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BFH 28.06.2023 - VI R 28/21
BFH 28.06.2023 - VI R 28/21 - Kein Zufluss von Arbeitslohn wegen fehlender Insolvenzsicherung des Arbeitslohnanspruchs
Normen
§ 41 Abs 1 S 1 AO, § 11 Abs 1 S 4 EStG 2002, § 38a Abs 1 S 2 EStG 2002, § 38a Abs 1 S 3 EStG 2002, § 42d Abs 1 Nr 1 EStG 2002, § 11 Abs 1 S 4 EStG 2009, § 38a Abs 1 S 2 EStG 2009, § 38a Abs 1 S 3 EStG 2009, § 42d Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 7d SGB 4, § 7e SGB 4, EStG VZ 2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012, EStG VZ 2013
Vorinstanz
vorgehend Thüringer Finanzgericht, 25. November 2021, Az: 4 K 122/18, Urteil
Leitsatz
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NV: Die fehlende Insolvenzsicherung und das damit einhergehende Risiko des (Wert-)Verlusts eines vom Arbeitgeber nicht erfüllten Lohnanspruchs führen nicht zum Zufluss von Arbeitslohn.
Tenor
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Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 25.11.2021 - 4 K 122/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) zahlte verschiedenen Arbeitnehmern ab dem Jahr 2008 Gehaltsansprüche --im Wesentlichen Prämien und Weihnachtsgeld-- nicht aus. Sie hatte mit den betreffenden Arbeitnehmern vereinbart, dass die nicht ausgezahlten Arbeitslöhne noch einzurichtenden sogenannten Zeitwertkonten gutgeschrieben werden sollten.
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Im November 2011 schloss die Klägerin mit den Arbeitnehmern sodann Wertguthabenvereinbarungen über die Führung von Wertkonten zum Zweck der ruhestandsnahen Freistellung ab. Die Wertguthaben wurden nach diesen Vereinbarungen durch die … GmbH (X-GmbH) geführt. Die Wertguthaben einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrags hatte die Klägerin gegen das Risiko einer Insolvenz durch ein den Anforderungen des § 7e Abs. 2 Satz 1 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV) entsprechendes Treuhandmodell gesichert. Im März 2012 führte die Klägerin die nicht ausgezahlten Arbeitslöhne den bei der X-GmbH eingerichteten Wertkonten der Arbeitnehmer zu.
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Im Rahmen einer bei der Klägerin durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung vertrat die Prüferin die Auffassung, Wertgutschriften auf einem Zeitwertkonto lösten lohnsteuerrechtlich nur dann keinen Zufluss aus, wenn bestimmte Vorgaben eingehalten seien, insbesondere eine sogenannte Zeitwertkontengarantie vorliege. Bis November 2011 seien die Voraussetzungen der Zeitwertkontengarantie wegen fehlender Zeitwertkonten jedoch nicht erfüllt. Die vorher entstandenen und fälligen Prämien seien den Arbeitnehmern deshalb zugeflossen und unterlägen dem Lohnsteuerabzug, den die Klägerin zu Unrecht nicht vorgenommen habe.
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Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) folgte der Auffassung der Prüferin und erließ einen entsprechenden Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnabzugsbeträge. Während des Einspruchsverfahrens nahm das FA den Haftungsbescheid teilweise zurück und wies den Einspruch der Klägerin anschließend als unbegründet zurück.
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Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 120 veröffentlichten Gründen statt.
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Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
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Es beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision des FA ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Klägerin hat die Lohnsteuern und Nebenabgaben, für die sie als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommen worden ist, nicht fehlerhaft angemeldet und abgeführt.
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1. Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn für Rechnung des Arbeitnehmers einzubehalten und abzuführen hat. Die Klägerin hat ihren Arbeitnehmern allerdings nicht dadurch Arbeitslohn zugewandt, dass sie einzelne Lohnbestandteile --insbesondere Prämien und Weihnachtsgeld-- nicht ausgezahlt, sondern zu dem Zweck einbehalten hat, die betreffenden Beträge zukünftig einzurichtenden Wertguthabenkonten gutzuschreiben.
