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BFH 27.06.2011 - III B 91/10
BFH 27.06.2011 - III B 91/10 - (Grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache und höhere Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO - Anspruch auf rechtliches Gehör - Unzulässiges Befangenheitsgesuch - Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO)
Normen
§ 76 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 1 FGO, § 119 Nr 2 FGO, § 110 Abs 3 AO, Art 103 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG
Vorinstanz
vorgehend FG Münster, 22. April 2010, Az: 8 K 2373/09 Kg, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Es ist hinreichend geklärt, unter welchen Voraussetzungen höhere Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO vorliegt. Die Frage, ob das FG den Geschehensablauf im Einzelfall zutreffend als höhere Gewalt beurteilt hat, reicht in ihrer Bedeutung nicht über den Einzelfall hinaus.
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2. NV: Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt nicht, dass das FG den Beteiligten die einzelnen für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte im Voraus andeutet oder mitteilt.
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3. NV: Das FG darf über ein unzulässiges Befangenheitsgesuch in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung ohne vorangehende dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters entscheiden.
Tatbestand
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I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog für seine Tochter H, geboren am … 1984, laufend Kindergeld. Mit Bescheid vom 27. Oktober 2004 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für H ab Januar 2004 auf. Für seine Tochter A, geboren am … 1985, erhielt der Kläger im Jahr 2005 zunächst kein Kindergeld.
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Im Dezember 2005 beantragte der Kläger für H und A Kindergeld. Daraufhin setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 30. März 2006 für H und A ab Januar 2005 Kindergeld fest. Mit weiterem Bescheid vom 30. März 2006 setzte die Familienkasse für H zusätzlich Kindergeld für die Monate November und Dezember 2004 fest, lehnte aber eine rückwirkende Neufestsetzung für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2004 wegen der Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom 27. Oktober 2004 ab. Nach Aktenlage legte der Kläger gegen diesen --die Monate Januar bis Oktober 2004-- betreffenden Ablehnungsbescheid zunächst keinen Einspruch ein.
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Mit Bescheid vom 18. Februar 2008 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für H ab Januar 2006 auf. Auch hiergegen legte der Kläger nach Aktenlage zunächst keinen Einspruch ein.
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Anlässlich einer am 21. April 2009 zwischen dem Kläger und der Familienkasse geführten persönlichen Besprechung erklärte der Kläger am gleichen Tag mündlich zur Niederschrift Einsprüche gegen den die Monate Januar bis Oktober 2004 betreffenden Ablehnungsbescheid vom 30. März 2006 und den Aufhebungsbescheid vom 18. Februar 2008. Der Kläger behauptete, dass er gegen die vorstehend genannten Bescheide jeweils fristgerecht Einspruch eingelegt habe. Die Einsprüche wurden mit Entscheidungen vom 10. Juni 2009 als unzulässig verworfen.
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Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen erhobenen --zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen-- Klagen mit Urteil vom 22. April 2010 ab. Die Familienkasse habe in den Einspruchsentscheidungen zu Recht eine Wiedereinsetzung in die versäumten Einspruchsfristen abgelehnt, weil die gebotenen Rechtshandlungen außerhalb der Jahresfrist gemäß § 110 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) erfolgt seien. Im Streitfall liege kein Fall höherer Gewalt vor, weil der Kläger, auch wenn er --wie behauptet-- die Einspruchsschreiben zur Post gegeben habe, sich spätestens einige Monate nach deren Aufgabe zur Post nach deren Eingang bei der Familienkasse hätte erkundigen müssen.
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Das Urteil wurde dem Kläger am 7. Mai 2010 zugestellt. Mit Schreiben vom 10. Mai 2010 stellte der Kläger ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden des FG wegen Besorgnis der Befangenheit. Mit Beschluss vom 25. Juni 2010 lehnte das FG den Antrag als unzulässig ab, weil die Instanz im Zeitpunkt des Gesuchs bereits beendet gewesen sei.
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Mit seiner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) und sinngemäß Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO) geltend.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
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1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung.
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist hinreichend geklärt, unter welchen Voraussetzungen höhere Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO vorliegt. Hierunter versteht man ein außergewöhnliches Ereignis, das unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (ständige Rechtsprechung, BFH-Beschluss vom 17. November 2009 VI B 74/09, BFH/NV 2010, 817, m.w.N.). Der Begriff der höheren Gewalt ist danach enger als der Begriff "ohne Verschulden" in § 110 Abs. 1 AO. Er erfasst jedoch nicht nur Ereignisse, die menschlicher Steuerung völlig entzogen sind (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 16. Oktober 2007 2 BvR 51/05, BVerfGK 12, 303). Er entspricht inhaltlich den Naturereignissen oder anderen unabwendbaren Zufällen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 817; BVerfG-Beschluss in BVerfGK 12, 303).
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b) Danach kommt der vom Kläger bezeichneten Frage, ob "der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege" ein Fall höherer Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO ist, die behauptete grundsätzliche Bedeutung nicht zu. Wie auch die Rüge des Klägers zeigt, das FG habe zu Unrecht beim Kläger eine Erkundigungspflicht hinsichtlich des Eingangs der Einsprüche bei der Familienkasse bejaht, geht es vielmehr darum, ob das FG den Geschehensablauf im Einzelfall zutreffend als höhere Gewalt beurteilt hat. Diese Beurteilung reicht aber in ihrer Bedeutung über den konkreten Einzelfall nicht hinaus und vermag der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zu verleihen (BFH-Beschluss vom 11. August 2010 VIII B 68/10, BFH/NV 2010, 2009).
