betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 6. April 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2016, in den Verfahren
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters F. Biltgen,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juli 2017
RGEX ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die im Jahr 2008, dem Streitjahr des Ausgangsrechtsstreits, mit Kraftfahrzeugen handelte. Die im Dezember 2007 gegründete Gesellschaft befindet sich seit 2015 in Liquidation. Der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer der Gesellschaft, Herr Geissel, vertritt sie seitdem als Liquidator.
In ihrer Umsatzsteuererklärung für 2008 erklärte RGEX u. a. steuerfreie innergemeinschaftliche Kraftfahrzeuglieferungen und 122 von der EXTEL GmbH erworbene Fahrzeuge betreffende Vorsteuerbeträge in Höhe von 1985443,42 Euro.
Das Finanzamt Neuss folgte der Erklärung von RGEX nicht und setzte die Umsatzsteuer für 2008 mit Bescheid vom 31. August 2010 entsprechend den Feststellungen von zwei Umsatzsteuer-Sonderprüfungen fest. Es hielt die als umsatzsteuerfrei erklärten Fahrzeuglieferungen nach Spanien für steuerpflichtig, weil die betreffenden Fahrzeuge nicht nach Spanien verbracht, sondern im Inland vermarktet worden seien. Auch seien die geltend gemachten Vorsteuerbeträge aus Rechnungen von EXTEL nicht abziehbar, weil es sich dabei um eine „Scheinfirma“ handele, die unter ihrer Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe.
Nach erfolglosem Einspruch gegen diesen Bescheid rief RGEX das Finanzgericht Düsseldorf (Deutschland) an, das der Klage in Bezug auf die Besteuerung der Lieferung eines Fahrzeugs stattgab und sie im Übrigen als unbegründet abwies.
Das Finanzgericht Düsseldorf stellte u. a. fest, dass sich zwar der statutarische Sitz von EXTEL unter der in ihren Rechnungen angegebenen Anschrift befunden habe, es sich hierbei jedoch lediglich um einen Briefkastensitz gehandelt habe. EXTEL sei dort nur postalisch erreichbar gewesen. Die Gesellschaft habe unter dieser Anschrift keine geschäftliche Tätigkeit ausgeübt.
Das Gericht wies die auf Vertrauensschutz gestützte Argumentation von RGEX in Bezug auf die Richtigkeit der in den Rechnungen von EXTEL angegebenen Anschrift zurück. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes könne nicht bei der Steuerfestsetzung, sondern gegebenenfalls nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gemäß den §§ 163 und 227 AO berücksichtigt werden.
Herr Geissel, handelnd als Liquidator von RGEX, legte gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf Revision beim Bundesfinanzhof (Deutschland) ein, die er damit begründete, dass die „Anschrift“ im Sinne von § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG und Art. 226 Nr. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Identifikation des Rechnungsausstellers diene und nur postalische Erreichbarkeit voraussetze.
Das vorlegende Gericht hält RGEX nach nationalem Recht nicht zu dem geltend gemachten Vorsteuerabzug aus den Rechnungen von EXTEL berechtigt, da sie unter ihrer Rechnungsanschrift keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit ausübe. In einer Entscheidung, die in einem Parallelverfahren ergangen sei, habe das vorlegende Gericht nämlich entschieden, dass die „vollständige Anschrift“ im Sinne von § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 USTG voraussetze, dass der Unternehmer dort seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfalte. Auch wenn es die Finanzverwaltung gemäß einer inländischen Verwaltungsanweisung ausreichen lasse, dass das Postfach oder die Großkundenadresse „anstelle der Anschrift angegeben wird“, binde eine solche Anweisung nicht die Gerichte.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Enthält eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a in Verbindung mit Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie erforderliche Rechnung die „vollständige Anschrift“ im Sinne von Art. 226 Nr. 5 dieser Richtlinie, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt?
Steht Art. 168 Buchst. a in Verbindung mit Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegen, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt? Ist Art. 168 Buchst. a in Verbindung mit Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie insoweit berufbar?
