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BVerfG 06.08.2014 - 2 BvR 1340/14
BVerfG 06.08.2014 - 2 BvR 1340/14 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Aussetzung der Zwangsräumung eines Wohnhauses wegen Suizidgefahr des Räumungsschuldners - Versagung von Vollstreckungsschutz verletzt Art 2 Abs 2 S 1 GG - unzureichende fachgerichtliche Sachaufklärung - teilweise Nichtannahme wegen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
Normen
Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 765a Abs 3 ZPO, § 885 Abs 1 S 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend LG München I, 14. Mai 2014, Az: 20 T 7698/14, Beschluss
vorgehend AG München, 15. April 2014, Az: 1520 K 287/11, Beschluss
vorgehend AG München, 25. März 2014, Az: 1520 K 287/11, Beschluss
vorgehend BVerfG, 9. Juli 2014, Az: 2 BvR 1340/14, Einstweilige Anordnung
Tenor
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1. Der Beschluss des Landgerichts München I vom 14. Mai 2014 - 20 T 7698/14 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München I zurückverwiesen.
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2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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3. Die Räumungsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts München vom 25. März 2014 - 1520 K 287/11 - wird bis zum 31. Oktober 2014, längstens bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts über den Antrag der Beschwerdeführerin gemäß § 765a ZPO, ausgesetzt.
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4. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen einschließlich der im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Vollstreckungsschutz in einem Zwangsversteigerungsverfahren.
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1. Die 80jährige Beschwerdeführerin war Eigentümerin eines von ihr und ihrer Familie bewohnten Hausgrundstücks, das auf Betreiben verschiedener Gläubiger zwangsversteigert werden sollte. Mit Antrag vom 21. März 2014 stellte sie, vertreten durch ihre Tochter, unter Vorlage eines ärztlichen Attests vom 19. März 2014 einen Antrag auf einstweilige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens gemäß § 765a ZPO. In dem Attest heißt es:
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"[Die Beschwerdeführerin] leidet unter einer schweren Polymyalgie, die trotz entsprechender Medikation zu chronischen Schmerzen und Entwicklung einer depressiven Verstimmung geführt hat. Nebenbefundlich besteht eine inzwischen medikamentös gut eingestellte Arterielle Hypertonie sowie als Folge hiervon ein ausgedehntes Aneurysma der Bauchaorta. Aufgrund der erheblichen finanziellen Sorgen und der unmittelbar bevorstehenden Zwangsversteigerung ihres Hauses besteht bei [der Beschwerdeführerin] die unmittelbare Sorge vor einer weiteren Verschlechterung Ihres Gesundheitszustandes. Hierbei sind insbesondere lebensbedrohliche Entgleisungen des Bluthochdrucks mit der potentiellen Gefahr der tödlich verlaufenden Ruptur des Bauchaortenaneurysma[s] sowie eine Zunahme der depressiven Stimmungslage mit Eigengefährdung zu befürchten. Im gesundheitlichen Interesse der Patientin und im Sinne einer die Verhältnismäßigkeit beachtenden Güterabwägung ist insofern der Vollzug der Zwangsvollstreckung unbedingt zu vermeiden."
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2. Im Versteigerungstermin am 25. März 2014 wurde der Vollstreckungsschutzantrag verlesen. Die Rechtspflegerin wies darauf hin, sie sehe sich nicht an der Zuschlagserteilung gehindert, weil die vorgebrachten Gründe erst in einem eventuell anschließenden Räumungsverfahren zum Tragen kämen. Sodann wurde der Zuschlag durch den angegriffenen Beschluss vom 25. März 2014 erteilt.
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3. Mit der sofortigen Beschwerde vom 11. April 2014 wandte sich die Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Tochter, gegen den Zuschlagsbeschluss und machte geltend, das Amtsgericht habe die bestehende akute Lebensgefahr nicht berücksichtigt. Um die Beschwerdeführerin zu schützen, habe sie - die bevollmächtigte Tochter - dieser mitgeteilt, ein Freund habe das Haus ersteigert, so dass es nicht zu einer Räumung kommen werde.
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4. Mit Beschluss vom 14. Mai 2014, der Beschwerdeführerin zugestellt am 17. Mai 2014, wies das Landgericht München I die sofortige Beschwerde zurück. Zur Begründung führte es aus, ein das Zuschlagsverfahren betreffender Beschwerdegrund läge dann vor, wenn der Zuschlag gemäß § 83 Nr. 6 ZVG wegen Unzulässigkeit der Zwangsversteigerung oder der Fortsetzung des Verfahrens zu versagen gewesen wäre. Die Vorschrift wäre verletzt, wenn ein im Zeitpunkt der Zuschlagsentscheidung vorliegender Antrag aus § 765a ZPO zu Unrecht abgelehnt worden wäre. Eine ganz besondere Härte, die mit den guten Sitten nicht vereinbar sei, sei durch den Zuschlagsbeschluss jedoch nicht geschaffen worden. Hinsichtlich der vom Arzt festgestellten Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Entgleisung des Bluthochdrucks vermöge das Gericht zwar mangels medizinischer Sachkunde die unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit weder zu bejahen noch zu verneinen. Maßgeblich sei jedoch, ob die Lebensgefahr von dem mit der Zuschlagserteilung verbundenen Eigentumsverlust ausgehe. Ausweislich des vorgelegten Attests sei der Vollzug der Zwangsvollstreckung zu vermeiden und ausweislich der Beschwerdebegründung sei nicht der Eigentumsverlust als solcher ("Notlüge" der Ersteigerung durch einen Freund), sondern die Sorge wegen einer Zwangsräumung auslösendes Moment. Damit sei nicht nachvollziehbar, dass (schon) der mit der Zuschlagserteilung einhergehende Eigentumsverlust eine unmittelbare Lebensgefahr begründe.
