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BVerfG 16.07.2020 - 1 BvR 1525/20
BVerfG 16.07.2020 - 1 BvR 1525/20 - Erfolgloser Eilantrag gegen die teilweise Entziehung der elterlichen Sorge, um dem betroffenen Kind den Besuch einer Förderschule zu ermöglichen - Folgenabwägung
Normen
Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 3 Nr 6 BGB
Vorinstanz
vorgehend OLG Koblenz, 13. Mai 2020, Az: 13 UF 97/20, Beschluss
vorgehend AG Koblenz, 7. Januar 2020, Az: 208 F 162/18, Beschluss
nachgehend BVerfG, 14. September 2021, Az: 1 BvR 1525/20, Nichtannahmebeschluss
Tenor
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde und der mit dieser gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen den teilweisen Entzug der elterlichen Sorge mit dem Ziel, die Beschwerdeführerin zu 2) in einer Förderschule zu beschulen.
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I.
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1. Die Beschwerdeführerin zu 1) ist die alleinsorgeberechtigte Mutter der im Jahr 2005 geborenen Beschwerdeführerin zu 2), die zur Zeit eine Realschule plus in Rheinland-Pfalz besucht. Dort wird sie täglich drei Stunden beschult. Die Beschwerdeführerin zu 1) hatte die Beschwerdeführerin zu 2) zuvor nach dem Abschluss der Grundschule auf einem Gymnasium angemeldet, wo es nach kurzer Zeit zu erheblichen Konflikten kam. Der Beschwerdeführerin zu 2) wurde schließlich ein Schulausschluss auf Dauer erteilt. In den Jahren 2012, 2014 und 2018 wurden jeweils Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs der Beschwerdeführerin zu 2) durchgeführt. In den hierfür erstellten Gutachten wurde ein Intelligenzquotient der Beschwerdeführerin zu 2) von 70 beziehungsweise 74 ermittelt. Ferner wurde Förderbedarf zunächst im Schwerpunkt Lernen, später im Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung und im Bildungsgang Berufsreife festgestellt. Die Beschwerdeführerin zu 1) besteht auf einer inklusiven Beschulung der Beschwerdeführerin zu 2). Sie lehnt die vorgehaltenen sonderpädagogischen Angebote in der Schule ab.
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2. Das Jugendamt sieht das Kindeswohl der Beschwerdeführerin zu 2) bei einem Verbleib in der Regelschule als gefährdet an. Deshalb hat es beim Familiengericht einen Entzug von Teilen der elterlichen Sorge angeregt.
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Mit durch die Verfassungsbeschwerde angegriffenem Beschluss vom 7. Januar 2020 entzog das Amtsgericht der Beschwerdeführerin zu 1) das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen, zur Stellung von Anträgen nach den Sozialgesetzbüchern, zur Regelung schulischer Belange sowie die Gesundheitssorge für die Beschwerdeführerin zu 2). Es ordnete Ergänzungspflegschaft des Jugendamts an und gab der Beschwerdeführerin zu 1) auf, transparent und konstruktiv mit dem Ergänzungspfleger zusammenzuarbeiten und diesen über wesentliche, das Kindeswohl betreffende Umstände ungefragt und zeitnah zu informieren. Eine hiergegen erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin zu 1) wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 13. Mai 2020 zurück. Die Fachgerichte begründeten ihre Entscheidungen damit, dass die angeordneten Maßnahmen zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung erforderlich seien. Trotz stetiger gegenteiliger Ratschläge aller Fachkräfte übe die Beschwerdeführerin zu 1) einen derart enormen Leistungsdruck auf die Beschwerdeführerin zu 2) aus, der deren permanente Überforderung bewirke. Die Beschwerdeführerin zu 1) sei nicht in der Lage, Empfehlungen von Fachkräften anzunehmen, zu reflektieren und umzusetzen. Sämtliche Lehrer würden eine Überforderung des Kindes, die durch aggressives Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrern zutage trete, aufgrund des Leistungsdrucks durch die Beschwerdeführerin zu 1) beschreiben sowie massive Ängste der Beschwerdeführerin zu 2) vor Verhaltensweisen und Reaktionen der Beschwerdeführerin zu 1). Eine Kinder- und Jugendpsychologin habe psychische Beeinträchtigungen bei der Beschwerdeführerin zu 2) beobachtet. Diese vermittle den Eindruck von Verzweiflung, Traurigkeit und fehlender Lebenslust bis hin zur Äußerung von Suizidgedanken. Das Jugendamt, die Verfahrensbeiständin, die Schulbehörde würden die weitere Beschulung der Beschwerdeführerin zu 2) auf einer Förderschule empfehlen. Die Lehrer seien der Ansicht, dass sie auf der aktuellen Schule nicht weiter beschult werden könne. Mildere Mittel seien nicht zur Abwehr der Gefahr geeignet. In einem vorangegangen Verfahren erteilte Auflagen mit dem Ziel der Bereitstellung und Annahme von Hilfen habe die Beschwerdeführerin zu 1) nicht oder nur vordergründig erfüllt; sämtliche angebotenen Hilfestellungen habe sie abgelehnt oder abgebrochen.
