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BVerfG 13.01.2010 - 1 BvR 2910/09
BVerfG 13.01.2010 - 1 BvR 2910/09 - Erlass einer einstweiligen Anordnung, die Wirksamkeit eines gerichtlichen Beschlusses vorläufig auszusetzen, der die Herausgabe eines dreijährigen Kindes durch dessen Pflegeeltern an seine leiblichen Eltern anordnete - Beeinträchtigung des Kindeswohls durch mehrfachen Wechsel des Zuhauses und der Bezugspersonen
Normen
Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 2 BVerfGG, § 29a FGG
Vorinstanz
vorgehend OLG Hamm, 21. Oktober 2009, Az: II-12 UF 283/08, Beschluss
nachgehend BVerfG, 31. März 2010, Az: 1 BvR 2910/09, Stattgebender Kammerbeschluss
Tenor
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Die Wirksamkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Oktober 2009 - II-12 UF 283/08 - wird einstweilen bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens für sechs Monate ausgesetzt.
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Gründe
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I.
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Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der minderjährige Beschwerde-führer, vertreten durch seine Ergänzungspflegerin, gegen eine oberlandesgerichtliche Entscheidung, die seine Pflegeeltern zu seiner Herausgabe an seine leiblichen Eltern verpflichtet.
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1. Der im Juli 2006 geborene Beschwerdeführer kam im Alter von sechs Wochen erstmals wegen einer Weichteilinfektion an der rechten Hüfte und am rechten Oberschenkel aufgrund - wie nachträglich angenommen wurde - gewaltsamer Verdrehungen ins Krankenhaus. Im Alter von zehn Wochen wurde er nach einem cerebralem Krampfanfall drei Wochen stationär behandelt wegen lebensbedrohlicher subduraler Hirnblutungen unterschiedlichen Alters, deren Ursache schwere physische Misshandlungen (Schütteltraumata) waren. Nach seiner Entlassung kam der Beschwerdeführer zunächst in eine Bereitschaftspflegefamilie und ab dem 11. Februar 2007 in die Dauerpflege zu Pflegeeltern, bei denen er bis heute lebt.
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Die Eltern und die Großeltern, von denen er gelegentlich betreut worden war, verneinen eine Misshandlung. Das gegen die Eltern eingeleitete Ermittlungsver-fahren wurde Ende August 2007 eingestellt, weil der Schuldige nicht ermittelt wer-den konnte.
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a) Einige Tage später beantragten die mittlerweile gemeinsam sorgeberechtig-ten leiblichen Eltern die Herausgabe des Beschwerdeführers. Die Pflegeltern beantragten, das Verbleiben des Beschwerdeführers bei ihnen anzuordnen.
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Das Amtsgericht bestellte eine Verfahrenspflegerin und holte ein kinderpsy-chologisches Gutachten des Dipl.-Psych. Prof. Dr. O. vom 30. April 2008 ein. Nach Anhörung der Beteiligten wies es mit Beschluss vom 12. November 2008 die Herausgabeanträge der Eltern zurück und ordnete das Verbleiben des Beschwerdeführers bei den Pflegeeltern an. Dem bei dem Beschwerdeführer aufgrund der Geschehnisse festzustellenden Nachholbedarf in der frühkindlichen Entwicklung sei in jeder Hinsicht Rechnung zu tragen. Ein erneuter Beziehungsabbruch sei dem Beschwerdeführer im Hinblick auf ein bestehendes erhöhtes Risiko für (neue) Probleme und eine suboptimale Entwicklung in allen Bereichen nicht zuzumuten.
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b) Auf die hiergegen eingelegte Beschwerde der leiblichen Eltern holte das Oberlandesgericht eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. O. vom 18. April 2009 ein, die auch die Kindeseltern und Großeltern väterlicherseits in die Begutachtung einbezieht, und hörte den Sachverständigen mündlich an. Mit Beschluss vom 21. Oktober 2009 änderte es den amtsgerichtlichen Beschluss dahingehend ab, dass den Pflegeeltern die Herausgabe des Beschwerdeführers an seine Eltern bis spätestens zum 31. Januar 2010 aufgegeben wurde.
