Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 09.03.2023 - C-356/22
EuGH 09.03.2023 - C-356/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 9. März 2023 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Richtlinie 2014/40/EU – Kennzeichnung und Verpackung – Art. 2 Nr. 40 – Begriff ‚Inverkehrbringen‘ – Art. 8 Abs. 3 – Gesundheitsbezogene Warnhinweise, die auf jeder Packung eines Tabakerzeugnisses und jeder Außenverpackung angebracht sein müssen – Verbot des Verdeckens – Ausgabeautomat für Zigarettenpackungen – Von außen nicht sichtbare Zigarettenpackungen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-356/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juni 2022, in dem Verfahren
Pro Rauchfrei e. V.
gegen
JS e. K.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter), M. Ilešič, I. Jarukaitis und Z. Csehi,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von JS e. K., vertreten durch Rechtsanwalt A. Meisterernst,
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Schmidt, F. van Schaik und H. van Vliet als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Pro Rauchfrei e. V. und JS e. K. wegen der von JS verwendeten Ausgabeautomaten für Zigarettenpackungen, bei denen die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf den Verpackungen der Zigaretten für den Verbraucher verdeckt werden.
Rechtlicher Rahmen
Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2014/40 bestimmt:
„Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für
…
bestimmte Aspekte der Kennzeichnung und Verpackung von Tabakerzeugnissen, unter anderem die gesundheitsbezogenen Warnhinweise, die auf den Packungen und den Außenverpackungen von Tabakerzeugnissen erscheinen müssen, sowie die Rückverfolgbarkeit und die Sicherheitsmerkmale, die für Tabakerzeugnisse angewendet werden, um ihre Übereinstimmung mit dieser Richtlinie zu gewährleisten;
…
damit – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtert wird und die Verpflichtungen der Union im Rahmen des [Rahmenübereinkommens der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakgebrauchs] eingehalten werden.“
In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
‚gesundheitsbezogener Warnhinweis‘ einen Warnhinweis in Bezug auf die schädlichen Auswirkungen eines Produkts auf die menschliche Gesundheit oder andere unerwünschte Auswirkungen des Konsums dieses Produkts, einschließlich textlicher, kombinierter gesundheitsbezogener oder allgemeiner Warnhinweise und Informationsbotschaften, gemäß dieser Richtlinie;
…
‚in Verkehr bringen‘ die entgeltliche oder unentgeltliche Bereitstellung von Produkten – unabhängig vom Ort ihrer Herstellung – für Verbraucher, die sich in der Union befinden, auch mittels Fernabsatz; …
…“
Titel II („Tabakerzeugnisse“) der Richtlinie enthält ein Kapitel II („Kennzeichnung und Verpackung“), zu dem Art. 8 („Allgemeine Bestimmungen“) gehört. Dieser Artikel bestimmt in seinen Abs. 1, 3 und 8:
„(1) Jede Packung eines Tabakerzeugnisses und jede Außenverpackung trägt gesundheitsbezogene Warnhinweise gemäß diesem Kapitel in der oder den Amtssprachen des Mitgliedstaats, in dem das Erzeugnis in Verkehr gebracht wird.
…
(3) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf einer Packung und der Außenverpackung unablösbar aufgedruckt, unverwischbar und vollständig sichtbar sind und dass sie, wenn die Tabakerzeugnisse in Verkehr gebracht werden, nicht teilweise oder vollständig durch Steuerzeichen, Preisaufkleber, Sicherheitsmerkmale, Hüllen, Taschen, Schachteln oder sonstige Gegenstände verdeckt oder getrennt werden. Auf den Verpackungen von Tabakerzeugnissen mit Ausnahme von Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen in Beuteln dürfen die gesundheitsbezogenen Warnhinweise mittels Aufklebern aufgebracht werden, sofern diese nicht entfernt werden können. Die gesundheitsbezogenen Warnhinweise müssen beim Öffnen der Packung intakt bleiben, außer bei Packungen mit Klappdeckel (Flip-Top-Deckel), bei denen die Warnhinweise beim Öffnen der Packung getrennt werden, allerdings nur in einer Weise, die die grafische Integrität und die Sichtbarkeit des Textes, der Fotografien und der Angaben zur Raucherentwöhnung gewährleistet.
…
(8) Bilder von Packungen und Außenverpackungen, die für Verbraucher in der Union bestimmt sind, müssen den Bestimmungen dieses Kapitels genügen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
JS, der in München (Deutschland) zwei Supermärkte betreibt, installierte ab dem 20. Mai 2017 an den Kassen dieser Supermärkte Ausgabeautomaten für Zigarettenpackungen. Die Zigarettenpackungen wurden in den Ausgabeautomaten vorrätig gehalten, so dass sie für die Kunden nicht sichtbar waren. Die auf den Ausgabeautomaten angebrachten Warenauswahltasten ließen zwar anhand einer grafischen Darstellung verschiedene Zigarettenmarken erkennen, wiesen aber nicht die vorgeschriebenen gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf.
