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BSG 05.07.2018 - B 8 SO 50/17 B
BSG 05.07.2018 - B 8 SO 50/17 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil - fingierte Klagerücknahme - Betreibensaufforderung - öffentliche Zustellung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 102 Abs 1 S 2 SGG, § 102 Abs 2 S 1 SGG, § 102 Abs 2 S 2 SGG, § 102 Abs 2 S 3 SGG, § 63 Abs 1 S 1 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 185 Nr 1 ZPO, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Koblenz, 27. Januar 2017, Az: S 16 SO 130/16, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 24. Mai 2017, Az: L 4 SO 25/17, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerden der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Mai 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit sind Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Im Beschwerdeverfahren ist umstritten, ob die Klage als zurückgenommen gilt.
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Die miteinander verheirateten Kläger bezogen jeweils bis zum Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Unter anderem für die Zeit ab dem 1.2.2014 beantragten sie beim Beklagten Grundsicherungsleistungen, der sie darauf hinwies, der Antrag sei im Hinblick auf ein anhängiges Klageverfahren wegen der Versagung solcher Leistungen nicht notwendig (Schreiben vom 5.2.2014 und vom 7.3.2014; Widerspruchsbescheid vom 18.7.2014). Hiergegen erhoben die Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Koblenz unter Angabe ihrer damaligen Wohnanschrift im Inland. Ein Beschluss wegen eines am 29.10.2014 gestellten Befangenheitsgesuchs der Kläger (vom 4.11.2014) wurde ihnen durch Niederlegung zugestellt; weiterer Schriftwechsel erfolgte in der Folge nicht. Am 19.5.2015 wurde dem SG aus anderen Verfahren bekannt, dass die Kläger unbekannt nach Österreich verzogen seien. Das SG forderte die Kläger auf, das Verfahren zu betreiben und eine ladungsfähige Anschrift mitzuteilen. Nachdem sie verzogen seien, ohne eine ladungsfähige Anschrift zu hinterlassen, bestünden erhebliche Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses. Nach Ablauf einer Frist von drei Monaten gelte die Klage als zurückgenommen (Schreiben vom 26.5.2015). Es ordnete die öffentliche Zustellung dieses Schreibens an (Beschluss vom 26.5.2015), die durch Aushang einer Benachrichtigung im Gerichtsgebäude vom 27.5. bis zum 1.7.2015 erfolgte. Sodann teilte es den Klägern am 5.10.2015 mit, dass die Klage als zurückgenommen gelte, und ordnete die öffentliche Zustellung auch dieses Schreibens an (Beschluss vom 5.10.2015). Im Juni 2016 teilten die Kläger ihre neue Anschrift in Österreich mit und beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das SG und das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz haben die Klage als unzulässig angesehen, weil die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) greife (Gerichtsbescheid des SG vom 27.1.2017; Urteil des LSG vom 24.5.2017).
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Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Beschwerde. Sie machen geltend, die notwendige und zustellungsbedürftige Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, habe nicht öffentlich zugestellt werden dürfen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen hätten. Insbesondere habe das SG nicht nach wenigen Tagen und ohne weitere Ermittlungen (insbesondere durch eine Anfrage beim österreichischen Meldeamt) davon ausgehen dürfen, dass sie, die Kläger, unbekannten Aufenthalts in Österreich seien. Außerdem könne die sog Betreibensaufforderung ihren Zweck bei einer öffentlichen Zustellung ersichtlich nicht erfüllen.
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II. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die Beschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensverstoß, weil das LSG zu Unrecht die Klage aufgrund fingierter Klagerücknahme als erledigt und deshalb unzulässig angesehen hat und das Ergehen eines Prozessurteils anstatt des eigentlich angezeigten Sachurteils ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist (vgl nur BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2). Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).
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Nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (BGBl I 444) gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. In der sog Betreibensaufforderung ist der Kläger (ua) auf die sich aus Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs 2 Satz 3 SGG). Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG).
