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BSG 19.08.2021 - B 10 ÜG 11/20 B
BSG 19.08.2021 - B 10 ÜG 11/20 B - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - bereits in einem vorangegangenen Urteil vertretene Rechtsansicht - überlange Verfahrensdauer - Entschädigungsklage - Angemessenheitsprüfung - Gesamtbetrachtung - Vorbereitungs- und Bedenkzeiten - instanzübergreifende Verrechnung - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - sozialgerichtliches Verfahren - Verzicht des Beklagten auf eine schriftliche Äußerung - Amtsermittlungspflicht des Gerichts auch bei schlüssiger Klage - keine Dispositionsmaxime
Normen
§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 101 SGG, § 103 SGG, § 104 S 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Leipzig, 11. Februar 2015, Az: S 5 AL 184/14, Gerichtsbescheid
vorgehend Sächsisches Landessozialgericht, 1. Juli 2020, Az: L 11 SF 98/19 EK, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 2020 wird als unzulässig verworfen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
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Der Streitwert wird auf 2400 Euro festgesetzt.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt Entschädigung wegen der Dauer eines Verfahrens vor dem SG Leipzig und dem Sächsischen LSG.
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Der Kläger ist Sozialrichter in Sachsen. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Sein Ausgangsverfahren über einen Anspruch auf Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs 3 SGB IX dauerte beim SG vom 16.6.2014 bis zur Zustellung des Gerichtsbescheids im Februar 2015, beim LSG vom 5.3.2015 bis zu einem Vergleichsschluss in der mündlichen Verhandlung am 7.3.2019.
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Die wegen der Dauer dieses Verfahrens erhobene Entschädigungsklage hat das Entschädigungsgericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abgewiesen. Zwar seien in der Berufungsinstanz des Ausgangsverfahrens, anders als vor dem SG, Zeiten der Inaktivität von 23 Monaten festzustellen. Dafür könne der Kläger gleichwohl keine Entschädigung beanspruchen. Von den Zeiten gerichtlicher Inaktivität seien an Vorbereitungs- und Bedenkzeit nicht nur 12 Monate für die Berufungs-, sondern zusätzlich 12 Monate für die Eingangsinstanz und damit insgesamt 24 Monate abzuziehen. In einer Instanz nicht ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeiten könnten zur Kompensation der in einer anderen Instanz eingetretenen Verzögerung herangezogen werden (Urteil vom 1.7.2020).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Das Entschädigungsgericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil sie weder den behaupteten Verfahrensmangel noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ordnungsgemäß dargetan hat (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
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1. Soweit der Kläger als Verfahrensmangel rügt, das Entschädigungsgericht habe durch das instanzübergreifende Zusammenrechnen der Vorbereitungs- und Bedenkzeiten eine Überraschungsentscheidung getroffen und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt, verfehlen seine Ausführungen die Darlegungsanforderungen.
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Der geltend gemachte Verfahrensmangel einer Überraschungsentscheidung ist nicht schlüssig bezeichnet. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Zudem gewährleistet der Anspruch auf rechtliches Gehör nur, dass ein Beteiligter mit seinem Vortrag "gehört", nicht jedoch "erhört" wird. Die Gerichte werden durch Art 103 Abs 1 GG nicht dazu verpflichtet, seiner Rechtsansicht zu folgen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 28.9.2018 - B 9 V 21/18 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 20.11.2018 - B 8 SO 43/18 B - juris RdNr 9).
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Um den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens (BSG Beschluss vom 21.4.2020 - B 1 KR 73/19 B - juris RdNr 12; BSG Beschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 441/13 B - juris RdNr 12) zu wahren, darf das Gericht seine Entscheidung aber nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 2.12.2015 - B 9 V 12/15 B -juris RdNr 20 mwN).
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Nach diesen Vorgaben hätte der Kläger darlegen müssen, warum er bei seinem Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG mit dem Rechtsstandpunkt des Entschädigungsgerichts nicht zu rechnen brauchte, in der Eingangsinstanz nicht in Anspruch genommene Vorbereitungs- und Bedenkzeit sei bei der Bestimmung der angemessenen Prozessdauer in der Berufungsinstanz zu berücksichtigen.
