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BFH 30.09.2011 - X B 75/11
BFH 30.09.2011 - X B 75/11 - Feststellung der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes durch Indizienbeweis - Revisionszulassung bei Doppelbegründung
Normen
§ 122 Abs 2 AO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend FG Münster, 14. April 2011, Az: 6 K 2583/10 G, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Wenn ein FG aus der langjährigen widerspruchlosen Hinnahme von Vollstreckungsversuchen den Schluss zieht, dass die Gewerbesteuerbescheide, aus denen vollstreckt wird, dem Steuerpflichtigen zugegangen sind, liegt kein Verstoß gegen die Denkgesetze vor, wenn das FG den weiteren Schluss zieht, dass dem Steuerpflichtigen auch die --gemeinsam mit den Gewerbesteuerbescheiden zur Post gegebenen-- Gewerbesteuermessbescheide zugegangen sind.
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2. NV: Hat das FG seine Entscheidung auf zwei selbständig tragende Gründe gestützt, kann die Revision nur zugelassen werden, wenn für beide Begründungen jeweils ein Zulassungsgrund gegeben ist.
Tatbestand
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I. Gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ergingen in den Jahren bis einschließlich 2000 für die Streitjahre 1996 und 1997 Gewerbesteuermessbescheide, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen. Die Messbeträge waren zuletzt auf jeweils 0 DM festgesetzt worden.
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Im Anschluss an eine Außenprüfung erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) geänderte Gewerbesteuermessbescheide, die die hebeberechtigte Gemeinde (G) nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) am 28. Mai 2001 gemeinsam mit den geänderten Gewerbesteuerbescheiden mit einfachem Brief zur Post gab. Die Messbeträge wurden auf 26.315 DM (1996) bzw. 11.260 DM (1997) festgesetzt.
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Gegen die aufgrund der Ergebnisse der Außenprüfung gleichfalls geänderten Einkommensteuerbescheide legte der Kläger Einspruch ein; ab dem Jahr 2004 schloss sich ein Klageverfahren an.
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In den Jahren 2001 bis 2008 unternahm G umfangreiche Vollstreckungsversuche wegen der rückständigen Gewerbesteuer (einschließlich Nebenleistungen insgesamt ca. 222.000 DM). Beim Kläger erschienen mehrfach Vollziehungsbeamte, die sich vom Kläger Niederschriften unterzeichnen ließen. Auf einem Grundstück des Klägers wurde eine Sicherungshypothek eingetragen; das Grundstück wurde später zwangsversteigert. G pfändete zudem das Bankkonto und den Arbeitslohn des Klägers. Schließlich gab der Kläger wegen der Gewerbesteuer-Rückstände die eidesstattliche Versicherung ab.
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Im Jahr 2010 kam es zu einer Verständigung in den wegen der Einkommensteuer anhängigen Klageverfahren. Infolgedessen erließ das FA geänderte Einkommensteuerbescheide und am 15. Juni 2010 auch die in diesem Verfahren angefochtenen, verfahrensrechtlich auf § 35b des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) gestützten geänderten Gewerbesteuermessbescheide. Die Messbeträge wurden auf 4.380 DM (1996) bzw. 11.130 DM (1997) herabgesetzt.
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Mit seinem Einspruch behauptete der Kläger erstmals, die Gewerbesteuermessbescheide vom 28. Mai 2001 seien ihm nicht zugegangen. Da § 35b GewStG eine Änderung des Gewerbesteuermessbescheids nur dann zulasse, wenn diese in engem zeitlichen oder sachlichen Zusammenhang mit einem Einkommensteuerbescheid stehe, könne im Jahr 2010 die an sich bereits im Jahr 2001 durchzuführende Änderung nicht mehr nachgeholt werden.
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Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Das FG folgerte aus einer umfassenden Gesamtwürdigung zahlreicher Einzelindizien, dass die Bescheide vom 28. Mai 2001 dem Kläger zugegangen seien. Allerdings würden die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 35b GewStG im Jahr 2010 aus Rechtsgründen auch dann vorliegen, wenn die Behauptungen des Klägers zum Nichtzugang der Bescheide als wahr unterstellt würden. Denn die vom Kläger vertretene Auffassung, erforderlich sei ein zeitlicher oder sachlicher Zusammenhang zwischen Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheid, lasse sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zweck dieser Korrekturvorschrift ableiten.
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Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision. Hinsichtlich der Würdigung des FG, wonach die Gewerbesteuermessbescheide ihm zugegangen seien, macht er Verfahrensmängel geltend. Hinsichtlich der rechtlichen Ausführungen des FG zu § 35b GewStG beruft er sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
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Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist unbegründet.
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Die vom Kläger in Bezug auf die Tatsachenwürdigung des FG vorgebrachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Danach kommt es nicht mehr darauf an, ob für die rechtliche Zusatzbegründung des angefochtenen Urteils ein Zulassungsgrund gegeben ist.
