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EuGH 07.08.2018 - C-123/17
EuGH 07.08.2018 - C-123/17 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 7. August 2018 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 2/76 – Art. 7 – Stillhalteklausel – Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers – Visumpflicht für die Einreise in das Gebiet eines Mitgliedstaats“
Leitsatz
In der Rechtssache C-123/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 26. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2017, in dem Verfahren
Nefiye Yön
gegen
Landeshauptstadt Stuttgart,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter C. G. Fernlund, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und S. Rodin,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Yön, vertreten durch Rechtsanwalt H. Baiker,
der Landeshauptstadt Stuttgart, vertreten durch C. Schlegel-Herfelder als Bevollmächtigte,
der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz, T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Maxian Rusche und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. April 2018
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von zwei Beschlüssen des Assoziationsrats, der durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) eingesetzt wurde, und zwar von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 vom 20. Dezember 1976 und von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation.
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Nefiye Yön und der Landeshauptstadt Stuttgart (Deutschland) (im Folgenden: Stadt Stuttgart) wegen deren Weigerung, Frau Yön eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zur Familienzusammenführung zu erteilen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat es zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der Wirtschaft der Republik Türkei sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase vor, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Art. 3), eine Übergangsphase, in der die Vertragsparteien die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken gewährleisten (Art. 4), und eine auf der Zollunion beruhende Endphase, die eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien einschließt (Art. 5).
Art. 6 des Assoziierungsabkommens lautet:
„Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem [Assoziierungsabkommen] zugewiesen sind.“
Der zu Titel II („Durchführung der Übergangsphase“) des Assoziierungsabkommens gehörende Art. 8 sieht vor:
„Zur Verwirklichung der in Artikel 4 genannten Ziele bestimmt der Assoziationsrat vor Beginn der Übergangsphase nach dem in Artikel 1 des [Zusatzprotokolls] geregelten Verfahren die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Durchführung der Bestimmungen bezüglich der einzelnen Sachbereiche des [EG-Vertrags], die zu berücksichtigen sind; dies gilt insbesondere für die in diesem Titel enthaltenen Sachbereiche sowie für Schutzklauseln aller Art, die sich als zweckmäßig erweisen.“
Der zu Kapitel 3 („Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art“) von Titel II des Assoziierungsabkommens gehörende Art. 12 bestimmt:
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39], [40] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“
Zusatzprotokoll
Durch das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. 1972, L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll), das nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist, werden die Bedingungen, die Einzelheiten und der Zeitplan für die Verwirklichung der in Art. 4 des Abkommens vorgesehenen Übergangsphase festgelegt (Art. 1).
Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“) des Zusatzprotokolls besteht aus den Kapiteln I („Arbeitskräfte“) und II („Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“).
Art. 36 des Zusatzprotokolls, der zu Kapitel I gehört, sieht vor:
„Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei wird nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens zwischen dem Ende des zwölften und dem Ende des zweiundzwanzigsten Jahres nach dem Inkrafttreten des genannten Abkommens schrittweise hergestellt.
Der Assoziationsrat legt die hierfür erforderlichen Regeln fest.“
Art. 41 Abs. 1, der zu Kapitel II von Titel II des Zusatzprotokolls gehört, lautet:
„Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“
Beschluss Nr. 2/76
Art. 1 des Beschlusses Nr. 2/76 lautet:
„(1) Mit diesem Beschluss werden für eine erste Stufe die Durchführungsbestimmungen zu Artikel 36 des Zusatzprotokolls festgelegt.
(2) Die Dauer dieser ersten Stufe wird auf vier Jahre vom 1. Dezember 1976 an festgesetzt.“
Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“
Nach seinem Art. 9 gilt der Beschluss Nr. 2/76 „vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind“.
