betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 13. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2011, in dem Verfahren
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, L. Bay Larsen, T. von Danwitz und A. Rosas (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin M. Berger, der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter J.-J. Kasel, M. Safjan und D. Šváby,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. November 2012,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2013
Einschlägige Bestimmungen des deutschen Rechts zu dem für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt
Im Oktober 2007 beantragte Frau Demirkan, eine 1993 geborene türkische Staatsangehörige, bei der deutschen Botschaft in Ankara (Türkei) die Erteilung eines Visums, um ihren Stiefvater, einen in Deutschland lebenden deutschen Staatsbürger, besuchen zu können. Nach der Ablehnung dieses Antrags erhob sie Klage beim Verwaltungsgericht Berlin.
Vor dem Verwaltungsgericht beantragte Frau Demirkan die Feststellung ihres Rechts auf visumfreie Einreise in das Bundesgebiet. Hilfsweise beantragte sie die Aufhebung der Ablehnung ihres Visumsantrags und die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Erteilung eines Besuchsvisums.
Nach Ansicht von Frau Demirkan ergibt sich aus der Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, dass sie kein Visum für den beabsichtigten Besuch bei ihrem Stiefvater in Deutschland benötige. Da ein solcher Familienbesuch stets den Aspekt der Entgegennahme von Dienstleistungen umfasse, habe sie als Empfängerin von Dienstleistungen Anspruch auf Erteilung des beantragten Touristenvisums. Als das Zusatzprotokoll für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sei, seien türkische Staatsangehörige nach dem innerstaatlichem Recht dieses Mitgliedstaats von der Pflicht, bei der Einreise in das Bundesgebiet über einen Aufenthaltstitel zu verfügen, befreit gewesen, wenn sie sich dort nicht länger als drei Monate hätten aufhalten und keine Erwerbstätigkeit hätten ausüben wollen.
Mit Urteil vom 22. Oktober 2009 wies das Verwaltungsgericht Berlin diese Klage mit der Begründung ab, Frau Demirkan stehe kein Recht auf visumfreie Einreise in das Bundesgebiet zu. Insbesondere könne sie sich nicht auf die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel berufen, da diese Klausel auf die begehrte Erlaubnis für einen Familienbesuchsaufenthalt keine Anwendung finde. Die Stillhalteklausel habe keine allgemeine, von jeder wirtschaftlichen Betätigung unabhängige Freizügigkeit türkischer Staatsangehöriger festgeschrieben.
Frau Demirkan legte gegen dieses Urteil Berufung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein.
Dieses Gericht führt erstens aus, Frau Demirkan benötige für die Einreise in das Bundesgebiet sowohl nach nationalem Recht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) als auch nach Unionsrecht (Art. 1 Abs. 1 und Anhang I der Verordnung Nr. 539/2001) ein Visum. Ein Recht von Frau Demirkan auf visumfreie Einreise könnte sich demnach nur aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ergeben.
Zweitens sei am 1. Januar 1973, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls für die Bundesrepublik Deutschland, ein Familienbesuchsaufenthalt wie der von Frau Demirkan beantragte nach deutschem Recht nicht visumpflichtig gewesen. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere dem Urteil vom 19. Februar 2009, Soysal und Savatli (C-228/06, Slg. 2009, I-1031), sei jedoch nicht zu entnehmen, ob sich das in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls verankerte Verbot neuer Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs auch auf die sogenannte passive Dienstleistungsfreiheit erstrecke, d. h. die Freiheit von Dienstleistungsempfängern eines Staates, sich in einen anderen Staat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. In Deutschland werde diese Frage unterschiedlich beantwortet, sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Lehre. Nach der in Deutschland überwiegenden Auffassung umfasse die Stillhalteklausel die aktive wie die passive Dienstleistungsfreiheit.