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1. Der Kläger sieht einen Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) in Gestalt eines Verstoßes gegen die Denkgesetze darin, dass das FG aus der Hinnahme der Vollstreckungsversuche gefolgert habe, dem Kläger seien die Gewerbesteuermessbescheide zugegangen. Er ist der Auffassung, bei Beachtung der Gesetze der Logik hätte sein Verhalten allenfalls den Schluss auf den Zugang der Gewerbesteuerbescheide zulassen können, die jedoch von den Messbescheiden zu unterscheiden seien; der Zugang der Gewerbesteuerbescheide werde aber ebenfalls bestritten.
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Insoweit kann die zwischen den Beteiligten streitige Frage offenbleiben, ob es sich bei einem Verstoß gegen die Denkgesetze lediglich um einen --nicht von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO erfassten-- materiell-rechtlichen Fehler oder aber um einen Verfahrensfehler handelt. Denn dem FG ist der vom Kläger gerügte Verstoß nicht unterlaufen. Das FG hat vielmehr ausdrücklich festgestellt, dass G die Gewerbesteuermessbescheide am 28. Mai 2001 gemeinsam mit den Gewerbesteuerbescheiden zur Post gegeben hat. In einem solchen Fall gehen aber entweder beide Bescheide zu oder es fehlt hinsichtlich beider Bescheide am Zugang. Wenn das FG daher aus der langjährigen widerspruchslosen Hinnahme umfangreicher Vollstreckungsversuche folgert, dem Kläger seien die zugrunde liegenden Bescheide zugegangen, durfte es zugleich auf den Zugang der entsprechenden, gleichzeitig übersandten Messbescheide schließen.
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Gegen die Feststellung des FG, beide Bescheide seien gemeinsam zur Post gegeben worden, hat der Kläger keine Rügen erhoben. Eine entsprechende Sachverhaltsdarstellung war im Übrigen bereits in der Einspruchsentscheidung enthalten, ohne dass der Kläger im Klageverfahren hierzu Abweichendes vorgetragen hätte.
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2. Ferner führt der Kläger an, der vom FG ergänzend herangezogene Erfahrungssatz, ein Steuerpflichtiger müsse ausstehende Steuerbescheide anmahnen, existiere nicht. Auch hätte das FG nicht zu seinen Lasten verwerten dürfen, dass er das Datum der Bescheide vom 28. Mai 2001 gekannt habe, da er im Jahr 2009 Kopien dieser Bescheide von G erhalten habe. Bei diesem Vorbringen handelt es sich indes um materiell-rechtliche Einwendungen gegen die Gesamtwürdigung des Tatrichters, die nicht unter die gesetzlichen Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 FGO fallen (vgl. hierzu Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24. September 2008 IX B 110/08, BFH/NV 2009, 39).
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3. Das FG hat auch nicht gegen die Pflicht verstoßen, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu gewinnen.
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Der Kläger rügt insoweit, die von ihm mit der Klageschrift eingereichte eidesstattliche Versicherung zum fehlenden Zugang der Bescheide sei vom FG weder im Tatbestand noch in den Gründen berücksichtigt worden. Stattdessen habe das FG sich --unter anderem-- darauf gestützt, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende Fragen von Seiten der Richterbank "ausweichend geantwortet" habe.
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Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das FG auf Bl. 9 seiner Entscheidung die eidesstattliche Versicherung ausdrücklich erwähnt und deren Inhalt umfassend darstellt. Es hat allerdings die darin aufgestellten Tatsachenbehauptungen durch die übrigen Umstände des Verfahrens --insbesondere durch das tatsächliche Verhalten des Klägers-- als widerlegt angesehen. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO gewährt nur einen Anspruch darauf, dass die von den Beteiligten vorgetragenen Umstände in die Gesamtwürdigung einbezogen werden; es besteht aber kein Anspruch darauf, dass der Tatrichter dem Tatsachenvortrag eines Beteiligten auch inhaltlich stets folgt.
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4. Weil damit hinsichtlich der --das angefochtene Urteil selbständig tragenden-- tatsächlichen Würdigung des FG, die Bescheide vom 28. Mai 2001 seien dem Kläger zugegangen, kein Zulassungsgrund gegeben ist, braucht der Senat nicht näher zu prüfen, ob hinsichtlich der weiteren, selbständig tragenden Rechtsausführungen der Vorentscheidung zur Auslegung des § 35b GewStG Zulassungsgründe vorliegen könnten (vgl. zur fehlenden Klärungsfähigkeit bei Doppelbegründungen BFH-Beschlüsse vom 18. März 2004 VII B 53/03, BFH/NV 2004, 978, und vom 4. August 2005 II B 34/04, BFH/NV 2005, 2229).
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