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3. In der Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und im Recht der Beschwerdeführerin zu 2) aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geltend. Ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist darauf gerichtet, die Vollziehung der angegriffenen Entscheidung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde einstweilen auszusetzen.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 186>; 103, 41 42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde (vgl. BVerfGE 34, 211 216>; 36, 37 40>). In Sorgerechtsstreitigkeiten ist auch zu berücksichtigen, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Februar 2009 - 1 BvR 142/09 -, Rn. 8).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ‒ jedenfalls der Beschwerdeführerin zu 1) ‒ ist nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Die somit erforderliche Folgenabwägung ergibt, dass die Folgen, insbesondere die Nachteile für das Kindeswohl, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, weniger schwer wiegen als die Folgen, die sich ergäben, wenn die einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber erfolglos wäre.
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Würde die Vollziehung der angegriffenen Entscheidungen ausgesetzt, so wäre die Beschwerdeführerin zu 1) weiter berechtigt, über die Beschulung der Beschwerdeführerin zu 2) zu entscheiden. Diese würde dann weiterhin in der Regelschule beschult. Gleichzeitig würden die in der Regelschule angebotenen sonderpädagogischen Maßnahmen weiterhin abgelehnt. Nach den in der Abwägung zugrunde zu legenden Feststellungen der Fachgerichte bedeutet diese Beschulung für die Beschwerdeführerin zu 2) eine dauernde Überforderung. Es wäre damit zu rechnen, dass sie weiterhin unter einem hohen Leistungsdruck stünde, dem sie aufgrund der festgestellten Einschränkungen nicht gerecht werden könnte. Nach den Feststellungen der Fachgerichte wäre sie deshalb permanent überfordert, traurig, verzweifelt und ohne jegliche Lebenslust, bis hin zur Entwicklung von Suizidgedanken. Erneutes aggressives Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrern wäre von ihr zu erwarten. Bei schlechten Noten würde sie erhebliche Ängste vor der Reaktion der Beschwerdeführerin zu 1) entwickeln. Die im Rahmen einer ärztlichen Begutachtung im Verfahren über die Gewährung von Eingliederungshilfe festgestellte Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit und der Teilhabe am Leben der Beschwerdeführerin zu 2) würde voraussichtlich weiter verfestigt. Bei späterer Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestünde somit die seelische Belastung der Beschwerdeführerin zu 2), vor der sie durch die angegriffenen Entscheidungen bewahrt werden sollte, weiter bis zum Abschluss des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde fort.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, würden die angegriffenen Entscheidungen aber später auf die Verfassungsbeschwerde hin aufgehoben, so würde die Beschwerdeführerin zu 2) aufgrund einer entsprechenden Entscheidung des Ergänzungspflegers in einer Förderschule beschult. Sie müsste dann gegen den Willen der Beschwerdeführerin zu 1) einen Schulwechsel hinnehmen und möglicherweise ‒ nach Erfolg der Verfassungsbeschwerde ‒ einen erneuten Wechsel von der Förder- in die Regelschule vornehmen. Auch solche Schulwechsel sind grundsätzlich als erhebliche Belastung anzusehen. Hier kommt insoweit auch hinzu, dass die Beschwerdeführerin zu 1) mit der Beschulung in der Förderschule nicht einverstanden ist, was mit entsprechenden Schwierigkeiten im Verhältnis zur Schule rechnen lässt.
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Bei einer Gesamtabwägung wiegen diese im vorstehenden Absatz genannten Belastungen aber weniger schwer als die von den Fachgerichten festgestellten Folgen der Beschulung in der Regelschule, denn gerade der Leistungsdruck, der die dauernde Überforderung der Beschwerdeführerin zu 2) im Wesentlichen ausgelöst hat, würde entfallen. Dass die durch die Schulwechsel zu erwartenden Belastungen in vergleichbarer Weise zu Traurigkeit, Verzweiflung und fehlender Lebenslust führen würden, ist nicht ersichtlich, zumal die Beschwerdeführerin zu 2) selbst in der von den Fachgerichten durchgeführten Anhörung einem möglichen Schulwechsel nicht entgegentrat, sondern erklärte, sich diesen vorstellen zu können. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen ist auch nicht anzunehmen, dass durch den Wechsel in die Förderschule unumkehrbare Fakten geschaffen würden. Die Behauptung, die Beschwerdeführerin zu 2) würde den Anschluss an die Lehrinhalte der Regelschule verlieren und könnte diese Inhalte nur schwer wieder aufholen, ist nicht weiter substantiiert. Ebenso benennen die Beschwerdeführerinnen nur allgemein eine Gefahr einer Stigmatisierung durch die zwischenzeitliche Beschulung in der Förderschule, ohne dass Hinweise ersichtlich sind, dass eine solche konkret droht und nicht durch Maßnahmen in der Schule aufgefangen werden könnte.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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