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EuGH 02.04.2020 - C-765/18
EuGH 02.04.2020 - C-765/18 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer) - 2. April 2020 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/55/EG – Gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – Verbraucherschutz – Art. 3 Abs. 3 und Anhang A Buchst. b – Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen – Pflicht, den Verbraucher rechtzeitig und direkt über eine Tariferhöhung zu informieren“
Leitsatz
In der Rechtssache C-765/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Koblenz (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Dezember 2018, in dem Verfahren
Stadtwerke Neuwied GmbH
gegen
RI
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb (Berichterstatter) sowie der Richter T. von Danwitz und A. Kumin,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Stadtwerke Neuwied GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt J. Müller,
der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und Anhang A Buchst. b und c der Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. 2003, L 176, S. 57).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stadtwerke Neuwied GmbH als Gasversorger und ihrem Kunden RI über Zahlungsrückstände nach mehreren Erhöhungen des Gaspreises.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Erwägungsgründe 2 und 3 der Richtlinie 2003/55 lauten:
Die bei der Durchführung dieser Richtlinie gewonnenen Erfahrungen zeugen von dem Nutzen, der sich aus dem Erdgasbinnenmarkt ergeben kann in Form von Effizienzsteigerungen, Preissenkungen, einer höheren Dienstleistungsqualität und einer größeren Wettbewerbsfähigkeit. Nach wie vor bestehen jedoch schwerwiegende Mängel und weit reichende Möglichkeiten zur Verbesserung der Funktionsweise der Märkte, insbesondere sind konkrete Maßnahmen erforderlich, um gleiche Ausgangsbedingungen und die Gefahr einer Marktbeherrschung und von Verdrängungspraktiken zu verringern, durch Sicherstellung nichtdiskriminierender Fernleitungs- und Verteilungstarife, durch einen Netzzugang auf der Grundlage von Tarifen, die vor ihrem Inkrafttreten veröffentlicht werden, sowie durch Sicherstellung des Schutzes der Rechte kleiner und benachteiligter Kunden.
Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 23. und 24. März 2000 in Lissabon dazu aufgerufen, zügig an der Vollendung des Binnenmarktes sowohl im Elektrizitäts- als auch im Gassektor zu arbeiten und die Liberalisierung in diesen Sektoren zu beschleunigen, um in diesen Bereichen einen voll funktionsfähigen Binnenmarkt zu verwirklichen. In seiner Entschließung vom 6. Juli 2000 zum zweiten Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über den Stand der Liberalisierung der Energiemärkte forderte das Europäische Parlament die Kommission auf, einen detaillierten Zeitplan festzulegen, innerhalb dessen genau beschriebene Ziele verwirklicht werden müssen, um stufenweise zu einer völligen Liberalisierung der Energiemärkte zu gelangen.“
Der 27. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:
„Die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen ist eine grundlegende Anforderung dieser Richtlinie, und es ist wichtig, dass in dieser Richtlinie von allen Mitgliedstaaten einzuhaltende gemeinsame Mindestnormen festgelegt werden, die den Zielen des Verbraucherschutzes, der Versorgungssicherheit, des Umweltschutzes und einer gleichwertigen Wettbewerbsintensität in allen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen müssen unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Gegebenheiten aus nationaler Sicht ausgelegt werden können, wobei das [Unionsrecht] einzuhalten ist.“
Art. 2 der Richtlinie 2003/55 enthält folgende Begriffsbestimmungen:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
‚Haushalts-Kunden‘ Kunden, die Erdgas für den Eigenverbrauch im Haushalt kaufen;
…
‚Endkunden‘ Kunden, die Erdgas für den Eigenbedarf kaufen;
…“
Art. 3 („Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und Schutz der Kunden“) Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzes und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht, wozu auch geeignete Maßnahmen gehören, mit denen diesen Kunden geholfen wird, den Ausschluss von der Versorgung zu vermeiden. In diesem Zusammenhang können sie Maßnahmen zum Schutz von Kunden in abgelegenen Gebieten treffen, die an das Erdgasnetz angeschlossen sind. Sie können für an das Gasnetz angeschlossene Kunden einen Versorger letzter Instanz benennen. Sie gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zugelassene Kunden tatsächlich zu einem neuen Lieferanten wechseln können. Zumindest im Fall der Haushalts-Kunden schließen solche Maßnahmen die in Anhang A aufgeführten Maßnahmen ein.“