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a) Nur zugeflossener Arbeitslohn unterliegt der Einkommensteuer und dem Lohnsteuerabzug (Senatsurteil vom 22.02.2018 - VI R 17/16, BFHE 260, 532, BStBl II 2019, 496, Rz 26). Hinsichtlich des Zeitpunkts der Vereinnahmung von Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit gelten gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG die Vorschriften des § 38a Abs. 1 Satz 2 und 3 EStG. Laufender Arbeitslohn gilt hiernach in dem Kalenderjahr als bezogen, in dem der Lohnzahlungszeitraum endet, für den der Arbeitslohn gezahlt wird. Arbeitslohn, der --wie Prämien und Weihnachtsgeld-- nicht als laufender Arbeitslohn gezahlt wird (sonstige Bezüge), wird in dem Kalenderjahr bezogen, in dem er dem Arbeitnehmer zufließt.
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Arbeitslohn ist mit der Erlangung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht zugeflossen (Senatsurteil vom 23.08.2017 - VI R 4/16, BFHE 259, 304, BStBl II 2018, 208, Rz 20). Zuflusszeitpunkt ist nach ständiger Rechtsprechung der Tag der Erfüllung des Anspruchs des Arbeitnehmers, also der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die geschuldete Leistung tatsächlich erbringt (Senatsurteil vom 22.02.2018 - VI R 17/16, BFHE 260, 532, BStBl II 2019, 496, Rz 27, m.w.N.). Der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 22.02.2018 - VI R 17/16 (BFHE 260, 532, BStBl II 2019, 496, Rz 28 ff.) ausführlich zu den Voraussetzungen Stellung genommen, unter denen der Zufluss von Arbeitslohn anzunehmen ist. Nach diesen Maßstäben, an denen der Senat uneingeschränkt festhält, ist das Urteil des FG von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Die Vorinstanz hat den Zufluss von Arbeitslohn zutreffend verneint.
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b) Die Klägerin hat die streitgegenständlichen Lohnbestandteile nach den tatsächlichen Feststellungen des FG nicht an ihre Arbeitnehmer ausgezahlt. Sie hatte nach den ebenfalls nicht angegriffenen und den Senat daher gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen mit ihren Arbeitnehmern vielmehr vereinbart, die nicht ausgezahlten Lohnbestandteile zukünftig noch einzurichtenden Wertguthabenkonten zuzuführen.
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Diese Vereinbarung stellt keine Vorausverfügung der Arbeitnehmer über ihren Arbeitslohnanspruch dar. Vielmehr verzichteten die Arbeitnehmer durch diese Vereinbarung lediglich auf die (sofortige) Auszahlung eines Teils ihres Arbeitslohns, wodurch der Zufluss --ähnlich wie im Fall einer Stundung-- hinausgeschoben wurde. Bei dieser Sachlage scheidet auch ein Arbeitslohnzufluss durch Gutschrift in den Büchern der Klägerin oder Novation aus. Eine zum Lohnzufluss führende Lohnverwendungsabrede ist im Streitfall ebenfalls nicht gegeben. Durch die vereinbarungsgemäße Nichtauszahlung einzelner Arbeitslohnbestandteile erfüllte die Klägerin offenkundig keine Verbindlichkeiten ihrer Arbeitnehmer gegenüber Dritten.
