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BSG 19.09.2024 - B 12 KR 12/23 B
BSG 19.09.2024 - B 12 KR 12/23 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Revisionszulassung - Verfahrensmangel - Verletzung rechtlichen Gehörs - Beschlussverfahren - absoluter Revisionsgrund
Normen
§ 62 SGG, § 158 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 202 SGG, § 547 Nr 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Hannover, 18. Dezember 2019, Az: S 86 KR 469/15, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 17. Februar 2023, Az: L 16 KR 52/20, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Februar 2023 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit insbesondere um die rückwirkende Erhebung von Krankenversicherungsbeiträgen im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens.
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Der Kläger war seit 15.8.2007 bis zu einer Kündigung wegen Kassenwechsels zum 31.8.2009 bei der beigeladenen Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gesetzlich krankenversichert. Die anschließende Mitgliedschaft bei der beklagten DAK wurde 2010 storniert. Im Dezember 2013 richtete der Kläger eine Klage gegen die Beklagte auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung. Auf die Feststellung der Beklagten, dass eine Mitgliedschaft wirksam zustande gekommen sei (Bescheid vom 18.2.2014), erklärte der Kläger den Rechtsstreit für erledigt. Wegen fehlender Angaben zu den Einkommensverhältnissen setzte die Beklagte die Beiträge auf der Grundlage der jeweils geltenden Mindestbemessungsgrundlage fest (ua Bescheide vom 18.2.2014, Widerspruchsbescheid vom 11.6.2014). Den Antrag auf Überprüfung des Widerspruchsbescheids wies sie zurück (Bescheid vom 24.4.2015, Widerspruchsbescheid vom 14.7.2015).
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Das SG hat die Verwaltungsentscheidungen aufgehoben. Die Bescheide über die Beitragserhebung seien rechtswidrig, weil der Kläger zumindest im Zeitraum 1.7.2009 bis 31.12.2014 nicht Mitglied der Beklagten geworden sei (Urteil vom 18.12.2019). Auf die Berufung der Beigeladenen hat die Berichterstatterin des Senats des LSG den Beteiligten am 3.6.2020 einen Hinweis erteilt und darin ua ausgeführt: "Im vorliegenden Rechtsstreit über eine rückwirkende Erhebung von Krankenversicherungsbeiträgen durch die beklagte Krankenversicherung gegenüber dem klagenden Versicherten dürfte die beigeladene Rentenversicherung durch das erstinstanzliche Urteil nicht materiell beschwert sein, sodass der Beigeladenen die Rechtsmittelbefugnis fehlt. Daher dürfte ihre Berufung als unzulässig zu verwerfen sein". Im Folgenden hat sie eine Rücknahme der Berufung angeregt. Die Beigeladene hat dazu am 7.7.2020 Stellung genommen und die Berufung begründet, die Beklagte hat von einer Stellungnahme abgesehen. Ohne weiteren Schriftverkehr hat das LSG die Berufung durch Beschluss ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter als unzulässig verworfen. Der Beigeladenen fehle die Rechtsmittelbefugnis bzw das Rechtsschutzbedürfnis. Eine materielle Beschwer folge nicht schon aus ihrer Stellung als Beigeladene oder aus der Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile. Die Mitgliedschaft des Klägers ab 1.9.2009 habe die Beklagte mit Bescheid vom 18.2.2014 bestandskräftig festgestellt. Streitgegenstand sei allein die Beitragsschuld des Klägers aus der Mitgliedschaft bei der Beklagten. Daran sei die Beigeladene in keiner Weise beteiligt. Daher ergebe sich für die Beigeladene aus dem Urteil keine unmittelbare Beeinträchtigung in eigenen subjektiven Rechtspositionen (Beschluss vom 17.2.2023).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss richtet sich die Beschwerde der Beigeladenen. Sie rügt eine Verletzung von § 158 Satz 2 SGG iVm § 62 SGG und macht geltend, dass sie verfahrensfehlerhaft nicht zu der Absicht des Gerichts, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, angehört worden sei. Diese Verletzung führe zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts allein mit den drei Berufsrichtern und damit zu einem Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG). Dies stelle einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO). Unabhängig davon, dass deshalb keine weiteren Ausführungen zum Beruhen erforderlich seien, läge ein solches vor. Streitgegenstand des Rechtsstreits sei nicht nur die Beitragseinstufung, vielmehr sei Gegenstand des zu überprüfenden Widerspruchsbescheids vom 11.6.2014 auch der Bescheid vom 18.2.2014 über die Durchführung der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten gewesen. Die Aufhebung der Bescheide mit der Begründung, der Kläger wäre mangels wirksamen Krankenkassenwechsels nicht Mitglied der Beklagten geworden, greife unmittelbar und zwangsläufig in die Rechtssphäre der Beigeladenen ein. Aufgrund der Verwerfung der Berufung als unzulässig sei der Beigeladenen insoweit auch die Möglichkeit zu weiteren Beweisanträgen genommen worden.