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5. Mit der am 16. Juni 2014 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 1 GG.
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6. Der Ersteher und die Vollstreckungsgläubiger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Ein Gläubiger hat die Auffassung vertreten, es liege keine ordnungsgemäße Bevollmächtigung des Prozessvertreters der Beschwerdeführerin vor. Zwei der Gläubiger haben auf ihre aus der Gläubigerstellung folgenden Rechte hingewiesen. Das Bayerische Ministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens waren beigezogen.
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II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden und die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.
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a) Die Beschwerdeführerin hat die ordnungsgemäße Bevollmächtigung ihres Prozessvertreters durch Vorlage des Originals der Vollmacht, die sich ausdrücklich auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bezieht, nachgewiesen (§ 22 Abs. 2 BVerfGG). Dass sie aufgrund der Angaben ihrer Tochter über die Person des Erstehers des zwangsversteigerten Hausgrundstücks im Irrtum ist, steht der Wirksamkeit der erteilten Vollmacht und der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen den Zuschlagsbeschluss nicht entgegen.
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b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Der Beschluss des Landgerichts vom 14. Mai 2014 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
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aa) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen (vgl. BVerfGE 52, 214 219 f.>; BVerfGK 6, 5 10>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2014 - 2 BvR 2457/13 -, juris, Rn. 9).
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Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird. Dies kann es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners, ihm drohten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, besonders sorgfältig nachgegangen wird (vgl. BVerfGE 52, 214 220 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2014 - 2 BvR 2457/13 -, juris, Rn. 10).
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bb) Nach diesen Maßstäben ist der Beschluss des Landgerichts München I vom 14. Mai 2014 mit dem Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht zu vereinbaren (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
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Das Landgericht ist seiner Pflicht, den Sachverhalt sorgfältig aufzuklären, nicht hinreichend nachgekommen. Es stellt selbst fest, dass es hinsichtlich der vom behandelnden Arzt für möglich gehaltenen lebensbedrohlichen Entgleisung des Bluthochdrucks mangels medizinischer Sachkunde zur Annahme von Wahrscheinlichkeiten bei Stresssituationen eine unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschwerdeführerin weder bejahen noch verneinen könne. Seine Erwägung, eine solche Gefahr werde jedenfalls nicht schon durch den Zuschlagsbeschluss, sondern allenfalls durch eine anschließende Zwangsräumung begründet, weil nach dem ärztlichen Attest nur "der Vollzug der Zwangsvollstreckung" zu vermeiden sei, lässt wesentliche Inhalte des Attestes unberücksichtigt. Danach bestand schon aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Zwangsversteigerung die Sorge vor einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes durch lebensbedrohliche Entgleisungen des Bluthochdrucks mit der potentiellen Gefahr einer tödlich verlaufenden Ruptur des Bauchaortenaneurysmas sowie durch eine Zunahme der depressiven Stimmungslage mit Eigengefährdung. Ohne weitere Aufklärung hätte das Landgericht deshalb eine Lebensgefahr durch die Zuschlagserteilung nicht lediglich unter Hinweis auf die in dem letzten Satz des Attests enthaltene unklare Formulierung und die von der Tochter der Beschwerdeführerin zur Milderung der durch den Zuschlag geschaffenen Stresssituation gewählte Notlüge verneinen dürfen.
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2. Der Beschluss des Landgerichts München I vom 14. Mai 2014 ist wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Es kann daher dahinstehen, ob die Entscheidung des Landgerichts die Beschwerdeführerin auch in ihren Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
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3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Aufgrund der Zurückverweisung der Sache an das Landgericht steht der Rechtsweg zur Entscheidung über die verfassungsrechtlichen Einwendungen gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts wieder offen, so dass die Verfassungsbeschwerde insoweit nach dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität nicht zur Entscheidung anzunehmen war (vgl. BVerfGK 7, 350 357>; 15, 37 53>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. September 2003 - 1 BvR 1920/03 -, juris, Rn. 16). Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
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4. Da allein die Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts noch nicht zu einer Unwirksamkeit des Zuschlagsbeschlusses führt, ist die befristete Aussetzung der Räumungsvollstreckung aus dem Beschluss (§ 93 Abs. 1 ZVG) bis zum Erlass einer erneuten Entscheidung des Landgerichts anzuordnen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juni 2005 - 1 BvR 224/05 -, juris, Rn. 26).
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5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG.
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