Art. 11 des Beschlusses Nr. 2/76 lautet:
„Der Assoziationsrat nimmt ein Jahr vor Ablauf der ersten Stufe und im Lichte der während dieser Stufe erzielten Ergebnisse Beratungen auf, um den Inhalt der folgenden Stufe festzulegen und sicherzustellen, dass der Beschluss über die folgende Stufe zum Zeitpunkt des Ablaufs der ersten Stufe in Kraft tritt. Der vorliegende Beschluss gilt bis zum Inkrafttreten der folgenden Stufe.“
Nach seinem Art. 13 trat der Beschluss Nr. 2/76 am 20. Dezember 1976 in Kraft.
Beschluss Nr. 1/80
Wie aus seinem dritten Erwägungsgrund hervorgeht, soll der Beschluss Nr. 1/80 im sozialen Bereich zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu einer besseren als der mit dem Beschluss Nr. 2/76 eingeführten Regelung führen.
Abschnitt 1 („Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“) von Kapitel II („Soziale Bestimmungen“) des Beschlusses Nr. 1/80 enthält Art. 13, der bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“
Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80, der ebenfalls zu Abschnitt 1 gehört, sieht vor:
„(1) Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.
(2) Er berührt nicht die Rechte und Pflichten, die sich aus den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder zweiseitigen Abkommen zwischen der Türkei und den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ergeben, soweit sie für ihre Staatsangehörigen eine günstigere Regelung vorsehen.“
Nach Art. 16 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sind die Bestimmungen des Abschnitts 1 von Kapitel II ab 1. Dezember 1980 anwendbar.
Deutsches Recht
§ 1 („Zweck des Gesetzes; Anwendungsbereich“) des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I, S. 1950, im Folgenden: AufenthG) in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung sieht in Abs. 1 Satz 1 vor:
„Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland.“
§ 4 („Erfordernis eines Aufenthaltstitels“) AufenthG bestimmt in Abs. 1:
„Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im [Gebiet der Bundesrepublik Deutschland] eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des [Assoziierungsabkommens] ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als
Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
…“
§ 5 („Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen“) AufenthG sieht in Abs. 2 vor:
„Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis … voraus, dass der Ausländer
mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
die für die Erteilung [einer Aufenthaltserlaubnis] maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.“
In § 6 („Visum“) heißt es:
„(1) Einem Ausländer können nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1)] folgende Visa erteilt werden:
ein Visum für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von bis zu drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an (Schengen-Visum),
…
(3) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird.“
§ 30 („Ehegattennachzug“) AufenthG bestimmt in Abs. 1:
„Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn
…
der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann …
…
Satz 1 Nr. 2 ist für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn
…
der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen,
…
es dem Ehegatten auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen.
…“
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Visumpflicht zur Familienzusammenführung durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 1. Juli 1980 (BGBl. 1980 I, S. 782) mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 eingeführt wurde.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Yön, ist türkische Staatsangehörige, deren Ehemann, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, seit 1995 in Deutschland lebt. Er ist seit 2005 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis in diesem Mitgliedstaat und seit April 2009 bei einer Bäckerei beschäftigt. Herr und Frau Yön heirateten im August 2004. Das Ehepaar hat drei erwachsene Kinder, die in der Türkei bzw. in Deutschland und Österreich leben.
In den Jahren 2007 und 2011 stellte Frau Yön bei der deutschen Botschaft in Ankara (Türkei) insgesamt drei Anträge auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug nach Deutschland. Diese Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass sie keine ausreichenden Deutschkenntnisse habe.
Im März 2013 reiste Frau Yön mit einem von der niederländischen Botschaft in Ankara ausgestellten Schengen-Visum in die Niederlande ein, um dort ihre Schwester zu besuchen. Im April 2013 reiste sie aus den Niederlanden nach Deutschland zu ihrem Ehemann.
Im Mai 2013 beantragte Frau Yön bei den deutschen Behörden die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug und gab an, sie sei aufgrund ihres Gesundheitszustands und aufgrund des Umstands, dass sie Analphabetin sei, auf die Hilfe ihres Ehemanns angewiesen.
Mit Bescheid vom März 2014 lehnte die Stadt Stuttgart diesen Antrag ab, weil Frau Yön nicht nachgewiesen habe, dass sie über die nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Sprachkenntnisse verfüge, und weil sie ohne das erforderliche nationale Visum in das Bundesgebiet eingereist sei.
