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BSG 08.02.2023 - B 5 R 165/22 B
BSG 08.02.2023 - B 5 R 165/22 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - "Prozessurteil statt Sachurteil" - keine Auslegung iS eines zusätzlich erklärten Rechtsmittelverzichts bei urteilsausführenden Bescheiden
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 133 BGB
Vorinstanz
vorgehend SG Speyer, 20. August 2020, Az: S 10 R 574/18, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 9. Juni 2022, Az: L 1 R 248/20, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Juni 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit steht ein Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten für zwischenzeitlich selbst beschaffte orthopädische Schuheinlagen in Höhe von 166,39 Euro.
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Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte den Antrag des als Stahlbetonbauer beschäftigten Klägers vom 8.5.2018 auf Gewährung orthopädischer Schuheinlagen für seine Arbeitssicherheitsschuhe ohne Durchführung von Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung ab. Aufgrund der in der ärztlichen Verordnung eines Orthopäden angeführten gesicherten Diagnose "Senk-Knick-Spreizfuß beidseits", die von der Beklagten als "Senk-Spreizfuß" erfasst wurde, sei die Erwerbsfähigkeit weder erheblich gefährdet noch gemindert (Bescheid vom 17.5.2018, Widerspruchsbescheid vom 19.9.2018). Im Klageverfahren hat das SG einen Befundbericht des behandelnden Orthopäden sowie ein orthopädisches Sachverständigengutachten eingeholt. Auf dieser Grundlage hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben orthopädische Einlagen zu gewähren (Urteil vom 20.8.2020). Zudem hat das SG die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat daraufhin im Bescheid vom 15.9.2020 die Übernahme der Kosten für maßgefertigte Einlagen in Höhe von 166,39 Euro erklärt. Der dem Prozessbevollmächtigten des Klägers übermittelte Bescheid enthält den ausdrücklichen Hinweis, dass er aufgrund des Urteils vom 20.8.2020 ergehe und ein Rechtsbehelf nur zulässig sei, soweit er sich "gegen die Urteilsausführung" richte. Am 22.9.2020 hat die Beklagte Berufung gegen das SG-Urteil eingelegt. Ihr Rechtsmittel hat sie damit begründet, dass zur Versorgung des Klägers Arbeitsschuhe mit vorgefertigten ergonomischen Bettungseinlagen ausreichend seien, zumal dessen Erwerbsfähigkeit nicht erheblich gefährdet sei. Solche Schuhe müsse der Arbeitgeber zur Verfügung stellen.
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Das LSG hat im Berufungsverfahren ein weiteres fachorthopädisches Gutachten erstellen lassen. Der Sachverständige S gelangte nach ambulanter und radiologischer Untersuchung samt Fotodokumentation der Füße des Klägers zu dem Ergebnis, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers im Stahlbetonbau erheblich gefährdet sei und eine Versorgung mit ergonomisch geformten Einlagen nicht ausreiche. Nachdem der Sachverständige zu Einwendungen der Beklagten ergänzend Stellung genommen hatte, hat das LSG ihre Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 9.6.2022). Die Beklagte habe im Bescheid vom 15.9.2020 den Kläger klaglos gestellt und damit gleichzeitig konkludent einen Rechtsmittelverzicht erklärt. Das ergebe sich aufgrund einer Auslegung des Bescheids anhand des objektiven Empfängerhorizonts.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Beklagte beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich auf einen Verfahrensmangel.
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II. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig und begründet. Der von ihr gerügte Verfahrensmangel liegt vor.