Sollte die erste Frage dahin zu beantworten sein, dass der Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasse, sei noch zu prüfen, ob türkische Staatsangehörige, die nach Deutschland reisen wollten, um im Rahmen eines höchstens dreimonatigen Aufenthalts Verwandte zu besuchen, und sich nur auf die Möglichkeit beriefen, dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, in den Genuss der Stillhalteklausel kommen könnten.
Ein Teil der deutschen Lehre stütze ihr weiter gehendes Verständnis des Inhalts der passiven Dienstleistungsfreiheit auf Randnr. 15 des Urteils des Gerichtshofs vom 24. November 1998, Bickel und Franz (C-274/96, Slg. 1998, I-7637), in der es heiße, dass unter die passive Dienstleistungsfreiheit alle Angehörigen der Mitgliedstaaten fielen, die sich, ohne ein anderes unionsrechtlich gewährleistetes Freiheitsrecht in Anspruch zu nehmen, in einen anderen Mitgliedstaat begäben und „dort Dienstleistungen in Empfang nehmen wollen oder die Möglichkeit haben, sie in Empfang zu nehmen“.
Unter diesen Umständen hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Fällt unter den Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch die passive Dienstleistungsfreiheit?
Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist: Erstreckt sich der assoziationsrechtliche Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch auf türkische Staatsangehörige, die – wie die Klägerin – nicht zur Inanspruchnahme einer konkreten Dienstleistung, sondern zum Besuch von Verwandten für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen und sich auf die bloße Möglichkeit der Empfangnahme von Dienstleistungen im Bundesgebiet berufen?
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „freier Dienstleistungsverkehr“ in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er auch die Freiheit türkischer Staatsangehöriger umfasst, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.
Insoweit ist vorab darauf hinzuweisen, dass Art. 56 AEUV Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, verbietet.
In Randnr. 10 des Urteils vom 31. Januar 1984, Luisi und Carbone (286/82 und 26/83, Slg. 1984, 377), hat der Gerichtshof den Begriff „freier Dienstleistungsverkehr“ im Sinne von Art. 59 EWG-Vertrag (später Art. 59 EG-Vertrag, nach Änderungen dann Art. 49 EG, dem nunmehr Art. 56 AEUV entspricht) ausgelegt. Er hat entschieden, dass sich zur Erbringung der Dienstleistung entweder der Leistende in den Mitgliedstaat begeben kann, in dem der Leistungsempfänger ansässig ist, oder der Leistungsempfänger in den Mitgliedstaat, in dem der Leistende ansässig ist. Während der erste Fall ausdrücklich in Art. 60 Abs. 3 EWG-Vertrag (später Art. 60 Abs. 3 EG-Vertrag, dann Art. 50 Abs. 3 EG, dem nunmehr Art. 57 Abs. 3 AEUV entspricht) erwähnt wird, wonach der Leistende seine Leistungen vorübergehend in dem Staat ausüben kann, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den gleichen Bedingungen, wie dieser Staat sie für seine eigenen Staatsangehörigen vorschreibt, stellt der zweite Fall die notwendige Ergänzung hierzu dar, die dem Ziel entspricht, jede gegen Entgelt erbrachte Tätigkeit zu liberalisieren, die nicht unter den freien Waren- und Kapitalverkehr und die Freizügigkeit fällt.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs schließt die in Art. 56 AEUV den Angehörigen der Mitgliedstaaten und damit den Unionsbürgern gewährte Dienstleistungsfreiheit daher die „passive“ Dienstleistungsfreiheit ein, d. h. die Freiheit der Dienstleistungsempfänger, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden (Urteile Luisi und Carbone, Randnr. 16, vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, Slg. 1989, 195, Randnr. 15, Bickel und Franz, Randnr. 15, vom 19. Januar 1999, Calfa, C-348/96, Slg. 1999, I-11, Randnr. 16, und vom 17. Februar 2005, Oulane, C-215/03, Slg. 2005, I-1215, Randnr. 37).
