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BSG 27.02.2020 - B 8 SO 65/19 B
BSG 27.02.2020 - B 8 SO 65/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen Versäumung der Berufungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Entscheidung über die Nichtzulassung der Sprungrevision im Urteil - fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung - erneuter Antrag auf Zulassung der Sprungrevision unmittelbar nach Zustellung des Urteils - Ablehnung durch das Sozialgericht ohne Hinweis auf die alleinige Statthaftigkeit der Berufung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 158 S 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 161 Abs 1 S 1 Alt 2 SGG, Art 2 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Speyer, 5. Juli 2018, Az: S 21 SO 129/16, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 12. Juni 2019, Az: L 4 SO 104/18, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Juni 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit ist die Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung bei Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
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Der 1944 geborene Kläger, der unter einem Diabetes mellitus Typ II a leidet, bezieht laufend Grundsicherungsleistungen vom beklagten Sozialhilfeträger. Wegen der Ablehnung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung für die Zeit vom 1.7.2013 bis zum 31.12.2016 erhob er Klage zum Sozialgericht (SG) Speyer und beantragte ua die Zulassung der Sprungrevision. Das SG hat die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Sprungrevision sei nicht zuzulassen, weil keine Zulassungsgründe vorlägen. Zugleich hat es in der Rechtsmittelbelehrung neben der Möglichkeit einer Berufung auf die Möglichkeit eines Antrags auf Zulassung der Revision hingewiesen (Urteil vom 5.7.2018; dem Kläger zugestellt am 12.7.2018). Der Kläger hat beim SG (erneut) einen Antrag auf Zulassung der Sprungrevision gestellt, aber keine Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt (Antrag vom 12.7.2018). Das SG hat den Kläger "auf Seite 16 des Urteils" hingewiesen, die die Ausführungen der Kammer zur Nichtzulassung der Sprungrevision enthalten (Schreiben vom 17.7.2018) und sodann den Antrag abgelehnt, weil Zulassungsgründe nicht vorlägen (Beschluss vom 22.8.2018). Der Kläger hat am 21.8.2018 Berufung eingelegt und einen Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung als unzulässig angesehen. Da der Beklagte eine Zustimmung nicht erteilt habe, beginne mit dem ablehnenden Beschluss des SG die Berufungsfrist nicht von neuem (vgl § 161 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Auch Wiedereinsetzungsgründe wegen unverschuldeter Versäumung der Berufungsfrist seien nicht erkennbar (Urteil vom 12.6.2019).
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Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde und macht geltend, es hätte ein Sachurteil statt eines Prozessurteils ergehen müssen. Das LSG hätte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähren und in der Sache entscheiden müssen. Der (erneute) Antrag auf Zulassung der Sprungrevision sei von vornherein nicht statthaft gewesen, worauf das SG den Kläger hätte hinweisen müssen. Der Hinweis vom 17.7.2018 reiche nicht aus, weil er nicht konkret zum Ausdruck bringe, dass als Rechtsmittel nur die Berufung in Betracht gekommen wäre. Beruhe ein Fristversäumnis auch auf der Verletzung von Hinweispflichten des Gerichts, sei Wiedereinsetzung zu gewähren. Nach Prüfung des Anspruchs in der Sache sei nicht ausgeschlossen, dass ein Anspruch auf den begehrten Mehrbedarf bestehe.
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II. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Da der gerügte Verfahrensmangel auch vorliegt, konnte der angefochtene Beschluss nach § 160a Abs 5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
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Der Kläger hat zutreffend einen Verstoß gegen § 67 SGG gerügt, auf dem das Urteil des LSG beruhen kann. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte - ausgehend von seiner Rechtsauffassung, die Berufung sei nicht innerhalb der Berufungsfrist eingelegt worden - Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähren und sodann über die Berufung in der Sache entscheiden müssen.
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Nach § 67 Abs 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist. Unter Berücksichtigung des aus Art 2 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht dabei aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl nur Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 - BVerfGE 110, 339 mwN). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl nur BVerfG vom 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 - BVerfGE 93, 99, 115; BSG vom 30.1.2002 - B 5 RJ 10/01 R - SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN).
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Ein solcher Fall liegt hier vor, wie der Kläger zutreffend rügt. Ausgehend von der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ist mit der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an den Kläger am 12.7.2018 die Monatsfrist zur Einlegung der Berufung (§ 151 Abs 1 SGG) in Lauf gesetzt worden. Mit der Zustellung der Entscheidung des SG über den am 16.7.2018 erneut gestellten Antrag auf Zulassung der Sprungrevision (Beschluss vom 22.8.2018) konnte der Lauf der Berufungsfrist schon deshalb nicht von neuem beginnen, weil der Antrag mangels Zustimmungserklärung des Gegners nicht formgerecht war (vgl § 161 Abs 3 Satz 1 SGG). Der Kläger ist vom SG aber nicht darauf hingewiesen worden, dass der Antrag vom 16.7.2018 entgegen der Rechtsmittelbelehrung im Urteil vom 5.7.2018 von vornherein nicht statthaft war und er - der Kläger - sich also nur mit einer Berufung gegen das Urteil wenden konnte. Ist ein solches fehlerhaftes Verhalten des SG mitverantwortlich für das Fristversäumnis, ist vom LSG Wiedereinsetzung zu gewähren.