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1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist das Vorliegen eines Verfahrensmangels in ausreichender Weise bezeichnet (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
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Die Beklagte trägt vor, das Berufungsgericht habe ihre Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen. Da ein wirksamer Rechtsmittelverzicht nicht vorliege, hätte das LSG eine Sachentscheidung treffen müssen. Ein verständiger Adressat habe ihren Bescheid vom 15.9.2020 nicht als Ausdruck eines Rechtsmittelverzichts verstehen können. Dieser enthalte den Hinweis, dass er aufgrund des SG-Urteils vom 20.8.2020 ergehe und ein Rechtsbehelf gegen ihn nur zulässig sei, soweit er sich gegen die Urteilsausführung richte. Außerdem sei ein gegenüber dem Prozessgegner erklärter Rechtsmittelverzicht nach der Rechtsprechung des BGH, die auf die Sozialgerichtsbarkeit übertragbar sei, nur dann beachtlich, wenn er vom Prozessgegner als prozessuale Einrede in das Rechtsmittelverfahren eingeführt werde. Das sei hier nicht erfolgt; der Kläger habe sich auch im Berufungsverfahren stets nur zur Sache geäußert.
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Mit dieser schlüssigen Darlegung, es sei statt eines Sachurteils zu Unrecht ein Prozessurteil ergangen, sind die Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels erfüllt (vgl BSG Beschluss vom 8.12.2005 - B 13 RJ 289/04 B - SozR 4-1500 § 151 Nr 2 RdNr 5 mwN; zum Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" s auch BSG Beschluss vom 17.6.2020 - B 5 R 302/19 B - SozR 4-1500 § 151 Nr 6 RdNr 5 mwN). Wegen der Eigenart dieses Verfahrensmangels war es nicht erforderlich, konkrete Tatsachen anzugeben, aus denen sich die Möglichkeit ergibt, dass das angefochtene Urteil auf dem Mangel beruhe (vgl BSG Beschluss vom 15.10.1996 - 14 BEg 9/96 - SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 2 f; s allerdings BSG Beschluss vom 26.4.2022 - B 1 KR 35/21 B - juris RdNr 6 am Ende - im Fall der impliziten Begründung eines Verfahrensmangels im Rahmen einer Grundsatzrüge).
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2. Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG hätte in der Sache entscheiden müssen. Für eine Verwerfung der Berufung als unzulässig im Hinblick auf einen im Bescheid der Beklagten vom 15.9.2020 enthaltenen Rechtsmittelverzicht war kein Raum. Der Bescheid enthält bei zutreffender Auslegung keinen Rechtsmittelverzicht (zum Rechtsmittelverzicht vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, vor § 143 RdNr 11 ff).
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a) Der Senat kann den Bescheid vom 15.9.2020, dem das LSG eine Prozesshandlung entnommen hat, selbst auslegen. Prozesshandlungen hat das Revisionsgericht stets selbst zu beurteilen (s allgemein May, Die Revision, 2. Aufl 1997, Kap VI RdNr 386 f, 391; zum Rechtsmittelverzicht vgl BSG Urteil vom 15.10.1963 - 11 RV 48/63 - SozR Nr 1 zu § 514 ZPO S D a 1 f = juris RdNr 19; BGH Urteil vom 6.3.1985 - VIII ZR 123/84 - juris RdNr 9; zur Auslegung eines Rechtsmittels vgl BSG Beschluss vom 8.12.2005 - B 13 RJ 289/04 B - SozR 4-1500 § 151 Nr 2 RdNr 7; zur Klageerhebung vgl BSG Beschluss vom 26.4.2022 - B 1 KR 35/21 B - juris RdNr 9 ff; zum Verzicht auf die Einrede mangelnder Rechtshängigkeit vgl BGH Urteil vom 10.10.1989 - VI ZR 78/89 - juris RdNr 7).
