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BSG 16.02.2022 - B 8 SO 96/20 B
BSG 16.02.2022 - B 8 SO 96/20 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - vorherige Anhörung der Beteiligten - Entscheidung vor Ablauf der Anhörungsfrist - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter - absoluter Revisionsgrund
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Ulm, 17. September 2020, Az: S 13 SO 1282/20, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 24. November 2020, Az: L 2 SO 3281/20, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. November 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit steht die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für das Jahr 2017.
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Der Beklagte gewährte dem alleinstehenden Kläger, der eine mit Strom beheizte Wohnung bewohnt, für das Jahr 2017 Grundsicherungsleistungen unter Zugrundelegung eines Regelbedarfs abzüglich eines Anteils für Haushaltsenergie sowie Kosten der Unterkunft (KdU), wobei für die Monate Februar, März und ab April eine zusätzliche Heizkostenpauschale berücksichtigt wurde (Bescheide vom 27.12.2016 sowie vom 10.1.2017 und 28.3.2017; Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018). Die Klage, mit der der Kläger höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines erhöhten Regelbedarfs (erhöhte Kosten für Bekleidung, Bettwäsche, Pflege- und Reinigungsmittel), höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung begehrt, blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts <SG> Ulm vom 17.9.2020). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat mit Schreiben vom 4.11.2020 (abgesandt am 9.11.2020) die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens 25.11.2020 Stellung zu nehmen. Es hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Beschluss vom 24.11.2020) und zur Begründung ua ausgeführt, dass das angefochtene Urteil des SG sowie die angegriffenen Bescheide des Beklagten rechtmäßig seien und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzten. Der Senat schließe sich den Entscheidungsgründen des SG nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage uneingeschränkt an und sehe gemäß § 153 Abs 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), weil das LSG den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>) verletzt habe, indem es die Entscheidung durch Beschluss noch vor Ablauf der gesetzten Frist getroffen und zugleich den Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt habe (Art 101 Abs 1 GG) sowie im Übrigen seiner Sachaufklärungspflicht nicht genügt und damit den Untersuchungsgrundsatz (§ 103 SGG) verletzt habe.
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II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG vom 24.11.2020 ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG sowie eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Wenn ein Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung binnen einer bestimmten Frist setzt, verlangt das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich, dass das Gericht den Ablauf der Äußerungsfrist abwartet, bevor es entscheidet (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom 30.6.1976 - 2 BvR 164/76 - BVerfGE 42, 243, 247; Bundessozialgericht <BSG> vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B - RdNr 8; BSG vom 12.10.2016 - B 11 AL 48/16 B - RdNr 7 mwN). Dies gilt auch dann, wenn dem Gericht die Sache entscheidungsreif erscheint (BVerfG vom 24.1.1961 - 2 BvR 402/60 - BVerfGE 12, 110, 113).
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Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des LSG vom 24.11.2020, mit dem das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, nicht. Das LSG hat mit Schreiben vom 4.11.2020 die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 SGG hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens 25.11.2020 Stellung zu nehmen. Es kann offenbleiben, ob mit einer Frist, die bei Absendung des Schreibens erst am 9.11.2020 und unter Zugrundelegung der üblichen Postlaufzeiten (zum und vom Kläger) zwei Wochen kaum erreicht haben dürfte, dem Anhörungserfordernis nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG genüge getan ist (vgl dazu Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 153 RdNr 109 mwN zum Streitstand). Jedenfalls durfte der Kläger darauf vertrauen, dass vor Ablauf des 25.11.2020 eine Entscheidung des LSG nicht ergehen würde. Der im Parallelverfahren (Az: L 2 SO 3298/20) mandatierte Rechtsanwalt hat entsprechend im Nachgang mitgeteilt, wegen der Vertretung in vorliegenden Verfahren noch Rücksprache mit dem Kläger halten zu müssen.
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Vor Ablauf der vom Gericht gesetzten Anhörungsfrist darf das Gericht nicht entscheiden (BSG vom 12.10.2016 - B 11 AL 48/16 B - RdNr 7; BSG vom 11.5.1995 - 2 RU 43/94 - HVBG-INFO 1995, 2372). Ausnahmsweise muss es den Ablauf der von ihm gesetzten, angemessenen Frist zur Stellungnahme nur dann nicht abwarten, wenn ein Beteiligter sich vor Fristablauf abschließend geäußert hat (BSG vom 12.10.2016 - B 11 AL 48/16 B - RdNr 7 mwN; BSG vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B - RdNr 8) und weitere Stellungnahmen nach Lage der Dinge nicht zu erwarten sind (BSG vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B - RdNr 8; Roller in Berchtold, SGG, 6. Aufl 2021, § 105 RdNr 8; Hauck in Hennig, SGG, § 105 RdNr 51, Stand Mai 2018). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
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Dadurch, dass das LSG vor Ablauf der von ihm gesetzten Anhörungsfrist entschieden hat, hat es § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verletzt. Diese Situation ist vergleichbar mit einer unterbliebenen Anhörung (BSG vom 24.2.2016 - B 13 R 341/15 B - RdNr 6; BSG vom 31.3.2017 - B 12 KR 28/16 B - RdNr 9; BSG vom 27.1.2021 - B 14 AS 346/19 B - RdNr 6). Der darin liegende Anhörungsmangel ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung <ZPO>), bei dem das Beruhen der Entscheidung auf dem Verfahrensfehler vermutet wird. Der in einer unterbliebenen Anhörung liegende Verfahrensfehler führt nicht nur zu einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör, sondern auch zu einer unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (nur mit Berufsrichtern) und damit zu einer Verletzung des Rechts des Klägers auf den gesetzlichen Richter (vgl zuletzt BSG vom 27.1.2021 - B 14 AS 346/19 B - RdNr 6 mwN; kritisch zum Ganzen, Sommer in BeckOGK, Stand November 2021, § 153 RdNr 45; Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 153 RdNr 137).
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Krauß Scholz Bieresborn
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