Zur ersten Frage in der Rechtssache C-374/16 sowie zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C-375/16
Mit der ersten Frage in der Rechtssache C-374/16 sowie der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C-375/16 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a in Verbindung mit Art. 226 Nr. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig macht, dass in der Rechnung die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrechtlinie der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, eine gemäß den Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 dieser Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzen muss.
In Art. 226 der Mehrwertsteuerrechtlinie sind die Angaben aufgeführt, die eine solche Rechnung enthalten muss. Nach Nr. 5 dieser Vorschrift sind insbesondere der vollständige Name und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers anzugeben.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Dezember 2009, Yaesu Europe, C-433/08, EU:C:2009:750, Rn. 24, und vom 6. Juli 2017, Air Berlin, C-290/16, EU:C:2017:523, Rn. 22).
Was erstens den Wortlaut von Art. 226 Nr. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, ist festzustellen, dass die verschiedenen Sprachfassungen der Vorschrift voneinander abweichen. In einigen Sprachfassungen der Vorschrift, wie in den Fassungen in spanischer, englischer, französischer oder lettischer Sprache, wird Bezug genommen auf „nombre completo y la dirección“, „the full name and address“, „nom complet et l’adresse“ oder „pilns vārds vai nosaukums un adrese“, während nach anderen Fassungen, u. a. den Fassungen in deutscher oder italienischer Sprache, die Verpflichtung besteht, den „vollständigen Namen und die vollständige Anschrift“ oder den „nome e l’indirizzo completo“ anzugeben.
Das Fehlen oder Vorhandensein des Adjektivs „vollständig“ in der Formulierung dieses Erfordernisses gibt jedoch keinen Aufschluss darüber, ob die in der Rechnung angegebene Anschrift dem Ort entsprechen muss, an dem der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
Weiter ist festzustellen, dass der Begriff „Anschrift“ allgemein weit verstanden wird. Wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, umfasst die gewöhnliche Bedeutung dieses Begriffs jede Art von Anschrift, einschließlich einer Briefkastenanschrift, sofern die Person unter dieser Anschrift erreichbar ist.
Darüber hinaus müssen nach Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie unbeschadet der Sonderbestimmungen dieser Richtlinie gemäß ihrem Art. 220 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die in diesem Art. 226 genannten Angaben enthalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 25).
Daraus folgt, dass die mit diesen Angaben verbundenen Verpflichtungen in dem Sinne eng auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten keine strengeren Verpflichtungen vorsehen dürfen als diejenigen, die sich aus der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben.
Die Mitgliedstaaten können daher die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nicht nach eigenem Gutdünken von der Erfüllung von Voraussetzungen betreffend den Inhalt der Rechnungen abhängig machen, die in den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht ausdrücklich vorgesehen sind (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 25).
Zweitens ist bezüglich des Zusammenhangs, in dem Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie steht, darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Senatex, C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 37).
Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass der Besitz einer Rechnung, die die in Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Angaben enthält, eine formelle Bedingung für das Recht auf Vorsteuerabzug darstellt. Sind die materiellen Anforderungen erfüllt, ist der Vorsteuerabzug zu gewähren, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Bedingungen nicht genügt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Senatex, C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass Modalitäten, die die Angabe der Anschrift des Rechnungsausstellers betreffen, für den Vorsteuerabzug nicht maßgeblich sein können.
Was drittens die teleologische Auslegung von Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, sollen die Angaben, die eine Rechnung enthalten muss, es den Steuerverwaltungen ermöglichen, die Entrichtung der geschuldeten Steuer und gegebenenfalls das Bestehen des Vorsteuerabzugsrechts zu kontrollieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 27).
