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BSG 07.04.2011 - B 9 SB 47/10 B
BSG 07.04.2011 - B 9 SB 47/10 B - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz - ohne hinreichende Begründung unterlassene Beweiserhebung - Zurückverweisung
Normen
§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Karlsruhe, 27. Februar 2009, Az: S 3 SB 526/08, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 5. März 2010, Az: L 8 SB 1348/09, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. März 2010 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt in der Hauptsache die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF ab 1.1.2003. Das beklagte Land lehnte seinen diesbezüglichen Antrag vom 1.12.2006 nach Einholung gutachtlicher Stellungnahmen ab (Bescheid vom 21.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.1.2008). Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Karlsruhe abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 27.2.2009). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die dagegen eingelegte Berufung des Klägers (ohne mündliche Verhandlung) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom 5.3.2010): Beim Kläger sei zwar ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt. Er sei jedoch nach den eingeholten schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen des Neurologen H. und der Rheumatologin Dr. M. nicht ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Den abweichenden Ansichten der Internisten Dr. R. und Dr. S. könne nicht gefolgt werden. Es habe kein Anlass für weitere Ermittlungen bestanden, insbesondere auch nicht durch Vernehmung der im Schriftsatz vom 29.6.2009 benannten Ehefrau des Klägers als Zeugin. Die vom Kläger gestellten Beweisfragen seien durch die eingeholten schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte geklärt. Dass die Ehefrau des Klägers über eine besondere (medizinische) Sachkunde verfüge, die gleichwohl ihre Vernehmung angezeigt erscheinen lasse, sei nicht ersichtlich.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG hat der Kläger bei dem Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Mit seiner Beschwerdebegründung macht er einen Verfahrensmangel geltend: Das LSG sei seinem Beweisantrag auf Vernehmung seiner Ehefrau als Zeugin ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 5.3.2010 ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ergangen. Der vom Kläger schlüssig gerügte Verfahrensmangel einer ohne hinreichende Begründung unterlassenen Beweiserhebung liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
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Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es dem von dem Kläger mit Schriftsätzen vom 29.6.2009 und 26.11.2009 gestellten Beweisantrag, dessen Ehefrau E. als Zeugin zu vernehmen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Für die Frage, ob ein hinreichender Grund für die unterlassene Beweiserhebung (hier: Zeugenvernehmung) vorliegt, kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10). Keiner dieser Ablehnungsgründe liegt hier vor.
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Der Kläger hat in seinem Schreiben vom 29.6.2009 ausdrücklich die (schriftliche) Vernehmung seiner Ehefrau Edeltraud Kolb zu folgenden Beweisfragen beantragt:
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Häufigkeit der Krankheitsschübe und seit wann?
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Welche Beschwerden, Hilfen, Pflege lagen und liegen vor?
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Wie machen sich die regelwidrigen Zustände bemerkbar?
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Welche Funktionsbeeinträchtigungen sind augenscheinlich?
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Wann wurde zuletzt an öffentlichen Veranstaltungen teilgenommen und aus welchen Gründen geht es nicht mehr?"
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Diesen Antrag hat er in seinem Schreiben vom 26.11.2009 ausdrücklich wiederholt und in seinem Schreiben vom 1.12.2009, in dem er sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hat, nochmals darauf hingewiesen, dass er den Sachverhalt durch die vier schriftlichen ärztlichen Stellungnahmen noch nicht für geklärt hält. Unerheblich ist, dass der Kläger in seiner Zustimmungserklärung vom 1.12.2009 den Beweisantrag nicht ausdrücklich aufrecht erhalten hat, denn dies wird nur von einem vor dem LSG rechtskundig bzw anwaltlich vertretenen Beteiligten verlangt (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5). Der Kläger war jedoch in der Berufungsinstanz noch nicht anwaltlich vertreten.