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Es kann offenbleiben, ob das SG eine negative Entscheidung über die Zulassung der Sprungrevision bereits im Urteil treffen darf (verneinend: Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, § 161 RdNr 9b; Nguyen in jurisPK, SGG, 1. Aufl 2017, § 161 RdNr 53, wonach nur eine Entscheidung über die Zulassung, nicht aber über die Ablehnung der Zulassung im Urteil zulässig sein soll). Entscheidet ein SG ausdrücklich bereits im Urteil auf den von einem Beteiligten gestellten Antrag hin, dass eine Sprungrevision nicht zugelassen wird, ist ein (erneuter) Antrag auf Zulassung durch Beschluss (vgl § 161 Abs 1 Satz 1 Alt 2 SGG) jedenfalls nicht mehr zulässig (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 161 RdNr 7; Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 161 RdNr 8; Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 161 RdNr 11; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl 2014, § 161 RdNr 19; Hauck, aaO; Nguyen, aaO, RdNr 54; offengelassen in BSG vom 16.2.1989 - 4 REg 6/88 - BSGE 64, 296, 297 = SozR 1500 § 161 Nr 33, das sich aber an einen von dem Urteil abweichenden nachträglichen Beschluss gebunden sah). Das SG ist an die einmal getroffene Entscheidung gebunden und darf sie nicht noch einmal ändern (vgl § 202 SGG iVm § 318 Zivilprozessordnung <ZPO>).
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So liegt der Fall hier. Eine Entscheidung über die Nichtzulassung der Sprungrevision hatte das SG (in der zutreffenden Besetzung unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter) bereits im Urteil getroffen; die Entscheidung hat es zwar nicht in der Entscheidungsformel, aber im Einzelnen in den Gründen dargestellt, was ausreicht (vgl zur Entscheidung über die Zulassung im Urteil BSG vom 29.4.2010 - B 9 SB 2/09 R - RdNr 18, insoweit in BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2 nicht abgedruckt). Die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung allein führt nicht zur Statthaftigkeit eines weiteren Antrags auf Zulassung der Sprungrevision.
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Ob der damit unter allen rechtlichen Gesichtspunkten aussichtslose Antrag auf Zulassung der Sprungrevision vom 16.7.2018 bereits als Berufung auszulegen war (zu einem solchen Fall BSG vom 24.4.1991 - 9a RV 9/90 - RdNr 12; ebenso Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 161 RdNr 10), kann offenbleiben. Da der Antrag des unvertreten gewesenen Klägers bereits wenige Tage nach Zustellung des Urteils eingegangen ist, wäre das SG jedenfalls verpflichtet gewesen, ihn zügig und unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass entgegen der im Urteil erteilten Rechtsmittelbelehrung nur die Berufung zur Überprüfung durch eine weitere Instanz führen konnte. Der Kläger hätte auf einen solchen Hinweis hin sein Verhalten an die wahre Rechtslage anpassen und innerhalb der nach Auffassung des LSG laufenden Monatsfrist Berufung einlegen können. Ohne diesen Hinweis musste er dagegen nicht erkennen, dass vorliegend nur die Berufung statthaft war. Der Hinweis vom 17.7.2018 reicht insoweit nicht aus; denn es wird gerade nicht deutlich, dass die Entscheidung über die Nichtzulassung der Sprungrevision nicht nochmals vom SG überprüft werden und nur eine Berufung zulässig sein konnte.
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Ob die Frist zur Einlegung der Berufung hier (anders als das LSG meint) ein Jahr betragen hat, weil die Rechtsmittelbelehrung mit einem Hinweis auf den Antrag auf Zulassung der Sprungrevision unrichtig iS des § 66 Abs 2 Satz 1 2. Alt SGG erteilt worden war (dazu nur BSG vom 18.10.2007 - B 3 P 24/07 B - SozR 4-1500 § 66 Nr 1 RdNr 6 mwN), kann damit offenbleiben.
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Eine Zurückweisung der Beschwerde war auch nicht deshalb geboten, weil bereits feststünde, dass die angegriffene Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben wird (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 18 mwN). Nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG ist der Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung im Einzelfall (ohne dass sich generelle Schlüsse aus bestimmten Krankheitsbildern ableiten ließen) im Wege der Amtsermittlung durch Einholung medizinischer und/oder ernährungswissenschaftlicher Stellungnahmen oder Gutachten zu klären (vgl nur BSG vom 9.6.2011 - B 8 SO 11/10 R - FEVS 63, 294; BSG vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 64/06 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 2 RdNr 24). Angesichts der fehlenden Feststellungen hierzu ist ein Erfolg der Berufung nicht ausgeschlossen.
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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