzogen wird (Art. 203 ZK) bzw. es zur fristgerechten Wiederausfuhr der Ware nicht kommt oder andere Verfahrenspflichten verletzt werden (Art. 204 ZK). Für diese Betrachtungsweise spricht, dass im Fall einer durch den Eintritt der aufschiebenden Bedingung "verspäteten" Zollschuldentstehung im Verfahren der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren oder der vorübergehenden Verwendung der Betrag der Zollschuld anhand der Bemessungsgrundlagen festgesetzt wird, die im Zeitpunkt der Annahme der Anmeldung zur Überführung der Waren in die aktive Veredelung bzw. die vorübergehende Verwendung maßgebend waren (Art. 121, Art. 144 ZK), und dass gemäß Art. 214 Abs. 3 ZK i.V.m. Art. 519 ZKDVO Ausgleichszinsen erhoben werden (vgl. auch zur Ermittlung des Zollwerts bei Lagerwaren: Art. 112 ZK).
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3. Nach § 69 Abs. 3 FGO i.V.m. Art. 244 Unterabs. 3 Satz 1 ZK ist die Aufhebung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen. Die Sicherheit ist in Höhe des Betrags der Einfuhrabgabenschuld festzusetzen (EuGH-Urteil vom 17. Juli 1997 C-130/95 --Giloy--, Slg. 1997, I-4291, ZfZ 1997, 335). Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Voraussetzungen des Art. 244 Unterabs. 3 Satz 2 ZK für ein Absehen von der Sicherheitsleistung oder für ihre Reduktion (vgl. EuGH-Urteil in Slg. 1997, I-4291, ZfZ 1997, 335) im Streitfall vorliegen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich, zumal die festgesetzten Einfuhrabgaben bereits entrichtet worden sind.
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