Das mit der Klage von Frau Yön gegen diesen Bescheid befasste Verwaltungsgericht (Deutschland) gab der Klage mit Urteil vom 21. Juli 2014 statt und bejahte einen Anspruch der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis, da sowohl das Erfordernis von Sprachkenntnissen als auch die Visumpflicht zur Familienzusammenführung neue Beschränkungen darstellten, die gegen die Stillhalteklauseln im Rahmen des Assoziierungsabkommens verstießen. Insbesondere verstoße die Visumpflicht gegen die Stillhalteklausel in Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76.
Die Stadt Stuttgart legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein.
Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die im nationalen Recht eines Mitgliedstaats vorgeschriebene Verpflichtung eines Drittstaatsangehörigen, ein Visum zum Nachzug zu dem im Gebiet dieses Mitgliedstaats erwerbstätigen türkischen Ehepartner einzuholen, mit der Stillhalteklausel in Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 vereinbar ist.
Keine Zweifel hat dieses Gericht dagegen in Bezug auf die Vereinbarkeit des Erfordernisses von Sprachkenntnissen mit dem Unionsrecht. Hierzu führt es aus, mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. 2015 I, S. 1386) sei in § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG eine Härtefallregelung geschaffen worden, um das Urteil vom 10. Juli 2014, Dogan (C-138/13, EU:C:2014:2066), umzusetzen. Da diese Härtefallklausel während des Klageverfahrens in Kraft getreten sei und das Verwaltungsgericht daher nicht geprüft habe, ob nach dieser Klausel im vorliegenden Fall von einfachen Sprachkenntnissen abgesehen werden könne, sei diese Prüfung gegebenenfalls nachzuholen, nachdem der Gerichtshof über die Vereinbarkeit der Visumpflicht mit dem Unionsrecht entschieden habe.
Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 oder Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis 30. November 1980 eingeführte Maßnahme des nationalen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, davon abhängt, dass diese Staatsangehörigen vor der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Staates ein Visum zur Familienzusammenführung einholen, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, und, wenn ja, ob eine solche Maßnahme gleichwohl aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt sein kann.
Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, enthalten sowohl Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 als auch Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eine eindeutige Stillhalteklausel, die die Einführung neuer Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Arbeitnehmer verbietet, deren Aufenthalt und Beschäftigung im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten ordnungsgemäß sind (Urteil vom 20. September 1990, Sevince, C-192/89, EU:C:1990:322, Rn. 18).
Die in Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltenen Stillhalteklauseln verbieten daher allgemein die Einführung jeder neuen innerstaatlichen Maßnahme, die bezweckt oder bewirkt, dass die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Beschlüsse in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C-652/15, EU:C:2017:239, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur zeitlichen Anwendbarkeit von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 oder Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme
Wie sich aus Rn. 26 des vorliegenden Urteils ergibt, wurde die fragliche nationale Maßnahme – die Visumpflicht zur Familienzusammenführung – durch eine nationale Regelung vom 1. Juli 1980 eingeführt und trat am 5. Oktober 1980 in Kraft. Somit ist als Erstes zu prüfen, ob eine solche Maßnahme in den zeitlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 2/76 oder des Beschlusses Nr. 1/80 fällt.
Insoweit ist zunächst daran zu erinnern, dass das Ziel des Assoziierungsabkommens nach seinem Art. 2 Abs. 1 darin besteht, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern.
Zu diesem Zweck wird durch dieses Abkommen eine Assoziation zwischen der Gemeinschaft und der Republik Türkei begründet; sie umfasst eine Vorbereitungsphase, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen, eine Übergangsphase, die der schrittweisen Errichtung einer Zollunion gewidmet ist, und eine Endphase, die auf der Zollunion beruht und eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken einschließt (Urteil vom 30. September 1987, Demirel, 12/86, EU:C:1987:400, Rn. 15).