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Zur Begründung führte es aus, dem Herausgabeverlangen der Eltern sei stattzugeben. Zunächst könne ein schwerwiegendes Fehlverhalten der Eltern nicht festgestellt werden, da das Strafverfahren wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung eingestellt worden sei und weitere Erkenntnismöglichkeiten nicht ersichtlich seien. Entscheidend sei daher allein, ob der Umstand, dass die Trennung des Beschwerdeführers von seinen Pflegeeltern für ihn eine erhebliche psychische Belastung bedeute, ausreichender Grund dafür sein könne, den Verbleib des Kindes im Haushalt der Pflegeeltern anzuordnen. Das verneine der Senat.
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Dabei verkenne er in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen nicht, dass der Beschwerdeführer keine Bindungen zu seinen leiblichen Eltern habe. Das führe zum einen dazu, dass dem Kind ein Neuaufbau der bisher vorhandenen Orientierungen zugemutet werde. Zum anderen verliere der Beschwerdeführer seine wichtigsten fürsorgenden Bezugspersonen. Das begründe durchaus eine Gefährdung des Kindeswohls: Bindungsabbrüche wirkten sich in vielen Entwicklungsbereichen negativ aus und bedeuteten einen gravierenden Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen. Die entscheidende Frage sei danach, ob die Kindeswohlgefährdung ein Ausmaß habe und Schäden für das Kind mit einer Wahrscheinlichkeit zu besorgen seien, die es verlangten, den Kindesinteressen aber auch den Interessen der Pflegeeltern unbedingten Vorrang vor denen der leiblichen Eltern zu geben. Das könne der Senat nicht feststellen. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zwangsläufig eintreten müsse. Er habe dargelegt, dass es immer wieder Kinder gebe (zwischen 25 und 30 %), die trotz mehrfacher Risikofaktoren keine erheblichen Störungen aufwiesen. In seinem schriftlichen Gutachten sei der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass sich nicht genau vorhersagen lasse, ob der Beschwerdeführer aufgrund des Bindungsabbruchs psychische Störungen entwickeln werde. Auf jeden Fall werde aber die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung solcher Störungen durch einen Abbruch der Bindungen deutlich steigen. Diese Einschätzung habe der Sachverständige auch bei seiner persönlichen Anhörung nicht konkretisieren können. Er habe insbesondere der Gefahr psychischer Störungen keinen Grad der Wahrscheinlichkeit zuordnen können. Die Lebensentwicklung lasse sich nicht vorhersagen.
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Nach allem könne zwar davon ausgegangen werden, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spreche, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Trennung von seinen Pflegeltern psychische Störungen entwickeln werde. Immerhin bestehe aber die erhebliche Chance, dass das Kind sich unauffällig verhalten werde oder auftretende psychische Auffälligkeiten jedenfalls nicht das Ausmaß einer Erkrankung erreichten. Bei dieser Sachlage sei es nicht vertretbar, den leiblichen Eltern die Betreuung und Erziehung des Kindes vorzuenthalten. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die leiblichen Eltern mit den Schwierigkeiten des Beschwerdeführers einfühlsam umgehen könnten und dass sie bereit und fähig seien, intensive fachliche Beratung in Anspruch zu nehmen, um ihre Erziehungsfähigkeit zu fördern. Auch bestünden zwischen den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern in erforderlichem Maße Kooperationsmöglichkeiten und Kooperationsbereitschaft.
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Die Befristung der Herausgabeanordnung beruhe darauf, dass es das Kin-deswohl erfordere, dass der Wechsel des Beschwerdeführers aus dem Haushalt der Pflegeeltern in den der Eltern kindgerecht vorbereitet werde. Dabei halte der Senat es für erforderlich, dass das Jugendamt die Beteiligten insoweit unterstütze und den Wechsel begleite.