Anhang A der Richtlinie beschreibt die Maßnahmen zum Schutz der Kunden folgendermaßen:
„Unbeschadet der Verbraucherschutzvorschriften der [Union], insbesondere der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz – Erklärung des Rates und des Parlaments zu Artikel 6 Absatz 1 – Erklärung der Kommission zu Artikel 3 Absatz 1 erster Gedankenstrich (ABl. 1997, L 144, S. 19)] und der Richtlinie 93/13/EG des Rates [vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29)], soll mit den in Artikel 3 genannten Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Kunden
…
rechtzeitig über eine beabsichtigte Änderung der Vertragsbedingungen und dabei über ihr Rücktrittsrecht unterrichtet werden. Die Dienstleister teilen ihren Kunden direkt jede Gebührenerhöhung mit angemessener Frist mit, auf jeden Fall jedoch vor Ablauf der normalen Abrechnungsperiode, die auf die Gebührenerhöhung folgt. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass es den Kunden freisteht, den Vertrag zu lösen, wenn sie die neuen Bedingungen nicht akzeptieren, die ihnen ihr Gasdienstleister mitgeteilt hat;
transparente Informationen über geltende Preise und Tarife sowie über die Standardbedingungen für den Zugang zu Gasdienstleistungen und deren Inanspruchnahme erhalten;
…“
Deutsches Recht
§ 36 Abs. 1 und 2 des Energiewirtschaftsgesetzes lautet:
„Grundversorgungspflicht
(1) Energieversorgungsunternehmen haben für Netzgebiete, in denen sie die Grundversorgung von Haushaltskunden durchführen, Allgemeine Bedingungen und Allgemeine Preise für die Versorgung in Niederspannung oder Niederdruck öffentlich bekannt zu geben und im Internet zu veröffentlichen und zu diesen Bedingungen und Preisen jeden Haushaltskunden zu versorgen. Die Pflicht zur Grundversorgung besteht nicht, wenn die Versorgung für das Energieversorgungsunternehmen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist.
(2) Grundversorger nach Absatz 1 ist jeweils das Energieversorgungsunternehmen, das die meisten Haushaltskunden in einem Netzgebiet der allgemeinen Versorgung beliefert. …“
§ 1 Abs. 1 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden vom 21. Juni 1979 (BGBl. 1979 I S. 676) (im Folgenden: AVBGasV) lautet:
„Die allgemeinen Bedingungen, zu denen Gasversorgungsunternehmen … jedermann an ihr Versorgungsnetz anzuschließen und zu allgemeinen Tarifpreisen zu versorgen haben, sind in den §§ 2 bis 34 dieser Verordnung geregelt. Sie sind Bestandteil des Versorgungsvertrages.“
Nach § 4 Abs. 2 AVBGasV werden Änderungen der allgemeinen Tarife und Bedingungen erst nach öffentlicher Bekanntgabe wirksam.
§ 32 Abs. 1 und 2 AVBGasV sieht vor:
„(1) Das Vertragsverhältnis läuft solange ununterbrochen weiter, bis es von einer der beiden Seiten mit einer Frist von einem Monat auf das Ende eines Kalendermonats gekündigt wird …
(2) Ändern sich die allgemeinen Tarife oder ändert das Gasversorgungsunternehmen im Rahmen dieser Verordnung seine allgemeinen Bedingungen, so kann der Kunde das Vertragsverhältnis mit zweiwöchiger Frist auf das Ende des der öffentlichen Bekanntgabe folgenden Kalendermonats kündigen.
…“
Die AVBGasV wurde durch die Gasgrundversorgungsverordnung vom 26. Oktober 2006 (BGBl. 2006 I S. 2396) in der Fassung des Gesetzes vom 29. August 2016 (BGBl. 2016 I S. 2034) aufgehoben. § 5 Abs. 2 und 3 der Gasgrundversorgungsverordnung sieht vor:
„(2) Änderungen der Allgemeinen Preise und der ergänzenden Bedingungen werden jeweils zum Monatsbeginn und erst nach öffentlicher Bekanntgabe wirksam, die mindestens sechs Wochen vor der beabsichtigten Änderung erfolgen muss. Der Grundversorger ist verpflichtet, zu den beabsichtigten Änderungen zeitgleich mit der öffentlichen Bekanntgabe eine briefliche Mitteilung an den Kunden zu versenden und die Änderungen auf seiner Internetseite zu veröffentlichen; hierbei hat er den Umfang, den Anlass und die Voraussetzungen der Änderung sowie den Hinweis auf die Rechte des Kunden nach Absatz 3 und die Angaben nach § 2 Absatz 3 Satz 1 Nummer 7 in übersichtlicher Form anzugeben.
(3) Im Fall einer Änderung der Allgemeinen Preise oder ergänzenden Bedingungen hat der Kunde das Recht, den Vertrag ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Änderungen zu kündigen. …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
Die Stadtwerke Neuwied sind ein als Gesellschaft deutschen Privatrechts organisierter Erdgasversorger, der aber als Kommunalunternehmen, das mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zugunsten einer öffentlichen Körperschaft betraut ist, staatlicher Aufsicht untersteht, wobei die Stadt Neuwied (Deutschland) sein einziger Gesellschafter ist und der Bürgermeister der Stadt in seinem Aufsichtsrat sitzt.