Insbesondere in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer bestimmt Art. 12 des Assoziierungsabkommens – der zu dessen die Durchführung der Übergangsphase betreffenden Titel II gehört –, dass die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Art. 39, 40 und 41 EG leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen. In Art. 36 des Zusatzprotokolls wird der Zeitraum für die schrittweise Herstellung dieser Freizügigkeit geregelt, und er sieht vor, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt (Urteil vom 10. Februar 2000, Nazli, C-340/97, EU:C:2000:77, Rn. 50 und 51).
Auf der Grundlage von Art. 12 des Assoziierungsabkommens und von Art. 36 des Zusatzprotokolls erließ der Assoziationsrat, der durch das Abkommen eingesetzt wurde, um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, zunächst am 20. Dezember 1976 den Beschluss Nr. 2/76, der nach seinem Art. 1 eine erste Stufe bei der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei bildet, deren Dauer auf vier Jahre vom 1. Dezember 1976 an festgesetzt wurde (Urteil vom 10. Februar 2000, Nazli, C-340/97, EU:C:2000:77, Rn. 52). Gemäß seinem Art. 13 trat dieser Beschluss am 20. Dezember 1976 in Kraft.
Art. 11 des Beschlusses Nr. 2/76 sah vor, dass der Assoziationsrat einen weiteren Beschluss erlässt, um für eine zweite Stufe Art. 36 des Zusatzprotokolls umzusetzen; ein solcher Beschluss sollte zum Zeitpunkt des Ablaufs der ersten Stufe in Kraft treten, und der Beschluss Nr. 2/76 sollte bis zum Inkrafttreten der zweiten Stufe gelten.
In diesem Kontext erließ der Assoziationsrat sodann am 19. September 1980 den Beschluss Nr. 1/80, der nach seinem dritten Erwägungsgrund im sozialen Bereich zu einer besseren Regelung zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen gegenüber der mit dem Beschluss Nr. 2/76 eingeführten Regelung führen soll (Urteil vom 23. Januar 1997, Tetik, C-171/95, EU:C:1997:31, Rn. 19).
Die Vorschriften in Abschnitt 1 („Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“) von Kapitel II („Soziale Bestimmungen“) des Beschlusses Nr. 1/80, zu denen Art. 13 gehört, bilden somit einen weiteren Schritt zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 1997, Tetik, C-171/95, EU:C:1997:31, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung) und sind nach Art. 16 des Beschlusses Nr. 1/80 ab 1. Dezember 1980 anwendbar.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 in zeitlicher Hinsicht auf nationale Maßnahmen anwendbar ist, die in der Zeit vom 20. Dezember 1976, an dem dieser Beschluss in Kraft trat, bis zum 30. November 1980, an dem die erste Stufe zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei ablief, eingeführt wurden. Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 ist in zeitlicher Hinsicht auf nationale Maßnahmen anwendbar, die ab dem 1. Dezember 1980 eingeführt wurden, an dem dieser Beschluss und die zweite zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei vorgesehene Stufe in Kraft traten.
Diese Beurteilung kann nicht durch das Vorbringen der Stadt Stuttgart und der deutschen Regierung in Frage gestellt werden, wonach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 in der Weise Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 ersetzt habe, dass seit dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 ausschließlich anhand der Stillhalteklausel in dessen Art. 13 zu prüfen sei, ob im nationalen Recht eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Vorschrift eingeführt worden sei.
Entgegen dem Vorbringen der Stadt Stuttgart und der deutschen Regierung kann der Feststellung, die der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung von Art. 2 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 in Rn. 14 des Urteils vom 6. Juni 1995, Bozkurt (C-434/93, EU:C:1995:168), getroffen hat und auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, keine solche Wirkung entnommen werden. Dort heißt es, dass Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 ab 1. Dezember 1980 an die Stelle der entsprechenden ungünstigeren Bestimmungen des Beschlusses Nr. 2/76 getreten ist.