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c) Das FA nimmt dessen ungeachtet einen Zufluss der den Arbeitnehmern nicht ausgezahlten Lohnbestandteile deshalb an, weil die Arbeitnehmer wegen der erst im November 2011 mit der Klägerin abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarungen und der bis dahin fehlenden Zeitwertkontengarantie das Insolvenzrisiko hinsichtlich der für den Aufbau der Wertguthaben vorgesehenen Beträge getragen und daher die wirtschaftliche Verfügungsmacht hierüber erlangt hätten. Dabei übersieht das FA allerdings, dass die fehlende Insolvenzsicherung und das damit einhergehende Risiko des (Wert-)Verlusts eines vom Arbeitgeber nicht ausgezahlten beziehungsweise nicht erfüllten Lohnanspruchs als solches nicht zum Zufluss von Arbeitslohn führt. Vielmehr ist das Risiko, durch die Insolvenz des Schuldners einen (Wert-)Verlust zu erleiden, jedem (nicht insolvenzgesicherten) Anspruch immanent. Trotzdem führt nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats das bloße Innehaben von Ansprüchen gegen den Arbeitgeber nicht zum Zufluss von Arbeitslohn beim Arbeitnehmer (Senatsurteile vom 27.05.1993 - VI R 19/92, BFHE 172, 46, BStBl II 1994, 246; vom 18.08.2016 - VI R 18/13, BFHE 255, 58, BStBl II 2017, 730, Rz 15 und vom 22.02.2018 - VI R 17/16, BFHE 260, 532, BStBl II 2019, 496, Rz 29). Denn das Tragen des Insolvenzrisikos in Bezug auf den Arbeitslohnanspruch begründet (noch) keine wirtschaftliche Verfügungsmacht über das durch die spätere Erfüllung des Anspruchs --und damit das für den Zufluss maßgebliche-- Erlangte.
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d) Soweit sich das FA im Hinblick auf die bis November 2011 fehlende Zeitwertkontengarantie auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 17.06.2009 (BStBl I 2009, 1286, unter B.V.1.) beruft, kann eine Fallgestaltung, wie sie nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt im Streitfall vorliegt, dort von vornherein nicht angesprochen sein. Denn es ist denklogisch ausgeschlossen, dass eine erst zu vereinbarende, aber noch nicht abgeschlossene Wertguthabenvereinbarung bereits eine Zeitwertkontengarantie beinhaltet. Dementsprechend wird in dem vorgenannten BMF-Schreiben auch verlangt, dass die "getroffene Vereinbarung" eine Zeitwertkontengarantie vorsieht.
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Der erkennende Senat muss in dem vorliegenden Verfahren daher nicht entscheiden, ob er sich der in dem BMF-Schreiben vom 17.06.2009 (BStBl I 2009, 1286, unter B.V.1.) vertretenen Auffassung anschließen könnte. Er hat allerdings bereits entschieden, dass es für den Zufluss von Arbeitslohn im Zusammenhang mit einer Wertguthabenvereinbarung gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung nicht auf die (zivilrechtliche) Wirksamkeit der Vereinbarung ankommt, sofern die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis gleichwohl eintreten und bestehen lassen (s. Senatsurteil vom 04.09.2019 - VI R 39/17, Rz 13 ff.). Der Zufluss von Arbeitslohn richtet sich im Ertragsteuerrecht nach steuerrechtlichen Maßstäben und folglich grundsätzlich nicht danach, ob eine Wertguthabenvereinbarung den sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben --insbesondere der §§ 7d und 7e SGB IV-- entspricht. Eine andere --im Streitfall ebenfalls nicht entscheidungserhebliche-- Frage ist es, welche steuerlichen Rechtsfolgen sich für den Zufluss von Arbeitslohn im Falle der Auflösung des Wertguthabens wegen eines vom Rentenversicherungsträger festgestellten Verstoßes gegen die Zeitwertkontengarantie (§ 7e Abs. 6 SGB IV) ergeben.
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e) Aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 28.10.2020 - X R 1/19 (BFHE 270, 505, BStBl II 2021, 283) ergibt sich für den Streitfall nichts anderes. Das Urteil betraf die Frage der steuerlichen Anerkennung einer zwischen nahen Angehörigen abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarung nach den Kriterien des Fremdvergleichs, nicht aber die hier zu beurteilende Frage des Zuflusses von Arbeitslohn bei Arbeitnehmern, die der Arbeitgeberin (Klägerin) als fremde Dritte gegenüberstehen.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
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