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BVerfG 21.05.2012 - 1 BvR 1841/10, 1 BvR 1846/10, 1 BvR 1850/10, 1 BvR 1858/10
BVerfG 21.05.2012 - 1 BvR 1841/10, 1 BvR 1846/10, 1 BvR 1850/10, 1 BvR 1858/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung
Vorinstanz
vorgehend OLG Braunschweig, 2. Juni 2010, Az: 3 U 171/08, Beschluss
vorgehend OLG Braunschweig, 2. Juni 2010, Az: 3 U 177/08, Beschluss
vorgehend OLG Braunschweig, 2. Juni 2010, Az: 3 U 182/08, Beschluss
vorgehend OLG Braunschweig, 2. Juni 2010, Az: 3 U 190/08, Beschluss
Tenor
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1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2010 - 3 U 171/08, 3 U 177/08, 3 U 182/08 und 3 U 190/08 - verletzen die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sachen an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
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Damit werden die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 30. November 2010 - 3 U 171/08, 3 U 177/08, 3 U 182/08 und 3 U 190/08 - gegenstandslos.
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2. ...
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3. Der Gegenstandswert wird auf jeweils 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerden betreffen eine zivilrechtliche Auseinandersetzung über eine Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluss ("Prospekthaftung im weiteren Sinne") wegen der Beteiligung von Anlegern an einer Fondsgesellschaft.
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Die Beschwerdeführer beteiligten sich über eine als Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisierte Treuhandkommanditistin, eine der Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Treuhandkommanditistin), auf der Grundlage eines Emissionsprospekts an einer als Kommanditgesellschaft organisierten Fondsgesellschaft, der F. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Fondsgesellschaft). Komplementärin der Fondsgesellschaft war eine weitere Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ebenfalls Beklagte des Ausgangsverfahrens. Sowohl die Treuhandkommanditistin als auch die Komplementärin verfügten über jeweils einen Geschäftsführer, die weiteren Beklagten des Ausgangsverfahrens.
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Die Beschwerdeführer nahmen die Treuhandkommanditistin, die Komplementärin und deren Geschäftsführer im Ausgangsverfahren auf Leistung von Schadenersatz unter anderem aus Verschulden bei Vertragsschluss ("Prospekthaftung im weiteren Sinne") in Anspruch. Zur Begründung trugen sie unter anderem vor, die Treuhandkommanditistin, die Komplementärin und die Geschäftsführer hätten in dem Emissionsprospekt auf ein laufendes Ermittlungsverfahren gegen die Geschäftsführer hinweisen müssen. Nach Schluss der mündlichen Verhandlungen in erster Instanz ergänzten sie ihr Vorbringen zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Außerdem behaupteten sie unter Verweis auf die Praktiken bei der parallel initiierten Fondsgesellschaft V. GmbH & Co. KG (im Folgenden: V. KG), für die sie entsprechende Unterlagen vorlegten, der Geschäftsführer der Komplementärin habe nach Herausgabe des Emissionsprospekts, aber vor dem Beitritt der Anleger die mit dem Vermittler der Anlage getroffene Absprache über die geschuldete Provision für den Fall einer Stornierung von Verträgen zum Nachteil der Fondsgesellschaft geändert. Dazu traten die Beschwerdeführer Beweis an durch den Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Komplementärin. Das Landgericht wies die Klagen ab.
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Gegen das jeweilige Urteil legten die Beschwerdeführer Berufung ein. In der Berufungsinstanz vertieften sie ihren Vortrag zu einzelnen Prospektfehlern (Unterlassen eines Hinweises auf das bei Herausgabe des Emissionsprospekts laufende Ermittlungsverfahren, nachteilige Veränderung der Vertriebsvereinbarung im Falle von Stornierungen).
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Das Oberlandesgericht wies in den gesondert geführten Verfahren auf seine Absicht hin, die Berufungen durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen: Soweit die Beschwerdeführer eine nachträgliche Änderung der Vertriebsvereinbarung für die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft behaupteten, sei der Vortrag schon deshalb unbeachtlich, weil die Behauptung ins Blaue hinein aufgestellt sei.
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In ihren Stellungnahmen zu den Hinweisbeschlüssen boten die Beschwerdeführer weiteren Zeugenbeweis dafür an, dass die Stornoregeln der streitgegenständlichen Fondsgesellschaft denen in anderen Gesellschaften der G. Gruppe angeglichen worden seien, sowie Beweis durch Sachverständigengutachten zur Berechnung der Auswirkungen der geänderten Stornoregeln.
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Das Oberlandesgericht wies durch die jeweils mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse die Berufungen zurück. Es nahm Bezug auf die Hinweisbeschlüsse und wiederholte, dass die Behauptung einer nachträglich geänderten Provisionsvereinbarung für die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft ins Blaue hinein aufgestellt und damit unbeachtlich sei. Die Anhörungsrügen der Beschwerdeführer hatten keinen Erfolg.
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II.
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Die Beschwerdeführer sehen sich in ihren verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Sie tragen unter anderem vor, das Oberlandesgericht habe unter Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs unterstellt, es stelle keinen wesentlichen Prospektfehler dar, dass in dem Prospekt der V. KG auf künftig entstehende hohe Kosten für die Vermittlung auch im Falle einer Stornierung nicht hingewiesen werde. Es habe weiter ihren Vortrag einschließlich Beweisantritte übergangen, dass eine identische Nachtragsvereinbarung auch für die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft geschlossen worden sei. Schließlich sei der Vortrag unberücksichtigt geblieben, dass die verkürzte Stornonachhaftung des Vermittlers nicht durch "Abgangsentschädigungen" der Anleger im Falle einer vorzeitigen Stornierung ihrer Beteiligung habe kompensiert werden können, weil von Anfang an die Absicht bestanden habe, stornierenden Anlegern die "Abgangsentschädigung" zu erlassen.