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Ausgehend von der Rechtsauffassung des LSG, dass es nach den rundfunkrechtlichen Staatsverträgen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF bei behinderten Menschen mit einem GdB von wenigstens 80 - wie dem Kläger - entscheidend darauf ankommt, ob sie wegen ihres Leidens ständig gehindert sind, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, hätte sich das LSG im Hinblick auf die unterschiedliche Beantwortung dieser Frage durch die auf der Grundlage von § 118 Abs 1 SGG, § 377 Abs 3 Satz 1 ZPO, § 414 ZPO gehörten behandelnden Ärzte zu weiterer, insbesondere zu der vom Kläger beantragten Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen. Aus der Sicht des LSG kam es auf die genannten Beweisfragen an.
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Der erkennende Senat vermag der Auffassung des LSG nicht zu folgen, dass die vom Kläger gestellten Beweisfragen durch die eingeholten schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte bereits geklärt waren. Diese hatten die Frage, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF erfüllt sind - zum Teil nur bezogen auf die von ihnen fachspezifisch erhobenen Befunde - unterschiedlich beantwortet. Während der Neurologe H. die Beweisfrage, ob der Kläger wegen seiner Funktionsbeeinträchtigungen an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könne, "aus neurologischer Sicht" verneint hat, ist der Arzt für innere Medizin Dr. R. zu der Beurteilung gelangt, dass beim Kläger ein erheblich eingeschränkter Bewegungsradius vorliege und Gehstrecken von über 50 m ein erhebliches Hindernis darstellten. Die Rheumatologin Dr. M. hat die Ansicht vertreten, eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen sei erheblich erschwert und - je nach Art der Veranstaltung - unmöglich. Der Arzt für innere Medizin (Lungen- und Bronchialheilkunde) Dr. S. hat eine Teilnahme des Klägers an öffentlichen Veranstaltungen derzeit längerfristig (6 - 12 Monate) für absolut unmöglich gehalten. Der zu klärende Sachverhalt stand mithin aufgrund der vom LSG durchgeführten Beweisaufnahme noch nicht zweifelsfrei fest.
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Die Vernehmung der Ehefrau als Zeugin zu den vom Kläger gestellten Beweisfragen ist auch kein völlig ungeeignetes Beweismittel. Selbst wenn die Ehefrau über keine medizinische Sachkunde verfügt, so hätte sie doch zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts beitragen können, etwa indem sie vom Gericht (mündlich oder schriftlich) zur tatsächlichen Bewegungsfähigkeit des Klägers (mit und ohne Hilfe von Begleitpersonen oder technischen Hilfsmitteln) sowie zu sonstigen Gegebenheiten seiner Lebensführung befragt worden wäre. Die Angaben eines Laien können für ein Gericht durchaus geeignet sein, sich ein genaueres Bild über den funktionalen Zustand eines behinderten Menschen zu verschaffen (zum Beweis durch Zeugenvernehmung betreffend soziale Anpassungsschwierigkeiten bei psychischen Störungen: BSG Beschluss vom 20.7.2005 - B 9a VG 7/05 B, RdNr 11 f; BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R, RdNr 45; vgl allgemein auch BSG Urteil vom 19.3.1969 - 10 RV 225/68 - juris RdNr 18; BSG Urteil vom 28.1.1993 - 2 RU 37/92 - juris RdNr 20). Die Aussage der Ehefrau des Klägers hätte sodann - zusammen mit den unterschiedlichen Antworten der behandelnden Ärzte - einem im Schwerbehindertenrecht erfahrenen ärztlichen Sachverständigen vorgelegt werden können, der - eventuell nach Untersuchung des Klägers - das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF aus medizinischer Sicht abschließend und zusammenfassend hätte beurteilen können (vgl hierzu Nr 33 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Ausgabe 2005 iVm den einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften über die Befreiung natürlicher Personen von der Rundfunkgebührenpflicht).
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Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen weiterer Beweiserhebung kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass entsprechende Ermittlungen (Durchführung der beantragten Zeugenvernehmung und etwaige abschließende zusammenfassende Beurteilungen durch einen ärztlichen Sachverständigen) neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben hätten, die möglicherweise dazu geführt hätten, dass das LSG im Rahmen seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
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Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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