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BFH 20.02.2019 - III R 28/18
BFH 20.02.2019 - III R 28/18 - Billigkeitserlass bei Kindergeldrückforderung
Normen
§ 227 AO, § 11 SGB 2, § 102 FGO, Art 20 Abs 1 GG, § 68 Abs 1 EStG 2009, EStG VZ 2009, EStG VZ 2010
Vorinstanz
vorgehend Thüringer Finanzgericht, 27. März 2018, Az: 2 K 507/17, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Anrechnung des an das Kind abgezweigten Kindergeldes auf Sozialleistungen des Kindes zwingt nicht zum Erlass der Rückforderung des Kindergeldes vom Kind, wenn es seine Mitwirkungspflicht verletzt hat .
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 27. März 2018 2 K 507/17 aufgehoben.
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Die Klage wird abgewiesen.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Beteiligten streiten noch über den Billigkeitserlass einer Kindergeldrückforderung gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) für den Zeitraum Oktober 2009 bis April 2010 in Höhe von 1.026 €.
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Die im Jahr 1991 geborene Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog im Zeitraum Oktober 2009 bis April 2010 aufgrund ihres Abzweigungsantrags Kindergeld in Höhe von 1.228 €, das gegenüber ihrer Mutter festgesetzt worden war.
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In diesem Zeitraum erhielt die Klägerin ebenfalls Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Bei der Leistungsberechnung wurde das Kindergeld vom Jobcenter --gekürzt um die monatliche Versicherungspauschale nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld-Verordnung in Höhe von 30 €-- als Einkommen angerechnet und im Rahmen der Verteilung der Einkommensanteile bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der aus der Klägerin, ihrem Lebenspartner und ihrem Kind bestehenden Bedarfsgemeinschaft beim Bedarf abgezogen. Im Streitzeitraum wurde somit Kindergeld in Höhe von 210 € nicht auf die Leistungen nach dem SGB II angerechnet.
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Die Klägerin befand sich seit dem 17. September 2009 in Elternzeit und war für das Ausbildungsjahr 2009/2010 vom Schulbesuch beurlaubt. Dies teilte sie der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) nicht mit.
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Mit Bescheid vom 31. Mai 2010 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung gegenüber der kindergeldberechtigten Mutter der Klägerin auf. Zugleich forderte sie von der Klägerin den überzahlten Betrag in Höhe von 1.226 € zurück.
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Die Klägerin beantragte, die Rückforderung zu erlassen. Dies lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 7. Februar 2013 ab. Dagegen wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch und mit beim Finanzgericht (FG) erhobener Untätigkeitsklage. Nachdem die Familienkasse über den Einspruch am 6. April 2016 entschieden hatte, gab das FG der Klage teilweise statt. Es sah die Klage in Höhe von 1.026 € als begründet an, da in dieser Höhe eine Anrechnung auf die Sozialleistungen erfolgt sei. Im Übrigen wies es die Klage ab.
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Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Sie ist der Ansicht, die Verletzung von Mitwirkungspflichten nach § 68 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (EStG) schließe einen Billigkeitserlass aus.
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Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision der Familienkasse ist begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG ging zu Unrecht davon aus, dass die Einziehung der Kindergeldrückforderung sachlich unbillig und ein Erlass zwingend geboten sei.
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1. Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (grundlegend: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Dem folgt die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu § 227 AO (z.B. Urteile vom 18. September 2018 XI R 36/16, BFHE 262, 297, BStBl II 2019, 87, Rz 27, und vom 13. September 2018 III R 19/17, BFHE 262, 483, Rz 13). Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die behördliche Ermessensentscheidung nach § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 102 Rz 15, m.w.N.).
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2. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. Senatsurteile jeweils in BFHE 262, 483, Rz 13, und III R 48/17, BFHE 262, 488, Rz 13, jeweils m.w.N.).
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3. Das FG hat im vorliegenden Fall zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf Billigkeitserlass bejaht. Es bestand im Streitfall keine Ermessensreduktion auf Null dahingehend, dass nur ein Erlass das einzig mögliche Ergebnis der Ermessensausübung sein konnte. Daher ist die Vorentscheidung aufzuheben (nachfolgend unter a). Die Sache ist spruchreif und die Klage abzuweisen, da die Entscheidung der Familienkasse keine Ermessensfehler erkennen lässt (nachfolgend unter b).