Unter Art. 56 AEUV fallen somit alle Unionsbürger, die sich, ohne ein anderes durch den AEU-Vertrag gewährleistetes Freiheitsrecht in Anspruch zu nehmen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort Dienstleistungen in Empfang zu nehmen oder dazu die Möglichkeit zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Bickel und Franz, Randnr. 15). Nach dieser Rechtsprechung sind Touristen sowie Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen, und Studien- oder Geschäftsreisende als Dienstleistungsempfänger anzusehen (Urteil Luisi und Carbone, Randnr. 16).
In Bezug auf den Status der türkischen Staatsangehörigen im Rahmen des Assoziierungsabkommens enthält Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, wie bereits aus seinem Wortlaut hervorgeht, offenkundig eine klare, genaue und nicht an Bedingungen geknüpfte Stillhalteklausel, die es den Vertragsparteien untersagt, nach Inkrafttreten des Zusatzprotokolls neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen (vgl., zu Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, Urteil vom 11. Mai 2000, Savas, C-37/98, Slg. 2000, I-2927, Randnr. 46).
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls unmittelbare Wirkung. Daher können sich türkische Staatsangehörige, auf die diese Bestimmung anwendbar ist, vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf sie berufen (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, Randnr. 54, vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a., C-317/01 und C-369/01, Slg. 2003, I-12301, Randnrn. 58 und 59, vom 20. September 2007, Tum und Dari, C-16/05, Slg. 2007, I-7415, Randnr. 46, sowie Soysal und Savatli, Randnr. 45).
Die Stillhalteklausel verbietet allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die den Zweck oder die Wirkung haben, die Ausübung dieser wirtschaftlichen Freiheiten durch türkische Staatsangehörige im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats restriktiveren Bedingungen als denen zu unterwerfen, die galten, als das Zusatzprotokoll in diesem Mitgliedstaat in Kraft trat (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, Randnrn. 69 und 71 vierter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnrn. 66 und 117 zweiter Gedankenstrich, sowie Tum und Dari, Randnrn. 49 und 53).
Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringt, und türkische Staatsangehörige, die bei einem solchen Unternehmen als Fernfahrer beschäftigt sind, auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen können (Urteil Abatay u. a., Randnrn. 105 und 106).
Aus dem Urteil Soysal und Savatli ergibt sich, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger zu verlangen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zuvor nicht verlangt wurde.
In der vorliegenden Rechtssache ist zu prüfen, ob die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch für türkische Staatsangehörige gilt, die – anders als in dem dem Urteil Soysal und Savatli zugrunde liegenden Fall – keine grenzüberschreitenden Dienstleistungen erbringen, sondern sich in einen Mitgliedstaat begeben wollen, um dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass zwar nach ständiger Rechtsprechung die im Rahmen der Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Staatsangehörigen übertragen werden sollen, um zwischen den Vertragsparteien die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zu beseitigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Abatay u. a., Randnr. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Jedoch kann die den unionsrechtlichen Vorschriften über den Binnenmarkt, einschließlich der Vertragsbestimmungen, gegebene Auslegung nicht automatisch auf die Auslegung eines von der Union mit einem Drittstaat geschlossenen Abkommens übertragen werden, sofern dies nicht im Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Februar 1982, Polydor und RSO Records, 270/80, Slg. 1982, 329, Randnrn. 14 bis 16, vom 12. November 2009, Grimme, C-351/08, Slg. 2009, I-10777, Randnr. 29, und vom 15. Juli 2010, Hengartner und Gasser, C-70/09, Slg. 2010, I-7233, Randnr. 42).
Insoweit verpflichtet die Verwendung des Verbs „sich leiten lassen“ in Art. 14 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien nicht, die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr oder die zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmungen als solche anzuwenden, sondern nur, sie als Inspirationsquelle für die Maßnahmen zu betrachten, die zur Erreichung der in diesem Abkommen festgelegten Ziele zu erlassen sind.