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2. Gegen diese Entscheidung des Oberlandesgerichts richtet sich die Verfassungsbeschwerde, die die durch das Amtsgericht auch zur Ergänzungspflegerin für das Verfassungsbeschwerdeverfahren bestellte Verfahrenspflegerin im Namen des Beschwerdeführers eingelegt hat. Gerügt wird eine Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 6 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung. Zugleich hat die Ergänzungspflegerin für den Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Nachdem das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 23. Dezember 2009 die Bestellung der Verfahrenspflegerin zur Ergänzungspflegerin für das vorliegende Verfahren aufgehoben und eine neue Ergänzungspflegerin bestellt hat, hat letztere die eingelegte Verfassungsbeschwerde und den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung genehmigt.
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II.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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a) Der Zulässigkeit des Antrags steht insbesondere nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde auch eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG rügt, ohne zuvor im fachgerichtlichen Verfahren eine Anhörungsrüge gemäß § 29a FGG erhoben zu haben. Denn ungeachtet der Frage der Zulässigkeit dieses Rechtsbehelfs im vorliegenden Fall sind hier die Voraussetzungen einer sofortigen Entscheidung der Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gegeben. In Anbe-tracht der durch den angefochtenen Beschluss bis zum 31. Januar 2010 angeordneten Herausgabe des Beschwerdeführers an seine Eltern und der erst mit Beschluss vom 23. Dezember 2009 erfolgten Bestellung der den Beschwerdeführer vertretenden Ergänzungspflegerin ist ihm die vorherige Einlegung einer Anhörungsrüge jedenfalls nicht mehr zumutbar.
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b) Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung hat auch in der Sache Erfolg.
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aa) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 186>; 103, 41 42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde (vgl. BVerfGE 34, 211 216>; 36, 37 40>).
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bb) Diese Folgenabwägung führt, nachdem die Verfassungsbeschwerde zulässig und nicht offensichtlich unbegründet ist, im vorliegenden Fall zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so würde der Beschwerdeführer zumindest zweimal einem Wechsel seiner engsten Betreuungspersonen ausgesetzt, was in Anbetracht seines jungen Alters und seiner Beeinträchtigung durch zwei schon früher erfahrene Wechsel seiner Betreuungspersonen sehr wahrscheinlich mit erheblichen psychischen Belastungen verbunden wäre. Der erst dreijährige Beschwerdeführer müsste zunächst entsprechend dem mit seiner Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts bis spätestens zum 31. Januar 2010 an seine leiblichen Eltern, zu denen er bislang keine Bindungen hat, herausgegeben werden. Dies wäre neben dem Verlust seiner engsten Bezugspersonen in Gestalt seiner Pflegeeltern auch mit einem Wechsel seines ihm vertrauten häuslichen Umfelds verbunden. Hätte die Verfassungsbeschwerde später Erfolg, so müsste der Beschwerdeführer erneut einen Wechsel seiner Bezugspersonen und seiner persönlichen Umgebung zurück zu den Pflegeeltern verkraften. Dabei wäre bis zu einer erneuten Entscheidung des Oberlandesgerichts offen, ob das Herausgabeverlangen der leiblichen Eltern letztlich nicht doch erfolgreich wäre mit der Folge, dass der Beschwerdeführer gegebenenfalls noch ein drittes Mal den erheblichen Belastungen einer Änderung seiner engsten Kontakte unterzogen würde. Die insoweit drohenden mehrfachen Wechsel des Zuhauses und der unmittelbaren Bezugspersonen beeinträchtigten das Kindeswohl in erheblichem Maße.
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Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, so bliebe der Beschwerdeführer bis zum Abschluss des Verfahrens bei den Pflegeeltern in seiner vertrauten Umgebung. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, so verzögerte sich die Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Ursprungsfamilie und damit auch die vollständige Ausübung des Elternrechts durch die leiblichen Eltern um einen - allerdings überschaubaren - Zeitraum.
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Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die durch mehrfache Ortswechsel drohende erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung, die sich bei dem dreijährigen Beschwerdeführer im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung realisieren könnte.
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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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