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2. Soweit der Kläger vorträgt, nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 29. April 2004 3 C 27/03 (BVerwGE 121, 10) sei der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege --entgegen der Auffassung des FG-- als Fall höherer Gewalt im Sinne des Gemeinschaftsrechts und auch i.S. des § 110 Abs. 3 AO zu qualifizieren, liegt die hierdurch sinngemäß gerügte Divergenz nicht vor.
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a) Eine Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO ist anzunehmen, wenn das FG mit einem das angegriffene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (z.B. BFH-Beschluss vom 21. Oktober 2010 VIII B 107/09, BFH/NV 2011, 282).
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b) Es fehlt schon an der erforderlichen Abweichung des FG von einem tragenden Rechtssatz der vermeintlichen Divergenzentscheidung. Das BVerwG hat nicht entschieden, dass der Verlust einer Briefsendung auf dem Postweg stets als höhere Gewalt zu qualifizieren ist, sondern dass in solchen Fällen höhere Gewalt in Betracht kommt. Außerdem ist die Entscheidung des BVerwG nicht zu einem vergleichbaren Sachverhalt ergangen. Die Entscheidung des BVerwG betraf einen auf dem Postwege verloren gegangenen Beihilfeantrag und die sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf eine materielle Frist. Im Streitfall geht es hingegen um zwei --wie vom Kläger behauptet-- auf dem Postweg verloren gegangene, das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren einleitende Schreiben und die sich hieraus ergebenden Folgen auf eine Verfahrensfrist.
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3. Die geltend gemachten Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind ebenfalls nicht gegeben.
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a) Soweit gerügt wird, das FG habe gegenüber dem vertretenen Kläger die Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) und dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2 FGO), weil es nicht auf die Praxis der Familienkassen, bei eingelegten Rechtsbehelfen Zwischennachrichten zu erteilen, hingewiesen habe, liegt ein Verfahrensfehler nicht vor.
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Der richterliche Hinweis nach § 76 Abs. 2 FGO soll in erster Linie zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen Schutz und Hilfestellung für die Beteiligten geben (vgl. BFH-Beschluss vom 18. April 2005 IV B 90/03, BFH/NV 2005, 1817, m.w.N.). Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 9. Januar 2004 III B 33/03, BFH/NV 2004, 534). Die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangt jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Vielmehr muss ein --fachkundig vertretener-- Beteiligter gerade bei umstrittener Sach- und/oder Rechtslage grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (BFH-Beschluss vom 14. Oktober 2009 IX B 86/09, BFH/NV 2010, 222).
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Nach diesen Grundsätzen hat das FG seine Hinweispflicht nicht verletzt. Der Berichterstatter hat den Kläger bereits mit Schreiben vom 29. März 2010 u.a. darauf hingewiesen, dass Umstände, die höhere Gewalt begründen könnten, nicht ersichtlich seien. Daneben ist ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 22. April 2010 mit den Beteiligten die Problematik der Jahresfrist nach § 110 Abs. 3 AO erörtert worden. Der vertretene Kläger hätte daher von sich aus mit Blick auf die Umstände des Einzelfalls seinen Sachvortrag auf den Gesichtspunkt einer ggf. bestehenden Erkundigungspflicht des Klägers einrichten müssen.
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b) Ebenso liegt kein Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 119 Nr. 1, Nr. 2 FGO) vor.
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Soweit der Kläger rügt, an der angefochtenen Entscheidung habe ein befangener Richter mitgewirkt, liegt kein Besetzungsmangel nach § 119 Nr. 1 FGO vor. Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine willkürliche Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs (vgl. dazu Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 119 FGO Rz 110). Vielmehr ist der das Ablehnungsgesuch des Klägers zurückweisende Beschluss des FG nicht zu beanstanden.
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Einem Ablehnungsgesuch fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn es im abgeschlossenen Verfahren nach Beendigung der Instanz gestellt wird, sofern sich die Ablehnung --selbst wenn sie begründet wäre-- nicht mehr auf die Sachentscheidung des Gerichts auswirken könnte (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 51 Rz 29, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 17. August 2007 IV B 143/06, nicht veröffentlicht --juris--). Vorliegend wurde der Befangenheitsantrag erst nach der Verkündung und Zustellung des Urteils an den Kläger gestellt; er konnte sich daher auf dieses nicht mehr auswirken. Das FG durfte deshalb über das danach unzulässige Befangenheitsgesuch in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung ohne vorangehende dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters entscheiden (ständige Rechtsprechung, BFH-Beschluss vom 27. Oktober 2006 VI B 118/05, BFH/NV 2007, 97, m.w.N.; Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 51 Rz 71).
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Es liegt auch kein Verfahrensmangel nach § 119 Nr. 2 FGO vor, weil es jedenfalls an einem dem Ablehnungsgesuch des Klägers stattgebenden Beschluss des FG fehlt (Lange in HHSp, § 119 FGO Rz 160, m.w.N.).
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4. Soweit der Kläger vorträgt, es sei möglich, dass die Einsprüche auch nach Eingang bei der Familienkasse verschwunden seien, ist hiermit schon kein Zulassungsgrund schlüssig dargelegt.
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5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
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