Wie in Randnr. 13 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hat der Assoziationsrat keine Maßnahme ergriffen, die die Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs substanziell vorantreiben würde. Er hat sich bislang auf den Erlass des Beschlusses Nr. 2/2000 beschränkt.
Überdies hängt, wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, die Übertragung der Auslegung einer Vertragsbestimmung auf eine vergleichbar, ähnlich oder sogar übereinstimmend gefasste Bestimmung eines Abkommens zwischen der Union und einem Drittstaat insbesondere davon ab, welchen Zweck jede dieser Bestimmungen in ihrem jeweiligen Rahmen verfolgt. Insoweit kommt dem Vergleich der Ziele und des Kontexts des Abkommens einerseits und des Vertrags andererseits erhebliche Bedeutung zu (vgl. Urteile vom 1. Juli 1993, Metalsa, C-312/91, Slg. 1993, I-3751, Randnr. 11, vom 27. September 2001, Gloszczuk, C-63/99, Slg. 2001, I-6369, Randnr. 49, und vom 29. Januar 2002, Pokrzeptowicz-Meyer, C-162/00, Slg. 2002, I-1049, Randnr. 33).
Speziell hinsichtlich der Assoziation EWG–Türkei ergibt sich aus Randnr. 62 des Urteils vom 8. Dezember 2011, Ziebell (C-371/08, Slg. 2011, I-12735), dass zur Feststellung, ob sich eine Vorschrift des Unionsrechts für eine entsprechende Anwendung im Rahmen dieser Assoziation eignet, Zweck und Kontext des Assoziierungsabkommens mit Zweck und Kontext des betreffenden Unionsrechtsakts zu vergleichen sind.
Hierzu ist festzustellen, dass es insbesondere aufgrund der Verbindung zwischen dem freien Dienstleistungsverkehr und der Freizügigkeit innerhalb der Union Unterschiede zwischen dem Assoziierungsabkommen und seinem Zusatzprotokoll einerseits und dem Vertrag andererseits gibt. Im Einzelnen unterscheiden sich Zielsetzung und Kontext von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls grundlegend von denen des Art. 56 AEUV, insbesondere hinsichtlich der Anwendbarkeit dieser Bestimmungen auf Dienstleistungsempfänger.
Erstens hat der Gerichtshof zu den Zielen bereits entschieden, dass die Assoziation EWG–Türkei einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck verfolgt (Urteil Ziebell, Randnr. 64). Das Assoziierungsabkommen und sein Zusatzprotokoll sollen nämlich im Wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei fördern (Urteil Savas, Randnr. 53).
Eine solche Beschränkung der Zielsetzung des Assoziierungsabkommens auf rein wirtschaftliche Aspekte lässt sich bereits seinem Wortlaut entnehmen. Sie zeigt sich an den Überschriften der Kapitel 1 („Zollunion“), 2 („Landwirtschaft“) und 3 („Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art“) des Titels II über die Durchführung der Übergangsphase. Art. 14 des Assoziierungsabkommens, worin „[d]ie Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45 EG], [46 EG] und [48 EG] bis [54 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs aufzuheben“, gehört im Übrigen zu Kapitel 3 von Titel II des Abkommens, dessen oben angeführte Überschrift insoweit unmissverständlich ist.
Außerdem hat das Assoziierungsabkommen nach seinem Art. 2 Abs. 1 zum Ziel, „eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden“. Nach Art. 41 Abs. 2 Unterabs. 2 des Zusatzprotokolls berücksichtigt der Assoziationsrat im Übrigen bei der Festsetzung der Zeitfolge und der Einzelheiten der schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die verschiedenen Arten von Tätigkeiten die entsprechenden von der Union auf diesen Gebieten bereits erlassenen Bestimmungen sowie die besondere wirtschaftliche und soziale Lage der Türkei.