Zwar trat, wie sich aus den Rn. 44 bis 47 des vorliegenden Urteils ergibt, der Beschluss Nr. 2/76 zum Zeitpunkt des Ablaufs der ersten zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei vorgesehenen Stufe, dem 30. November 1980, außer Kraft und wurde ab 1. Dezember 1980 durch den Beschluss Nr. 1/80 ersetzt, doch kann dieser Vorgang nicht dahin ausgelegt werden, dass der Beschluss Nr. 2/76 rückwirkend durch den Beschluss Nr. 1/80 aufgehoben wurde und keine Anwendung mehr findet.
Zum einen sieht nämlich weder der Beschluss Nr. 1/80 noch irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts eine solche Rückwirkung vor.
Zum anderen würde die rückwirkende Aufhebung des Beschlusses Nr. 2/76 zu einer Verschlechterung der Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer führen, da „neue Beschränkungen“ im Sinne von Art. 7 dieses Beschlusses, die von den Mitgliedstaaten nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, aber vor dem Inkrafttreten von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführt wurden, von keiner Stillhalteklausel mehr erfasst würden, was weder damit im Einklang stünde, dass der Beschluss Nr. 1/80 zu einer besseren Regelung zugunsten der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen führen soll, noch mit dem Grundkonzept einer schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei, auf dem das Assoziierungsabkommen fußt.
Mangels einer rückwirkenden Aufhebung des Beschlusses Nr. 2/76 muss daher die in dessen Art. 7 enthaltene Stillhalteklausel, wie in Rn. 48 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf alle von einem Mitgliedstaat in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis 30. November 1980 eingeführten Maßnahmen angewandt werden.
Folglich fällt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme in den zeitlichen Anwendungsbereich von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76.
Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht die Vereinbarkeit dieser Maßnahme anhand der Stillhalteklausel in Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 zu prüfen, so dass nur diese Bestimmung der Auslegung bedarf.
Zur sachlichen Anwendbarkeit von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme
Als Zweites ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 fällt.
Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung macht die genannte, seit dem 5. Oktober 1980 anwendbare Maßnahme die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung von der – zuvor nicht bestehenden – Voraussetzung abhängig, dass vor der Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet ein Visum zur Familienzusammenführung eingeholt wird.
Somit wurden durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, die sich als Arbeitnehmer rechtmäßig in Deutschland aufhalten und zu denen türkische Arbeitnehmer wie der Ehemann von Frau Yön gehören, gegenüber den Voraussetzungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 2/76 in diesem Mitgliedstaat galten, verschärft.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof erstens bei der Auslegung der Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls entschieden hat, dass eine Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch die türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellt (Urteil vom 10. Juli 2014, Dogan, C-138/13, EU:C:2014:2066, Rn. 36).
Der Gerichtshof hat dies damit begründet, dass es sich auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, negativ auswirken kann, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2014, Dogan, C-138/13, EU:C:2014:2066, Rn. 35).
Zweitens hat der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darauf hingewiesen, dass die in Rn. 60 des vorliegenden Urteils herangezogene Auslegung von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch bei Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 zugrunde zu legen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 42).
Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, muss die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nämlich auch für die Stillhalteverpflichtung gelten, die die Grundlage von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer bildet, da die Stillhalteklauseln in Art. 13 und in Art. 41 Abs. 1 gleichartig sind und mit beiden dasselbe Ziel verfolgt wird (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 41).
Dabei hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Regelung, mit der die Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung türkischer Arbeitnehmer, die sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, im Vergleich zu denjenigen verschärft, die in diesem Mitgliedstaat galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, im Sinne von Art. 13 des Beschlusses eine neue Beschränkung für die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch die türkischen Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat darstellt (Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C-652/15, EU:C:2017:239, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum einen ist aber darauf hinzuweisen, dass die Stillhalteklausel in Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 sowie die Stillhalteklauseln in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, gleichartig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2000, Savas, C-37/98, EU:C:2000:224, Rn. 49 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum anderen ist im Licht der Ausführungen in den Rn. 41 bis 47 des vorliegenden Urteils zur Art, zum Kontext und zum Gegenstand sowohl des Zusatzprotokolls als auch der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80, zu denen Art. 41 Abs. 1 bzw. die Art. 7 und 13 gehören, als auch des Assoziierungsabkommens, an das diese Bestimmungen anknüpfen, davon auszugehen, dass die Stillhalteklausel in Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer das gleiche Ziel verfolgt wie die Stillhalteklauseln in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls und in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80; es besteht, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, namentlich dem Urteil vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a. (C-317/01 und C-369/01, EU:C:2003:572, Rn. 72), hervorgeht, darin, günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs sowie der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen, indem den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für diese Freiheiten einzuführen, damit deren schrittweise Herstellung zwischen den Mitgliedstaaten und der Republik Türkei nicht erschwert wird.
