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BSG 02.07.2019 - B 2 U 19/19 B
BSG 02.07.2019 - B 2 U 19/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - absoluter Revisionsgrund - nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts - Mitwirkung des abgelehnten Richters - Entscheidung über Befangenheitsantrag gegen namentlich nicht bestimmten Richter - fehlerhafte Auskunft der Senatsgeschäftsstelle - Verfahrensnachteil - Grundsatz des fairen Verfahrens - Entscheidung über Ablehnungsgesuch - geringfügiges Eingehen auf Verfahrensgegenstand - Zurückverweisung an einen anderen Senat
Normen
§ 160a Abs 5 SGG, § 60 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 42 ZPO, § 45 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, § 563 Abs 1 S 2 ZPO, § 16 S 2 GVG, Art 2 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 6 MRK
Vorinstanz
vorgehend SG Stralsund, 19. Januar 2012, Az: S 1 U 4/07
vorgehend Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, 19. September 2018, Az: L 5 U 26/12, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 19. September 2018 - L 5 U 26/12 - aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Landessozialgerichts zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Klägerin begehrt Verletztenrente aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 7.6.2003. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 19.1.2012 abgewiesen. Das LSG hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 25.7.2018 bestimmt, das persönliche Erscheinen der Klägerin angeordnet und den Sachverständigen Prof. Dr. M. geladen. Wegen Verhinderung des Sachverständigen hat die Klägerin zunächst beantragt, diesen Verhandlungstermin aufzuheben. Dies hat das LSG abgelehnt. Daraufhin hat die Klägerin ein Attest ihrer Gynäkologin vorgelegt, wonach für den Verhandlungstag ein nicht verschiebbarer operativer Eingriff geplant sei, für den ihre Anwesenheit in der Einrichtung ganztägig erforderlich sei. Das LSG hat daraufhin unter Vorlage der von der Klägerin im erstinstanzlichen Klageverfahren am 21.5.2008 erteilten Schweigepflichtentbindungserklärung die Gynäkologin befragt, wann der operative Eingriff für das Datum der geplanten Sitzung vereinbart worden sei und aufgrund welcher medizinischen Indikation dieser Eingriff nur an diesem Tag erfolgen könne. Die Ärztin hat schriftlich mitgeteilt, Behandlung und Eingriff müssten zyklusabhängig durchgeführt werden und könnten nicht verschoben werden, sodass der Termin am 16.7.2018 kurzfristig vereinbart worden sei. Die Klägerin hat sich daraufhin gegen die Ablehnung ihres Verlegungsantrags gewandt und den RLSG M. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zugleich hat sie um Mitteilung gebeten, wer vonseiten des LSG ihre behandelnde Gynäkologin kontaktiert habe. Das LSG hat daraufhin den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19.9.2018 verlegt. Die Klägerin hat ihr Begehren, dass ihr mitgeteilt werde, welcher Richter das an ihre Gynäkologin gerichtete Schreiben angeordnet habe, danach mehrfach schriftsätzlich wiederholt. Nachdem die Senatsgeschäftsstelle auf telefonische Nachfrage der Klägerin mitgeteilt hatte, RLSG M. habe ihre Gynäkologin befragt, hat die Klägerin am 18.9.2018 diesen erneut wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. In der mündlichen Verhandlung am 19.9.2018 hat der 5. Senat des LSG unter Beteiligung des VRLSG A. sowie der RLSG M. und S. den Befangenheitsantrag der Klägerin vom 18.9.2018 gegen den RLSG M. als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt: Einen Befangenheitsantrag vom Juli 2018 habe der Senat mit Beschluss vom 18.7.2018 bereits zurückgewiesen. Der erneute Antrag vom 18.9.2018 sei als unzulässig zu verwerfen, weil er völlig substanzlos sei und keinerlei objektiven Anlass zur Befürchtung der Befangenheit erkennen lasse. Die nunmehrige Unterstellung, eine Nachfrage bei der behandelnden Gynäkologin sei offenbar aus privater Neugier erfolgt, sei völlig fernliegend. Zudem habe die Anfrage bei der Gynäkologin nicht der abgelehnte RLSG M., sondern der VRLSG A. getätigt. Dies gehöre zu seinen gesetzlichen Aufgaben als Senatsvorsitzender, was der Klägerin auch seit längerem bekannt sei.
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Durch Urteil vom selben Tage hat das LSG sodann unter Beteiligung der oben genannten Berufsrichter die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.
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Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, der Senat sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Ihr Befangenheitsantrag habe dem Richter gelten sollen, der die Anfrage an ihre Ärztin veranlasst habe. So habe es das LSG auch verstanden, weshalb der VRLSG A. nicht über den Befangenheitsantrag gegen ihn selbst hätte entscheiden dürfen.
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II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Der geltend gemachte Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 S 2 GG; § 202 S 1 SGG iVm § 16 S 2 GVG), der zugleich einen absoluten Revisionsgrund (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG) darstellt, ist hinreichend bezeichnet und liegt vor. Nähere Ausführungen dazu, dass das Urteil auf diesem Fehler beruhen kann, waren daher entbehrlich.