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III.
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Die Verfassungsbeschwerden sind dem Niedersächsischen Justizministerium und den Beklagten des Ausgangsverfahrens zugestellt worden. Der Bundesgerichtshof wurde in einem Parallelverfahren (betreffend den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2010 - 3 U 147/08 -, aufgehoben durch Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2012 - 1 BvR 1819/10 -, WM 2012, S. 492) um eine Stellungnahme gebeten. Die Akten der Ausgangsverfahren sind beigezogen.
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Das Niedersächsische Justizministerium vertritt die Auffassung, das Oberlandesgericht habe den Anspruch auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführer nicht verletzt. Es habe den Vortrag zur fehlenden Angabe der Nachtragsvereinbarung zur Stornonachhaftung als unsubstantiiert gewürdigt. Die dazu angebotenen Beweisanträge hätten sich damit als nicht entscheidungserheblich erwiesen. Dies gelte auch für die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass ein Prospektfehler insoweit jedenfalls nicht wesentlich sei wegen der Kompensation der Stornoeffekte durch eine Abgangsentschädigung der Anleger von 15 % der Anlagesumme.
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Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat in dem Parallelverfahren Äußerungen des Vorsitzenden des II. und des III. Zivilsenats übermittelt. Der Vorsitzende des II. Zivilsenats hat mitgeteilt, der Senat sei mit der Haftung für Prospektmängel unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Änderung der Vereinbarung mit einem Vermittler und dem nachträglichen Erlass von Abgangsentschädigungen bislang nicht befasst gewesen. Der Vorsitzende des III. Zivilsenats hat ausgeführt, Prospektangaben zu Vertriebsprovisionen dürften nicht irreführend sein. Der Anleger dürfe auch erwarten, dass die "Weichkosten" wie prospektiert verwendet würden. An die Substantiierungspflicht des Anlegers dürften dabei keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden; die Kausalität einer unrichtigen Prospektdarstellung für die Anlageentscheidung werde vermutet. Ob eine unrichtige Prospektdarstellung, die in Fällen der Stornierung der Anlage von einem zu hohen Rückfluss von Provisionen ausgehe, dadurch aufgewogen werden könne, dass der Prospekt die Zahlungen von Abgangsentschädigungen vorsehe, sei zweifelhaft. Soweit vorgetragen und unter Beweis gestellt worden sei, dass entgegen dem Prospektinhalt auf die Zahlung einer solchen Abgangsentschädigung von vornherein verzichtet worden sei, dürften auch an die Substantiierung dieses Vortrags, der sich prinzipiell auf Vorgänge außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Anlegers beziehe, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.
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Die Beklagten des Ausgangsverfahrens haben von einer Stellungnahme abgesehen.
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IV.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihnen statt. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 103 Abs. 1 GG auch offensichtlich begründet.
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Die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufung verletzt die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG; der Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist insoweit im Hinblick auf den Vortrag der Beschwerdeführer im Anhörungsrügeverfahren erschöpft.
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Hier lag keiner der möglichen Gründe vor, derentwegen die Beweisantritte der Beschwerdeführer hätten unbeachtet bleiben dürfen, ohne dadurch Art. 103 Abs. 1 GG zu verletzen. Das Oberlandesgericht hat sich nur unzureichend und unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG mit dem durch den Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Komplementärin sowie dem Antritt von Zeugen- und Sachverständigenbeweis unterlegten Vorbringen der Beschwerdeführer befasst, die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft habe nachträglich in eine Änderung der Vertriebsbedingungen zu ihrem Nachteil eingewilligt, ohne dass der dadurch unrichtig gewordene Emissionsprospekt korrigiert worden sei, was einen wesentlichen Prospektfehler darstelle.
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Der Vortrag der Beschwerdeführer war hinreichend konkret und - die Fondsgesellschaft V. KG betreffend - hinlänglich in den Einzelheiten ausgeführt. Dass bei der hier streitgegenständlichen Fondsgesellschaft, die parallel initiiert wurde, in gleicher Weise verfahren worden war, lag nahe. Der Vortrag, dass bei ihr ebensolche nachträglichen Änderungen vereinbart worden seien, stellte demgemäß keine willkürliche Behauptung ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts im Sinne der Definition einer Behauptung "ins Blaue hinein" dar. Wegen der weiteren Begründung wird im Einzelnen auf den Beschluss der Kammer vom 24. Januar 2012 - 1 BvR 1819/10 - (WM 2012, S. 492) Bezug genommen.
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Die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts sind danach aufzuheben und die Sachen jeweils an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Damit wird der jeweilige Beschluss des Oberlandesgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos. Ob zugleich eine Verletzung weiterer, als verletzt gerügter verfassungsmäßiger Rechte der Beschwerdeführer im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG gegeben ist, bedarf deshalb keiner Entscheidung mehr.
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V.
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Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 366 ff.>). Der Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt, wenn der Verfassungsbeschwerde durch die Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen hier Besonderheiten auf, die eine Abweichung veranlassen.
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