Wie der Generalanwalt in den Nrn. 40 und 41 seiner Schlussanträge sinngemäß dazu ausgeführt hat, soll die Angabe der Anschrift, des Namens und der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Rechnungsausstellers es ermöglichen, eine Verbindung zwischen einer bestimmten wirtschaftlichen Transaktion und einem konkreten Wirtschaftsteilnehmer, dem Rechnungsaussteller, herzustellen. Die Identifizierung des Rechnungsausstellers erlaubt es der Steuerverwaltung, zu prüfen, ob der Mehrwertsteuerbetrag, der für einen Steuerabzug in Betracht kommt, Gegenstand einer Steuererklärung war und entrichtet wurde. Dem Steuerpflichtigen erlaubt diese Identifizierung außerdem, zu klären, ob der fragliche Rechnungsaussteller steuerpflichtig im Sinne der Mehrwertsteuervorschriften ist.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Unternehmers, der die Gegenstände oder Dienstleistungen geliefert bzw. erbracht hat, die wesentliche Informationsquelle für diese Identifikation darstellt. Die Nummer ist leicht zugänglich und von der Verwaltung überprüfbar.
Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, müssen die Unternehmen auch, um eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zu erhalten, ein Registrierungsverfahren durchlaufen, bei dem sie ein Mehrwertsteuer-Registrierungsformular mit entsprechenden Belegen einreichen müssen.
Daraus folgt, dass die Angabe der Anschrift des Rechnungsausstellers in Verbindung mit seinem Namen und seiner Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer den Rechnungsaussteller identifizieren und es der Steuerverwaltung damit ermöglichen soll, die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils genannten Kontrollen durchzuführen.
In diesem Zusammenhang ist auch hervorzuheben, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll (vgl. u. a. Urteile vom 22. Oktober 2015, Sveda, C-126/14, EU:C:2015:712, Rn. 17, und vom 14. Juni 2017, Compass Contract Services, C-38/16, EU:C:2017:454, Rn. 34). Um die Ziele dieser Regelung zu erreichen, ist es nicht erforderlich, eine Verpflichtung zur Angabe der Anschrift, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, vorzusehen.
Für diese Auslegung spricht außerdem das Urteil vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp (C-277/14, EU:C:2015:719), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Vorsteuerabzug aufgrund von Rechnungen vorgenommen werden durfte, die von einer Gesellschaft ausgestellt waren, bei der es sich nach Ansicht des nationalen Gerichts um einen nicht existenten Wirtschaftsteilnehmer handelte. Auch wenn sich das Gebäude, das diese Gesellschaft als ihren Gesellschaftssitz angegeben hatte, nach den Feststellungen des nationalen Gerichts in einem heruntergekommenen Zustand befand, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Umstand, dass an dem Gesellschaftssitz keine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt werden konnte, es nicht ausschließt, dass diese Tätigkeit an anderen Orten als dem Gesellschaftssitz ausgeführt werden konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp, C-277/14, EU:C:2015:719, Rn. 35), was insbesondere dann gilt, wenn die Tätigkeiten auf entmaterialisierte Weise unter Verwendung neuer Informationstechnologien ausgeübt werden.
Dass es für das Recht auf Vorsteuerabzug nicht erforderlich ist, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Steuerpflichtigen unter der Anschrift, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist, ausgeübt werden, steht überdies entgegen dem Vorbringen der deutschen und der österreichischen Regierung nicht im Widerspruch zu den Feststellungen, die der Gerichtshof im Urteil vom 28. Juni 2007, Planzer Luxembourg (C-73/06, EU:C:2007:397), getroffen hat. Die Untersuchung des Bedeutungsgehalts der Begriffe „Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit“ und „feste Niederlassung“ im Sinne der Dreizehnten Richtlinie 86/560 ist für die Bestimmung der Bedeutung des Begriffs „Anschrift“ in Art. 226 Nr. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie irrelevant.
Daraus folgt, dass es für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug durch den Empfänger von Gegenständen oder Dienstleistungen nicht erforderlich ist, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt werden, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist.
Daher ist auf die erste Frage in der Rechtssache C-374/16 sowie auf die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C-375/16 zu antworten, dass Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a in Verbindung mit Art. 226 Nr. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig macht, dass in der Rechnung die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
Zur zweiten Frage in der Rechtssache C-374/16 und zur dritten Frage in der Rechtssache C-375/16
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. November 2017.
J. L. da Cruz Vilaça