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b) Der Bescheid der Beklagten vom 15.9.2020 ist bei Auslegung aus der Sicht eines verständigen Beteiligten, der alle Begleitumstände und Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (vgl § 133 BGB) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (Empfängerhorizont, vgl BSG Urteil vom 7.4.2022 - B 5 R 24/21 R - SozR 4-1300 § 31 Nr 15 RdNr 12 mwN), als Ausführungsbescheid anzusehen. Ein konkludent erklärter Rechtsmittelverzicht der Beklagten kann ihm entgegen der Ansicht des LSG nicht entnommen werden. Zutreffend ist das LSG zwar davon ausgegangen, dass nach der Rechtsprechung des BSG eine Auslegung im Sinne eines zusätzlich erklärten Rechtsmittelverzichts ausgeschlossen ist bei Bescheiden, die erkennbar lediglich in Ausführung eines Urteils ergehen (vgl BSG Urteil vom 10.10.1978 - 7/12 RAr 46/77 - juris RdNr 15). Das kann auch der Fall sein, wenn ein solcher Bescheid zeitlich vor Einlegung der Berufung erlassen wird und keinen Hinweis auf das SG-Urteil enthält (vgl BSG Urteil vom 10.10.1978 aaO). Davon abweichend hat das LSG hier jedoch ausschließlich darauf abgestellt, dass der Bescheid vom 15.9.2020 zwar auf das Urteil des SG Bezug genommen habe, aber nicht ausdrücklich als "Ausführungsbescheid" gekennzeichnet gewesen sei und mit keinem Wort "hervorgehoben" habe, dass lediglich eine vorläufige Regelung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens getroffen werde. Den Wortlaut in seiner Gesamtheit und den Zusammenhang, in dem die Beklagte den Bescheid erlassen und an den rechtskundigen Prozessbevollmächtigten des Klägers bekanntgegeben hat, hat das LSG nicht näher in den Blick genommen. Konkrete Anknüpfungstatsachen für einen über die eigentliche Sachregelung der Kostenerstattung hinausgehenden Erklärungsgehalt des Bescheids vom 15.9.2020, die im Sinne eines Rechtsmittelverzichts oder einer Klaglosstellung verstanden werden könnten, hat das Berufungsgericht nicht anzuführen vermocht. Sie sind nach Überzeugung des Senats auch nicht vorhanden. Der Bescheid vom 15.9.2020 erschöpft sich - unter zweifachem Hinweis auf das Urteil des SG vom 20.8.2020 (vgl Umdruck Seite 1 unten und Seite 3 oben) - vielmehr in der zeitnahen Umsetzung dieser für den Kläger positiven erstinstanzlichen Entscheidung. Einem Rechtsmittel der Beklagten kommt insoweit keine aufschiebende Wirkung zu (vgl § 154 Abs 2 SGG). Dementsprechend hat auch der Kläger selbst im gesamten Berufungsverfahren zu keinem Zeitpunkt zum Ausdruck gebracht, dass er als Adressat den Bescheid vom 15.9.2020 im Sinne eines Rechtsmittelverzichts der Beklagten verstanden habe oder verstehen konnte.
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c) Auf die Frage, ob ein nicht gegenüber dem Gericht erklärter Rechtsmittelverzicht auch im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl § 202 Satz 1 SGG) vom Gegner durch Einrede in das Verfahren eingeführt werden muss (bejahend zB Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl 2020, vor § 143 RdNr 11b; Knittel in Hennig, SGG, Vorbemerkung §§ 143 - 178 RdNr 52, Stand der Einzelkommentierung Mai 2016), kommt es nicht mehr entscheidungserheblich an. Schon weil der Bescheid vom 15.9.2020 keinen Rechtsmittelverzicht zum Ausdruck gebracht hat, hätte das LSG über die Berufung der Beklagten in der Sache entscheiden müssen. Die Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig war iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG verfahrensfehlerhaft. Der Senat macht von der in einem solchen Fall in § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das LSG-Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, nachdem eine vergleichsweise Beilegung des Rechtsstreits im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht möglich war.
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3. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten. Dabei kann auch zu berücksichtigen sein, inwieweit bereits im Verwaltungsverfahren notwendige Ermittlungen im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden mussten (vgl § 192 Abs 4 SGG).
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