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Das LSG war in der mündlichen Verhandlung vom 19.9.2018 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil hat VRLSG A. mitgewirkt, den die Klägerin zwar nicht namentlich, aber inhaltlich hinreichend präzise abgelehnt hatte. Dass dieser selbst die Auskunft bei der Gynäkologin eingeholt hatte, hat die Klägerin erst durch den am 19.9.2018 verkündeten Beschluss des LSG erfahren. Das LSG ging offensichtlich selbst davon aus, dass der mit diesem Vortrag begründete Ablehnungsantrag sich sinngemäß gerade gegen den Richter richten sollte, der die Anfrage tatsächlich veranlasst hatte. Denn das LSG hebt in dem Beschluss hervor, der Vorsitzende, der eigentlich gemeint gewesen sei, hätte eine solche Anfrage als Vorsitzender problemlos veranlassen dürfen. Folglich hätte das LSG auch über den Befangenheitsantrag gegen den VRLSG A. entscheiden müssen. Wenn das LSG sich in dem Beschluss darauf beruft, dass namentlich nur RLSG M. abgelehnt worden sei, verstößt das gegen den aus Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip bzw Art 6 EMRK abgeleiteten Anspruch auf ein faires Verfahren. Dieser Grundsatz verbietet es ua, dass ein Gericht aus der Falschauskunft der Senatsgeschäftsstelle Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableitet (BSG Beschlüsse vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - juris RdNr 11 mwN, vom 12.12.2014 - B 10 ÜG 15/14 B - juris RdNr 8 und vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B - SozR 4-1500 § 118 Nr 3 RdNr 16; vgl EGMR vom 27.10.1993 - 37/1992/382/460 - NJW 1995, 1413 - Dombo Beheer). Die Mitwirkung des Vorsitzenden an dem Urteil vom 19.9.2018 verletzte daher das Recht der Klägerin auf den gesetzlichen Richter, weil der zumindest sinngemäß auch gegen diesen gerichtete Ablehnungsantrag zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch offen und nicht verbeschieden war, unabhängig davon, dass der VRLSG A. über diesen Antrag gegen sich selbst nicht hätte (mit)entscheiden dürfen. Damit fehlt es an einer Entscheidung über den Befangenheitsantrag gegen den eigentlich gemeinten VRLSG A.. Dieser hätte das Urteil vom 19.9.2018 mithin nicht fällen dürfen, weil über den Befangenheitsantrag gegen ihn noch nicht entschieden war.
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Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass das LSG den Befangenheitsantrag als einen ausschließlich gegen den RLSG M. gerichteten hätte behandeln dürfen, wäre der in der mündlichen Verhandlung vom 19.9.2018 getroffene Beschluss des LSG, mit dem der Befangenheitsantrag gegen den RLSG M. - ebenfalls unter dessen Mitwirkung - als unzulässig verworfen wurde, ebenfalls rechtswidrig. Auch insofern hätte dann eine fehlerhafte Besetzung des Berufungsgerichts vorgelegen. Denn der vom LSG fälschlicherweise als (allein) abgelehnt angesehene RLSG M. hätte jedenfalls dann nicht selbst über den Befangenheitsantrag mitentscheiden dürfen, weshalb auch insofern ein Verstoß gegen Art 101 Abs 1 S 2 GG vorlag.
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Ist in dem Beschluss über den Befangenheitsantrag ein, wenn auch nur geringfügiges Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung des Antrags als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung des Antrags unter Beteiligung des abgelehnten Richters selbst stellt sich dann - objektiv - als willkürlich dar. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe "zum Richter in eigener Sache" machen (vgl BVerfGK 7, 325, 340; 11, 434, 442; 13, 72, 79 f; BVerfG <Kammer> Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - juris RdNr 30). Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern, was eine enge Auslegung der Voraussetzungen gebietet (vgl BVerfGK 5, 269, 282; 11, 434, 442; 13, 72, 79). Völlige Ungeeignetheit eines Befangenheitsantrags ist daher nur dann anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Dies ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein - ohne jede weitere Aktenkenntnis - offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig unter Beteiligung des abgelehnten Richters aus. Ein Beschluss, mit dem gleichwohl der Befangenheitsantrag durch den abgelehnten Richter selbst abgelehnt wird, stellt sich dann - objektiv - als willkürlich dar.
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So lagen die Verhältnisse hier. Das Ablehnungsgesuch der Klägerin bezog sich insbesondere auf die Einholung eines Arztberichts bei ihrer behandelnden Gynäkologin auf Grundlage einer zehn Jahre alten Schweigepflichtsentbindung, die sie zu Beginn des Gerichtsverfahrens abgegeben hatte. In dem Ablehnungsgesuch sind damit Verhaltensweisen konkret benannt, die aus Sicht der Klägerin ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des handelnden Richters begründen können. Damit stehen bereits die in dem Beschluss angestellten Erwägungen des LSG, dass nicht nur der Befangenheitsantrag gegen RLSG M. substanzlos sei, sondern dass der in Wirklichkeit handelnde und "eigentlich" abgelehnte Senatsvorsitzende zu der Anfrage bei der Gynäkologin befugt gewesen sei, einer Bewertung des Beschlusses vom 19.9.2018 als reine Formalentscheidung entgegen (BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 208/17 B - juris RdNr 17 - 18). Bereits das inhaltliche Eingehen des LSG auf die Frage, welcher Richter denn nun eigentlich "gemeint" sei, und auf die verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit des Handelns des Vorsitzenden zeigt, dass es sich nicht alleine um eine Formalentscheidung handelte, unabhängig davon, dass auch inhaltlich Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Vorsitzenden bestehen.
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Der Senat hat gemäß § 160a Abs 5 SGG das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Er hat sein insoweit bestehendes Ermessen dahingehend ausgeübt, nach § 563 Abs 1 S 2 ZPO iVm § 202 S 1 SGG den Rechtsstreit an einen anderen Spruchkörper des LSG zurückzuverweisen, um das Vertrauen der Beteiligten in ein faires Verfahren zu gewährleisten (BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VJ 1/98 R - SozR 3-1750 § 565 Nr 2).
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
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