Im Übrigen vermag es der Unterschied im Wortlaut von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, in dem erstmals neben den Arbeitnehmern auch deren Familienangehörige erwähnt werden, nicht zu rechtfertigen, dass der ersten dieser beiden Stillhalteklauseln in Bezug auf nationale Maßnahmen im Bereich der Familienzusammenführung türkischer Arbeitnehmer geringere Tragweite beigemessen wird.
Hierzu hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass eine nationale Regelung, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verschärft, nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 fällt, als sie geeignet ist, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats durch türkische Arbeitnehmer – wie den Ehemann von Frau Yön –, die sich rechtmäßig dort aufhalten, zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 44).
Folglich stellt eine Regelung wie die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebene eine neue Beschränkung dar, nicht für den betreffenden Familienangehörigen, sondern für den türkischen Arbeitnehmer, zu dessen Familie er gehört.
Daher ist die vom Gerichtshof in Rn. 31 des Urteils vom 29. März 2017, Tekdemir (C-652/15, EU:C:2017:239), vorgenommene und in Rn. 64 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 auch bei Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 zugrunde zu legen.
Somit stellt eine nationale Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine „neue Beschränkung“ für die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 dar und fällt mithin in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung.
Zur etwaigen Zulässigkeit der neuen Beschränkung im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76
Im Rahmen der Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 hat der Gerichtshof ausgeführt, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen als denen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 galten, verboten ist, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 dieses Beschlusses aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Diese Beurteilung ist auf Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 übertragbar.
Nach Art. 12 des Assoziierungsabkommens haben die Vertragsparteien im Einklang mit dem ausschließlich wirtschaftlichen Zweck, der die Grundlage der Assoziation zwischen der Gemeinschaft und der Republik Türkei bildet, nämlich vereinbart, sich von den die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des Primärrechts der Union leiten zu lassen, so dass die im Rahmen dieser Bestimmungen geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden müssen, die Rechte aufgrund des Assoziierungsabkommens besitzen (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Als Drittes ist somit zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme die in Rn. 72 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien erfüllt.
Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme nicht unter die Beschränkungen in Art. 9 des Beschlusses Nr. 2/76 fällt, der Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 entspricht, da diese Maßnahme nach den Angaben des vorlegenden Gerichts auf Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle sowie der Steuerung der Migrationsströme beruht.
Zum anderen kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Ziel, die Migrationsströme wirksam zu steuern, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses sein, der eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 zu rechtfertigen vermag (vgl. entsprechend Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C-652/15, EU:C:2017:239, Rn. 39).
Daher ist zu prüfen, ob, wie die Stadt Stuttgart und die deutsche Regierung geltend machen, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist.
Was zunächst die Eignung der Maßnahme für die Zwecke des verfolgten Ziels angeht, so erlaubt die für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, bestehende Verpflichtung, vor der Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet ein Visum zur Familienzusammenführung einzuholen, was Vorbedingung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung ist, zwar die Kontrolle, ob der Aufenthalt der Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat rechtmäßig ist. Da die wirksame Steuerung der Migrationsströme deren Kontrolle erfordert, ist eine solche Maßnahme geeignet, die Verwirklichung dieses Ziels zu gewährleisten.
Sodann ist hinsichtlich der Frage, ob die Maßnahme über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht, festzustellen, dass die den Drittstaatsangehörigen auferlegte Verpflichtung, ein Visum für die Einreise nach und den Aufenthalt in Deutschland zur Familienzusammenführung einzuholen, als solche nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt jedoch auch, dass die Einzelheiten der Umsetzung einer solchen Verpflichtung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C-652/15, EU:C:2017:239, Rn. 43).