Der Kunde musste, um eine Zigarettenpackung zu kaufen, beim Kassenpersonal um Freigabe des Automaten bitten. Danach musste er selbst die der gewählten Zigarettenpackung entsprechende Auswahltaste drücken, wodurch die Packung aus dem Automaten direkt auf das Kassenband befördert wurde und bezahlt werden konnte.
Pro Rauchfrei ist ein gemeinnütziger Verein, der die Rechte von Passivrauchern verteidigt. Er erhob Klage vor dem Landgericht München I (Deutschland) und beantragte, JS zu verbieten, Tabakerzeugnisse, nämlich Zigaretten, so zum Verkauf anzubieten, dass zum Zeitpunkt des Anbietens die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf den Packungen und Außenverpackungen der Tabakerzeugnisse für den Verbraucher aufgrund der Benutzung einer Vorrichtung wie der in Rn. 6 des vorliegenden Urteils beschriebenen verdeckt sind. Hilfsweise beantragte Pro Rauchfrei, JS zu verbieten, solche Erzeugnisse mittels eines Automaten zum Verkauf anzubieten, der nur das Bild der Zigarettenpackungen ohne die auf diesen anzubringenden gesundheitsbezogenen Warnhinweise zeigt.
Das Landgericht München I wies die Klage ab.
Pro Rauchfrei legte beim Oberlandesgericht München (Deutschland) Berufung gegen diese Entscheidung ein, die ebenfalls erfolglos blieb. Unter diesen Umständen wandte sich der Verein mit einer Revision an das vorlegende Gericht, den Bundesgerichtshof (Deutschland).
Da der Bundesgerichtshof die Frage, wie Art. 8 Abs. 3 Satz 1 und Art. 8 Abs. 8 der Richtlinie 2014/40 auszulegen seien, für entscheidungserheblich hielt, befasste er den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen, das unter der Nummer C-370/20 in das Register eingetragen wurde, und stellte dem Gerichtshof vier Vorlagefragen.
In seinem Urteil vom 9. Dezember 2021, Pro Rauchfrei (C-370/20, EU:C:2021:988), beantwortete der Gerichtshof die dritte und vierte Vorlagefrage. Er entschied, dass Art. 8 Abs. 8 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass ein Bild, bei dem es sich zwar nicht um eine naturgetreue Wiedergabe einer Zigarettenpackung handelt, der Verbraucher es aber aufgrund seiner Gestaltung hinsichtlich Umrissen, Proportionen, Farben und Markenlogo mit einer solchen Packung assoziiert, ein „Bild von einer Packung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, und dass diese Vorschrift dahin auszulegen ist, dass ein Bild einer Zigarettenpackung, das unter diese Bestimmung fällt, auf dem aber nicht die gesundheitsbezogenen Warnhinweise gemäß Titel II Kapitel II der Richtlinie zu sehen sind, selbst dann nicht mit dieser Bestimmung vereinbar ist, wenn der Verbraucher vor dem Erwerb der Zigarettenpackung die Gelegenheit hat, diese Warnhinweise auf der dem Bild entsprechenden Zigarettenpackung wahrzunehmen.
Dagegen war der Gerichtshof in Anbetracht der Antworten auf die dritte und die vierte Frage der Auffassung, dass die erste und die zweite Frage nicht beantwortet zu werden brauchten.
In dem der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegenden Vorabentscheidungsersuchen gibt das vorlegende Gericht an, dass es gemäß den Verfahrensvorschriften verpflichtet sei, die von der klagenden Partei vorgegebene Rangfolge von Haupt- und Hilfsantrag einzuhalten. Der Erfolg des Hauptantrags von Pro Rauchfrei hänge von der Beantwortung der ersten und der zweiten Vorlagefrage ab, die der Gerichtshof im Urteil vom 9. Dezember 2021, Pro Rauchfrei (C-370/20,EU:C:2021:988), nicht beantwortet habe, und die Beantwortung der dritten und der vierten Frage sei nur für die Beurteilung des Hilfsantrags relevant, weshalb eine Antwort auf die erste und die zweite Frage noch immer erforderlich sei. Das vorlegende Gericht hat Zweifel in Bezug auf die Bedeutung des Begriffs „Inverkehrbringen“ im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 sowie der Reichweite des in dieser Vorschrift enthaltenen Verbots, die Warnhinweise durch „sonstige Gegenstände“ zu verdecken.
Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Erfasst der Begriff des Inverkehrbringens im Sinne des Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 das Darbieten von Tabakerzeugnissen über Warenausgabeautomaten in der Weise, dass die darin befindlichen Zigarettenpackungen zwar die gesetzlich vorgeschriebenen Warnhinweise aufweisen, die Zigarettenpackungen aber zunächst für den Verbraucher nicht sichtbar im Automaten vorrätig gehalten werden und die darauf befindlichen Warnhinweise erst sichtbar werden, sobald der zuvor vom Kassenpersonal freigegebene Automat vom Kunden betätigt und die Zigarettenpackung dadurch noch vor dem Bezahlvorgang auf das Kassenband ausgegeben wird?
Erfasst das in Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 enthaltene Verbot, die Warnhinweise „durch sonstige Gegenstände zu verdecken“, den Fall, dass im Rahmen der Warenpräsentation durch einen Automaten die ganze Tabakverpackung verdeckt wird?
Zu den Vorlagefragen
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bindungswirkung eines im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteils nicht ausschließt, dass das nationale Gericht, an das dieses Urteil gerichtet ist, eine erneute Anrufung des Gerichtshofs vor der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich hält, etwa dann, wenn es ihm neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu beantworten (Urteil vom 6. März 2003, Kaba, C-466/00, EU:C:2003:127, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Folglich kann ein nationales Gericht, an das ein Urteil im Vorabentscheidungsverfahren gerichtet ist, den Gerichtshof erst Recht mit einem neuen Vorabentscheidungsersuchen befassen, mit dem es diesem erneut die Fragen vorlegt, in Bezug auf die der Gerichtshof in diesem Urteil der Auffassung war, dass er sie in Anbetracht der Antwort auf andere Fragen nicht beantworten muss, sofern es in seinem neuen Ersuchen Gesichtspunkte wie die in Rn. 14 des vorliegenden Urteils angeführten angibt, aus denen sich ergibt, dass die Beantwortung der nicht geprüften Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits tatsächlich erforderlich ist.
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Inverkehrbringen“ im Sinne dieser Bestimmung das Anbieten von Tabakerzeugnissen über Warenausgabeautomaten erfasst, in denen die Packungen dieser Produkte derart vorrätig gehalten werden, dass sie von außen nicht sichtbar sind.
Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Ausdruck „in Verkehr bringen“ nach Art. 2 Nr. 40 der Richtlinie 2014/40 „die entgeltliche oder unentgeltliche Bereitstellung von Produkten – unabhängig vom Ort ihrer Herstellung – für Verbraucher, die sich in der Union befinden, auch mittels Fernabsatz“ bezeichnet.
Gemäß dem üblichen Sinn des Wortes „Bereitstellung“ ist ein Tabakerzeugnis dann im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 als „in den Verkehr gebracht“ anzusehen, wenn die Verbraucher sich dieses beschaffen können. Wenn also ein Tabakerzeugnis zum Verkauf bereitsteht, so ist es auch dann als in den Verkehr gebracht anzusehen, wenn es noch nicht gekauft und bezahlt wurde.
Außerdem ist klarzustellen, dass gemäß dem Wortlaut von Art. 2 Nr. 40 und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie die Mittel, mit denen die Tabakerzeugnisse dem Verbraucher dargeboten werden, sich nicht auf die Bedeutung des Begriffs „Inverkehrbringen“ im Sinne der Richtlinie auswirken.
Folglich steht im vorliegenden Fall die Tatsache, dass die Tabakerzeugnisse im Inneren des Warenausgabeautomaten, mit dem sie zum Verkauf bereitgestellt werden, nicht sichtbar sind, der Feststellung nicht entgegen, dass diese Produkte im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 „in den Verkehr gebracht“ wurden.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Inverkehrbringen“ im Sinne dieser Bestimmung das Anbieten von Tabakerzeugnissen über Warenausgabeautomaten erfasst, in denen die Packungen dieser Produkte derart vorrätig gehalten werden, dass sie von außen nicht sichtbar sind.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf einer Packung oder einer Außenverpackung eines Tabakerzeugnisses im Sinne dieser Vorschrift „verdeckt“ sind, allein weil dieses Erzeugnis in einem Warenausgabeautomaten vorrätig gehalten wird und deshalb von außen überhaupt nicht sichtbar ist.
Gemäß Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf einer Packung und der Außenverpackung eines Tabakerzeugnisses bei seinem Inverkehrbringen nicht teilweise oder vollständig durch Steuerzeichen, Preisaufkleber, Sicherheitsmerkmale, Hüllen, Taschen, Schachteln oder sonstige Gegenstände verdeckt oder getrennt werden.