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Nach der Rechtsprechung des Senats ist einerseits eine Verfahrensdauer von bis zu 12 Monaten je Instanz regelmäßig als angemessen anzusehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden kann (sog Vorbereitungs- und Bedenkzeit; vgl Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 54 mwN). Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch das Gericht können andererseits in davor oder danach liegenden Verfahrensabschnitten ausgeglichen werden (Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 51; Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 43 mwN). Die Beschwerde legt nicht dar, was sich aus der Zusammenschau dieser beiden Rechtssätze für die Frage ableiten lässt, ob und in welchem Umfang das Berufungsgericht die genannte Kompensationsmöglichkeit dazu nutzen darf, eine nicht voll ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeit des SG instanzübergreifend auf die eigene Vorbereitungs- und Bedenkzeit aufzuschlagen (vgl Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 198 GVG RdNr 81, Stand 10.12.2020).
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Das Entschädigungsgericht hatte die Frage der Übertragbarkeit bereits in einem vorangegangenen Urteil bejaht (Sächsisches LSG Urteil vom 29.3.2017 - L 11 SF 70/16 EK - juris RdNr 34), ebenso wie das LSG Berlin-Brandenburg (Gerichtsbescheid vom 6.11.2019 - L 38 SF 323/18 EK AS - juris RdNr 28; Urteil vom 24.1.2019 - L 37 SF 101/18 EK AS WA - juris RdNr 65) und das LSG Hamburg (Urteil vom 20.7.2017 - L 1 SF 6/15 EK - juris RdNr 27).
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Das Entschädigungsgericht hat die angegriffene Entscheidung demnach auf eine Rechtsansicht gestützt, die es selbst bereits in einem vorangegangenen Urteil vertreten hatte. Zudem hatten zwei weitere Entschädigungsgerichte ihren Entscheidungen eine vergleichbare Ansicht zugrunde gelegt. Daher hätten der Kläger als Sozialrichter und der von ihm bevollmächtigte Rechtsanwalt darlegen müssen, warum das angegriffene Urteil gleichwohl geeignet war, ohne einen vorhergehenden rechtlichen Hinweis des Gerichts auch einen gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten zu überraschen. Solche Darlegungen lässt die Beschwerde vermissen. Insbesondere die behauptete - angeblich überraschende - Abweichung von der Senatsrechtsprechung hat sie, wie gezeigt, nicht dargetan.
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Ihr Hinweis, der Beklagte habe sich nicht zur Sache eingelassen, ändert daran nichts. Ohne normative Grundlage hat Schweigen im Rechtsverkehr regelmäßig keine Erklärungsbedeutung. Ohnehin hat der Kläger nicht stichhaltig dargelegt, warum eine Äußerung des Beklagten zur Rechtslage einen zwingenden Schluss auf die bevorstehende Entscheidung des Entschädigungsgerichts erlauben sollte.
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2. Ebenso wenig dargelegt hat der Kläger die behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
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Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (BSG Beschluss vom 27.8.2020 - B 9 V 5/20 B - juris RdNr 6 mwN).
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Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Um die Klärungsbedürftigkeit ordnungsgemäß darzulegen, muss sich der Beschwerdeführer daher ua mit der einschlägigen Rechtsprechung auseinandersetzen (BSG Beschluss vom 21.8.2017 - B 9 SB 11/17 B - juris RdNr 8 mwN).
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Diese Anforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung.
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Die Beschwerde hält es für klärungsbedürftig,
ob das Gericht eine schlüssige Klage ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abweisen darf, wenn der Beklagte der Aufforderung zur Äußerung gemäß § 104 Satz 3 SGG nur insoweit nachkommt, als er erklärt, keine Stellungnahme abgeben zu wollen.
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Damit hat der Kläger indes schon keine klärungsfähige Rechtsfrage formuliert. Seine Frage benennt kein gesetzliches Tatbestandsmerkmal, dessen Auslegung in allgemeiner Form mit Mitteln der juristischen Auslegung geklärt werden könnte (vgl BSG Beschluss vom 11.2.2020 - B 9 SB 49/19 B - juris RdNr 12 f). Ohnehin legt er nicht dar, in welcher Weise die Entscheidung des Gerichts über einen klageweise geltend gemachten Anspruch außerhalb der Konstellationen eines Anerkenntnisses oder Vergleichs nach § 101 SGG trotz Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Sozialgerichtsprozess davon abhängen sollte, ob der Beklagte in der Sache Stellung nimmt. Das Gericht kann eine Erwiderung auf die Klage oder die Berufung nicht erzwingen; insofern besteht allenfalls eine Äußerungsobliegenheit (Mushoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 104 SGG RdNr 23, Stand: 19.11.2020).
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
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3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
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4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
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5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3, § 52 Abs 3 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwerts entspricht dem vom Kläger beim Entschädigungsgericht geltend gemachten Entschädigungsanspruch.
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