Hierzu ist anzumerken, dass das nationale Recht, wie sich aus Rn. 23 des vorliegenden Urteils ergibt, eine Härtefallklausel vorsieht, wonach von der Visumpflicht abgesehen werden kann, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen.
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Akten, dass Frau Yön, als sie aus den Niederlanden nach Deutschland einreiste, nicht das zur Familienzusammenführung erforderliche Visum besaß, sondern ein von der niederländischen Botschaft in Ankara erteiltes Schengen-Visum.
Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, kann nach dem nationalen Recht die Einreise von Frau Yön in das deutsche Hoheitsgebiet ohne das erforderliche Visum nicht automatisch zur Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung führen. Die Entscheidung, aufgrund der Härtefallklausel von der Visumpflicht abzusehen, liegt jedoch im Ermessen der zuständigen Behörden, wobei sie die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen haben.
Im vorliegenden Fall beruft sich Frau Yön nach den Angaben in der Vorlageentscheidung darauf, dass sie aufgrund ihres Gesundheitszustands und des Umstands, dass sie Analphabetin sei, von ihrem Ehemann abhängig sei.
Sollte Frau Yön aufgrund gesundheitlicher Probleme oder anderer Schwierigkeiten so stark von der Hilfe und persönlichen Unterstützung ihres Ehemanns abhängig sein, dass er sie in die Türkei begleiten müsste, damit sie in diesem Drittstaat das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachholen kann, und sollte das den zuständigen Behörden eingeräumte Ermessen es ihnen unter solchen Umständen ermöglichen, nicht von der Visumpflicht abzusehen, obwohl sie bereits über alle für die Entscheidung über das Aufenthaltsrecht der Klägerin des Ausgangsverfahrens in Deutschland erforderlichen Gesichtspunkte verfügen – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, würde die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels erforderlich ist.
Unter solchen Umständen könnte nämlich nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass nur die Ausreise von Frau Yön aus dem deutschen Hoheitsgebiet, um in der Türkei das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachzuholen, die zuständige Behörde in die Lage versetzen würde, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts zur Familienzusammenführung zu beurteilen und damit die Verwirklichung des Ziels der effizienten Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme zu gewährleisten.
Dagegen müsste unter solchen Umständen der Ehemann von Frau Yön aufgrund ihrer Abhängigkeit von ihm seine Erwerbstätigkeit in Deutschland aufgeben, um mit seiner Ehefrau zur Durchführung eines Visumverfahrens in die Türkei zu reisen, ohne dass bei seiner Rückkehr aus der Türkei seine berufliche Wiedereingliederung gewährleistet wäre, obwohl die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung von den zuständigen Behörden in Deutschland geprüft werden könnten, so dass die Verwirklichung des genannten Ziels unter Vermeidung der angesprochenen Nachteile sichergestellt werden könnte.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 dahin auszulegen ist, dass eine in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis 30. November 1980 eingeführte Maßnahme des nationalen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, davon abhängt, dass diese Staatsangehörigen vor der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Staates ein Visum zur Familienzusammenführung einholen, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Maßnahme kann jedoch aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt sein; sie ist aber nur zulässig, soweit die Einzelheiten ihrer Umsetzung nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 vom 20. Dezember 1976 des durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzten Assoziationsrats ist dahin auszulegen, dass eine in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis 30. November 1980 eingeführte Maßnahme des nationalen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, davon abhängt, dass diese Staatsangehörigen vor der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Staates ein Visum zur Familienzusammenführung einholen, eine „neue Beschränkung “ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Maßnahme kann jedoch aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt sein; sie ist aber nur zulässig, soweit die Einzelheiten ihrer Umsetzung nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Silva de Lapuerta
Fernlund
Bonichot
Arabadjiev
Rodin
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. August 2018.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Die Präsidentin der Ersten Kammer
R. Silva de Lapuerta
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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