Die Entwicklung der wirtschaftlichen Freiheiten zur Ermöglichung einer generellen Freizügigkeit, die mit der nach Art. 21 AEUV für die Unionsbürger geltenden vergleichbar wäre, ist nicht Gegenstand des Assoziierungsabkommens. Ein allgemeiner Grundsatz der Freizügigkeit zwischen der Türkei und der Union ist nämlich weder in diesem Abkommen oder seinem Zusatzprotokoll noch im Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation vorgesehen, der allein die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrifft. Das Assoziierungsabkommen garantiert im Übrigen die Inanspruchnahme bestimmter Rechte nur im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Randnr. 66).
Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel nicht aus sich heraus geeignet ist, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage des Unionsrechts ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu verleihen, und dass sie ihnen auch kein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr oder ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verschaffen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, Randnrn. 64 und 71 dritter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnr. 62, Tum und Dari, Randnr. 52, sowie Soysal und Savatli, Randnr. 47).
Demzufolge kann die Stillhalteklausel, sei es unter Anknüpfung an die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr, nur im Zusammenhang mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt betreffen.
Im Rahmen des Unionsrechts beruht der Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit dagegen auf dem Ziel, einen als Raum ohne Binnengrenzen konzipierten Binnenmarkt zu schaffen, indem alle der Schaffung eines solchen Marktes entgegenstehenden Hemmnisse abgebaut werden. Eben dieses Ziel unterscheidet den Vertrag vom Assoziierungsabkommen, das nach den Feststellungen in Randnr. 50 des vorliegenden Urteils einen im Wesentlichen wirtschaftlichen Zweck verfolgt.
Zweitens hängt die Auslegung des Begriffs des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne der Bestimmungen des Assoziierungsabkommens und seines Zusatzprotokolls auf der einen und des Vertrags auf der anderen Seite auch vom zeitlichen Kontext dieser Bestimmungen ab.
Insoweit ist hervorzuheben, dass eine Stillhalteklausel wie die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vorgesehene nicht aus sich heraus Rechte schafft. Es handelt sich daher um eine Bestimmung, die ab einem bestimmten Zeitpunkt die Einführung jeder neuen restriktiven Maßnahme verbietet.
Der freie Dienstleistungsverkehr war, wie die Regierungen, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, sowie der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission ausgeführt haben, ursprünglich als die Freiheit konzipiert, Dienstleistungen zu erbringen. Erst 1984 hat der Gerichtshof im Urteil Luisi und Carbone klargestellt, dass der freie Dienstleistungsverkehr im Sinne des Vertrags auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasst.
Daher gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens und des Zusatzprotokolls bei deren Unterzeichnung davon ausgingen, dass der freie Dienstleistungsverkehr auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasst.
Wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bietet die Übung der Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens im Übrigen Anhaltspunkte für das Gegenteil. Zahlreiche Mitgliedstaaten haben nämlich nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls eine Visumpflicht für touristische Aufenthalte türkischer Staatsbürger eingeführt, ohne sich hieran durch Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls gehindert zu sehen. Die Republik Türkei selbst verfuhr, nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der deutschen Regierung, gegenüber dem Königreich Belgien und dem Königreich der Niederlande in gleicher Weise, indem sie im Oktober 1980 die 1973 in Kraft befindliche Befreiung von der Visumpflicht für belgische und niederländische Staatsangehörige, die keine Arbeitnehmer sind, aufhob.
Nach alledem lässt sich die vom Gerichtshof im Urteil Luisi und Carbone vorgenommene Auslegung von Art. 59 EWG-Vertrag aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Verträgen einerseits und dem Assoziierungsabkommen und seinem Zusatzprotokoll andererseits hinsichtlich ihres Zwecks wie auch ihres Kontexts bestehen, nicht auf die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls übertragen.
Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff „freier Dienstleistungsverkehr“ in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er nicht die Freiheit türkischer Staatsangehöriger umfasst, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.