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Eine im Sinne dieser Vorschrift wirksame Fristsetzung als Voraussetzung für die Fiktion der Klagerücknahme ist aber nicht erfolgt. Die Frist zum Betreiben des Verfahrens ist hier mangels wirksamer öffentlicher Zustellung des Schreibens vom 26.5.2015 an die Kläger nicht in Lauf gesetzt worden. Anordnungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen (vgl § 63 Abs 1 Satz 1 SGG; zum Erfordernis der Zustellung der Betreibensaufforderung nur BSG SozR 4-1500 § 102 Nr 3 RdNr 24, zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Zugestellt wird (seit entsprechender Änderung des SGG zum 1.7.2002) nach § 63 Abs 2 SGG von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO). Die ordnungsgemäße Erfüllung der Zustellungsvorschriften soll dabei gewährleisten, dass der Adressat Kenntnis von dem Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Insoweit dient sie der Verwirklichung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>). Die Zustellungsfiktion der öffentlichen Bekanntmachung unter der Voraussetzung, dass der Aufenthaltsort einer Person unbekannt ist und an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht zugestellt werden kann (vgl § 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 185 Nr 1 ZPO), ist verfassungsrechtlich deshalb nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Art der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist (vgl Bundesverfassungsgericht <BVerfG> Beschluss vom 26.10.1987 - 1 BvR 198/87, NJW 1988, 2361). Ob im Hinblick auf die Funktion der Betreibensaufforderung weitere Gesichtspunkte hinzukommen, die ihre öffentliche Zustellung generell unzulässig erscheinen lassen, kann hier offenbleiben. Ebenso braucht nicht entschieden zu werden, ob sich allein aus dem Wegzug ins Ausland mit unbekannter Anschrift Zweifel am Rechtsschutzinteresse ergeben, die bereits eine Betreibensaufforderung rechtfertigen (ablehnend etwa Verwaltungsgerichtshof <VGH> Baden-Württemberg Beschluss vom 5.2.2009 - 11 S 18/09, NVwZ-RR 2009, 503, 504). Die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung sind ohnehin nicht erfüllt.
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Unbekannt ist der Aufenthalt einer Person, wenn nicht nur das Gericht, sondern auch die Allgemeinheit den Aufenthalt des Zustellungsadressaten nicht kennt. Die öffentliche Zustellung kommt nur als letzte Möglichkeit in Betracht, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ein Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zuzustellen (zum Ganzen nur BSG Beschluss vom 24.3.2015 - B 8 SO 73/14 B -, juris RdNr 6 mwN). Die Zustellung darf deshalb nur angeordnet werden, wenn alle der Sache nach geeigneten und zumutbaren Nachforschungen angestellt worden sind. Die Anfrage beim Einwohnermeldeamt allein reicht dabei nicht aus. Das SG hat hier aber keine ausreichenden Ermittlungen angestellt, sondern bereits sieben Tage, nachdem ihm bekannt geworden war, dass die bisherige Wohnung von den Klägern aufgegeben werden musste, eine öffentliche Zustellung angeordnet. Obwohl dem SG durch eine telefonische Auskunft des Einwohnermeldeamts H bekannt geworden war, dass die Kläger nach Österreich verzogen sind, hat es von der naheliegenden Möglichkeit einer Anfrage bei den österreichischen Behörden keinen Gebrauch gemacht. Es hätte neben dieser, vom Bevollmächtigten der Kläger genannten Möglichkeit auch nahe gelegen, sich vor Anordnung der öffentlichen Zustellung mit einfacher Post an die Kläger zu wenden, weil auch die Einrichtung eines Nachsendeantrags ins Ausland regelmäßig erfolgt und einer solchen Möglichkeit nachgegangen werden muss. Schließlich beziehen beide Kläger auch im Ausland weiterhin Rentenleistungen von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bayern Süd bzw der DRV Bund; eine Nachfrage bei dem jeweiligen Rentenversicherungsträger ist aber unterblieben.
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Eine Zurückweisung der Beschwerde war auch nicht deshalb geboten, weil bereits feststünde, dass die angegriffene Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben wird (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 18 mwN). Schon angesichts der fehlenden Feststellungen zum streitgegenständlichen Begehren ist ein Erfolg der Berufung nicht ausgeschlossen. Es liegt durchaus nahe, dass - entgegen der Auffassung des Beklagten - der Zeitraum für eine (denkbare) nachträgliche Leistungsgewährung nach einer (ersten) Versagung (vgl § 67 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - <SGB I>) durch eine Neuantragstellung begrenzt wird, weil ein neuer Antrag in den Fällen abschnittsweiser Bewilligung (hier nach § 44 Abs 3 SGB XII) eine Zäsur darstellt (vgl Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, § 67 SGB I RdNr 24 mwN). Über einen neuen Antrag ist dann in der Sache zu entscheiden. Lehnt der Beklagte dies - wie hier - ab, kann eine Anfechtungs- und Leistungsklage gegen diese Entscheidungen nicht von vornherein als aussichtslos angesehen werden.
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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