Somit regelt diese Vorschrift nicht ausdrücklich den Fall, dass zwar auf den Packungen oder Verpackungen von Tabakerzeugnissen gesundheitsbezogene Warnhinweise aufgebracht sind, diese Erzeugnisse aber derart in einem Behältnis eingeschlossen vorrätig gehalten werden, dass sie von außen nicht sichtbar sind.
Dennoch ist zu bestimmen, ob in einer solchen Situation die gesundheitsbezogenen Warnhinweise als durch „sonstige Gegenstände“ verdeckt im Sinne der genannten Vorschrift anzusehen sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C-435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Wortlaut von Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 betrifft das vollständige oder teilweise Verdecken der gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf den Packungen von Tabakerzeugnissen oder den Außenverpackungen und nicht das Verdecken der Packungen als solche.
Was insbesondere die in Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 erwähnten „sonstige[n] Gegenstände“ angeht, durch die die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf einer Packung und der Außenverpackung eines Tabakerzeugnisses verdeckt werden können, ist festzustellen, dass die in dieser Vorschrift nicht abschließend aufgezählten Gegenstände, nämlich Steuerzeichen, Preisaufkleber, Sicherheitsmerkmale, Hüllen, Taschen oder Schachteln, allesamt geeignet sind, entweder unmittelbar auf der Packung eines Tabakerzeugnisses oder seiner Außenverpackung angebracht zu werden oder diese Packung oder Verpackung zu umschließen. Dagegen vermag keiner dieser Gegenstände eine solche Packung für die Öffentlichkeit vollkommen unzugänglich oder unsichtbar zu machen, wie dies der Fall ist, wenn sie in einem Behältnis eingeschlossen wie etwa – im vorliegenden Fall – in einem Warenausgabeautomaten vorrätig gehalten wird.
Diese Auslegung wird durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 8 Abs. 3 einfügt. Die Frage des Verdeckens der gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf den Packungen der Tabakerzeugnisse, um die es in dieser Vorschrift geht, unterscheidet sich von der des etwaigen Fehlens der gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf den Bildern der Packungen von Tabakerzeugnissen, die sich auf der Außenseite eines Warenausgabeautomaten befinden können, in dem diese Packungen vorrätig gehalten werden. Die letztgenannte Frage betrifft Art. 8 Abs. 8 der Richtlinie 2014/40, der vom Gerichtshof im Urteil vom 9. Dezember 2021, Pro Rauchfrei (C-370/20, EU:C:2021:988), ausgelegt worden ist.
Was den Zweck des in Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 enthaltenen Verbots des Verdeckens gesundheitsbezogener Warnhinweise betrifft, so verfolgt diese Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 ein zweifaches Ziel, und zwar soll sie – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtern (Urteil vom 9. Dezember 2021, Pro Rauchfrei, C-370/20, EU:C:2021:988, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hierzu hat der Gerichtshof in Rn. 30 des Urteils vom 9. Dezember 2021, Pro Rauchfrei (C-370/20, EU:C:2021:988), im Wesentlichen ausgeführt, dass die gesundheitsbezogenen Warnhinweise, die auf den Packungen der Tabakerzeugnisse oder ihren Außenverpackungen zu sehen sein müssen, dem Kaufimpuls entgegenwirken sollen, der angesichts einer solchen Packung oder eines Bilds von dieser beim Verbraucher hervorgerufen wird.
Die Erreichung dieses Ziels wird nicht vereitelt, wenn eine Packung eingeschlossen in einem Behältnis wie einem Warenausgabeautomaten derart vorrätig gehalten wird, dass sie von außen überhaupt nicht sichtbar ist. Da der Verbraucher in diesem Fall die Packung nicht sehen kann, wird er keinen Kaufimpuls verspüren, dem durch die gesundheitsbezogenen Warnhinweise entgegengewirkt werden soll.
Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf einer Packung oder einer Außenverpackung eines Tabakerzeugnisses nicht allein deshalb im Sinne dieser Vorschrift „verdeckt“ sind, weil dieses Erzeugnis in einem Warenausgabeautomaten vorrätig gehalten wird und deshalb von außen überhaupt nicht sichtbar ist.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff „Inverkehrbringen“ im Sinne dieser Bestimmung das Anbieten von Tabakerzeugnissen über Warenausgabeautomaten erfasst, in denen die Packungen dieser Produkte derart vorrätig gehalten werden, dass sie von außen nicht sichtbar sind.
Art. 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2014/40
ist dahin auszulegen, dass
die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf einer Packung oder einer Außenverpackung eines Tabakerzeugnisses nicht allein deshalb im Sinne dieser Vorschrift „verdeckt“ sind, weil dieses Erzeugnis in einem Warenausgabeautomaten vorrätig gehalten wird und deshalb von außen überhaupt nicht sichtbar ist.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK Niedersachsen
Persönlicher Ansprechpartner
0800 0265637