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II. 1. Die zulässige Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
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a) Die Beigeladene hat den Verstoß gegen § 62 SGG (Art 103 Abs 1 GG), vor der angefochtenen Entscheidung nicht zu der beabsichtigten Verwerfung durch Beschluss angehört worden zu sein, formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt.
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b) Der behauptete Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegt vor. Das LSG hat gegen § 62 SGG verstoßen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gilt auch für die Beigeladene als juristische Person des öffentlichen Rechts (vgl nur BVerfG Beschluss vom 8.7.1982 - 2 BvR 1187/80 - BVerfGE 61, 82, 104 - juris RdNr 63).
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§ 158 SGG schreibt zwar im Unterschied zu § 153 Abs 4 Satz 2 SGG nicht ausdrücklich vor, die Beteiligten zu dem beabsichtigten Beschlussverfahren vorher zu hören. Diese Verpflichtung ergibt sich aber aus § 62 SGG, der fordert, den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Wie die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 12/1217 S 53, dort zu Nr 10 letzter Abs) zeigen, ist eine ausdrückliche Anhörungspflicht im Unterschied zur Parallelregelung des § 125 Abs 2 Satz 3 Verwaltungsgerichtsordnung, wonach die Beteiligten "vorher" (vor der Entscheidung durch Beschluss) zu hören sind, deshalb nicht in das SGG übernommen worden, weil § 62 SGG generell bestimme, den Beteiligten vor einer Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren (BSG Beschluss vom 24.4.2008 - B 9 SB 78/07 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 3 RdNr 9).
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Hier liegt auch ein wesentlicher Anhörungsfehler vor. Die Beigeladene ist zwar auf die Rechtsauffassung der Berichterstatterin hingewiesen worden, wonach die Berufung als unzulässig zu verwerfen sei. Es fehlte aber an einer Mitteilung über die Absicht, nicht durch Urteil, sondern durch Beschluss zu entscheiden. Durch diesen Mangel wird das Ziel einer Anhörung verfehlt. Im Rahmen des § 158 Satz 2 SGG ist das wesentliche Ziel nicht die Information der Beteiligten zu einer - gegebenenfalls nur vorläufigen - Rechtsauffassung der Berichterstatterin (§ 155 Abs 1, § 106 Abs 1 SGG) über die (Un-)Statthaftigkeit der Berufung. Diese Information kann auch in dem die mündliche Verhandlung vorbereitenden Verfahren erfolgen, um dem Beteiligten die Möglichkeit zu geben, sich auf einen für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkt vorzubereiten. Der Schwerpunkt der Anhörungspflicht zur Entscheidung des Senats durch Beschluss liegt in der vom Grundfall der Entscheidung in einem durch drei Berufs- und zwei ehrenamtliche Richter gebildeten Spruchkörper vorgenommenen Änderung des gesetzlichen Richters (BSG Urteil vom 26.11.2020 - B 14 AS 56/19 R - juris RdNr 11).
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Diese Verletzung des § 158 Satz 2 SGG führt - wie von der Beigeladenen auch gerügt - zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO (BSG Beschluss vom 24.4.2008 - B 9 SB 78/07 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 10 RdNr 10 mwN; BSG Urteil vom 26.11.2020 - B 14 AS 56/19 R - juris RdNr 13). Damit ist die Entscheidung - unabhängig von den weiteren Darlegungen zur Möglichkeit einer anderen Entscheidung - als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen.
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Da bereits der Anspruch der Beigeladenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob auch im Rahmen des § 158 SGG eine wesentliche Änderung der Prozesssituation eine nochmalige Anhörung gebietet (vgl für § 124 Abs 2 SGG und § 153 Abs 4 Satz 2 SGG BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13) und ob durch Vorlage der Berufungsbegründung nach dem Hinweis des LSG vom 3.6.2020 hier eine solche wesentliche Änderung eingetreten ist.
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c) Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen.
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2. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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