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a) Allein der Umstand, dass das Kindergeld im Streitfall auf die von der Klägerin bezogenen Sozialleistungen angerechnet wurde, verpflichtet die Familienkasse nicht zu einem Billigkeitserlass.
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aa) Die Anrechnung kann nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte nicht rückabgewickelt werden, weil es allein auf den tatsächlichen Zufluss des Kindergeldes beim Hilfeempfänger ankommt und die nachträgliche Gewährung von Sozialleistungen ausgeschlossen ist. Es fehlt zwar eine gesetzliche Regelung der systemübergreifenden Rückabwicklung von zu Unrecht gewährtem Kindergeld, das auf Sozialleistungen angerechnet wurde. Dies ist jedoch noch kein Grund, in einschlägigen Fällen einen Billigkeitserlass als zwingend anzusehen (Senatsurteil in BFHE 262, 483, Rz 17, m.w.N.).
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bb) Es oblag der Klägerin als Empfängerin des Kindergeldes, der Familienkasse die Informationen zu übermitteln, die für die Kindergeldfestsetzung von Bedeutung waren. Denn durch die Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 EStG war die Klägerin selbst Empfängerin des Kindergeldes (BFH-Urteil vom 24. August 2001 VI R 83/99, BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47, Rz 10) und daher gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG verpflichtet, alle Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich waren, unverzüglich mitzuteilen (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 28. August 2003 I 153/00, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2004, 323; Wendl in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 68 EStG Rz 6; Blümich/Selder, § 68 EStG Rz 7; Felix in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 68 Rz B5).
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cc) § 68 Abs. 1 EStG soll gewährleisten, dass der Familienkasse alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, um rechtzeitig die Rechtmäßigkeit der Auszahlung von Kindergeld beurteilen zu können und fehlerhafte Auszahlungen und damit zusammenhängende spätere Rückforderungen zu vermeiden. Zahlt die Familienkasse das Kindergeld zu Unrecht aus, weil der Kindergeldempfänger es unterlassen hat, die Familienkasse über tatsächliche Verhältnisse zu informieren, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung sind, ist der Familienkasse aus diesem Grund kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Dann liegt kein Gesetzesüberhang vor, der einen Billigkeitserlass gebietet (Senatsurteil in BFHE 262, 483, Rz 19).
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dd) Dem steht auch nicht das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) entgegen. Denn das Sozialstaatsprinzip begründet nur die Pflicht des Staates dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins erfüllt werden, wenn einem Menschen die hierfür erforderlichen notwendigen materiellen Mittel weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zur Verfügung stehen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 2016 1 BvR 371/11, BVerfGE 142, 353, unter C.I.2.a cc). Dem ist der Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums in ausreichender Weise nachgekommen. Die vorliegende Rückforderung beruht indessen nicht auf einer unzureichenden Ausgestaltung einer gerechten Sozialordnung, sondern darauf, dass die Klägerin Mitwirkungspflichten verletzt hatte.
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b) Die Entscheidung des FG, die Ablehnung des Erlasses der Rückforderung sei sachlich unbillig und ermessensfehlerhaft, obwohl die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist, kann nach den vorstehenden Grundsätzen keinen Bestand haben. Die Sache ist spruchreif, der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Die Ermessenserwägungen der Familienkasse, die einen Erlass abgelehnt hat, sind nicht zu beanstanden (§ 102 FGO). Die Klage ist abzuweisen.
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aa) Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) lag kein fehlerhaftes oder zögerliches Verwaltungshandeln der Familienkasse vor, das Anlass für einen Billigkeitserlass geben könnte. Das FG hat vielmehr festgestellt, dass die Klägerin der Familienkasse die Elternzeit verspätet mitgeteilt hatte, was zur Weiterzahlung des Kindergeldes führte.
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bb) Die Familienkasse hat bei ihrer Ablehnung die Anrechnung des Kindergeldes auf die Sozialleistungen gemäß § 11 SGB II berücksichtigt und bei ihrer Entscheidung die Verletzung der Mitwirkungspflicht gemäß § 68 Abs. 1 EStG durch die Klägerin gewürdigt, welche die Elternzeit nicht unverzüglich mitteilte.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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