RI ist seit dem 28. Juli 2004 Kunde der Stadtwerke Neuwied. Dieser Gasversorger hat seine Leistungen im Rahmen eines Grundversorgungsvertrags erbracht. Zwischen Januar 2005 und September 2011 nahmen die Stadtwerke Neuwied Tariferhöhungen vor, die dem Anstieg der Bezugskosten von Erdgas entsprachen, und berücksichtigten dabei die Ersparnisse in anderen Bereichen der Sparte Gas. Sie verlangen nun von RI die Zahlung eines Betrags von 1334,71 Euro, der den aufgrund der Tarifanpassungen geschuldeten Rückständen entspricht. RI wurde nicht persönlich über diese Anpassungen informiert, wobei klarzustellen ist, dass die Stadtwerke Neuwied ihre Preise und ihre allgemeinen Tarife sowie die Vertragsanpassungen auf ihrer Internetseite veröffentlichten. Die Tariferhöhungen wurden zudem in der regionalen Presse veröffentlicht.
Vor dem vorlegenden Gericht machte RI geltend, der mit den Stadtwerken Neuwied geschlossene Versorgungsvertrag habe keine wirksame Preisgleitklausel enthalten, und bestritt die Ansprüche der Stadtwerke Neuwied. Er vertritt insbesondere die Ansicht, dass den Stadtwerken Neuwied kein wirksames Preisanpassungsrecht zugestanden habe, dass der geforderte Verbrauchspreis unbillig sei und dass das einseitige Preisbestimmungsrecht nach § 4 AVBGasV, sofern es bestehen sollte, intransparent sei. RI schließt daraus, dass die Erhöhungen des Gaspreises unwirksam gewesen seien. RI erhob zudem Widerklage, mit der er die Feststellung, dass die vom Versorger bestimmten Preise unbillig und unwirksam seien, und die Rückzahlung eines Teils der Beträge beantragt, die er zwischen dem 1. Januar 2005 und dem 31. Dezember 2011 an die Stadtwerke Neuwied gezahlt hat.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit von der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2003/55 ab.
Das Versäumnis der Stadtwerke Neuwied, den Verbraucher rechtzeitig und direkt über die Erhöhungen des Gaspreises zu informieren, könne deren Gültigkeit in Frage stellen, weil die sich aus Art. 3 Abs. 3 und Anhang A Buchst. b und c der Richtlinie 2003/55 ergebende Transparenzanforderung in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar geltend gemacht werden könne, obwohl die Richtlinie im streitigen Zeitraum nicht in deutsches Recht umgesetzt gewesen sei.
Das vorlegende Gericht stellt allerdings klar, dass sein Ansatz in Anbetracht der nicht erfolgten Umsetzung voraussetze, dass die in der Richtlinie 2003/55 vorgesehene Transparenzanforderung unmittelbar anwendbar sei sowie von einem Einzelnen gegenüber einer privatrechtlichen Gesellschaft wie den Stadtwerken Neuwied geltend gemacht werden könne, und dass die Einhaltung dieser Anforderung sogar eine Voraussetzung für die Gültigkeit der Preiserhöhung sei.
Insoweit weist es darauf hin, dass der Bundesgerichtshof (Deutschland) entschieden habe, dass die im für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitraum geltenden nationalen Bestimmungen nicht im Einklang mit der Richtlinie 2003/55 hätten ausgelegt werden können. Da der Bundesgerichtshof im Übrigen die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie verneint habe, sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass dies nicht zur Ungültigkeit der streitgegenständlichen Preiserhöhungen führe, und daher habe er den Stadtwerken Neuwied aufgrund einer ergänzenden Vertragsauslegung des Gaslieferungsvertrags ein Preisänderungsrecht zuerkannt.
Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2003/55 in Verbindung mit deren Anhang A Buchst. b und c dahin auszulegen ist, dass die direkte Information des Kunden über die Tariferhöhung eine Voraussetzung für die Gültigkeit der Erhöhung ist. Ferner möchte es wissen, ob diese Bestimmungen unmittelbar anwendbar sind, weil sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als unbedingt und hinreichend genau angesehen werden können und gegenüber einer Einrichtung, nämlich den Stadtwerken Neuwied, geltend gemacht worden sind, die ebenfalls nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehend oder mit besonderen Rechten, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben, ausgestattet angesehen werden könnte.
Unter diesen Umständen hat das Landgericht Koblenz (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 3 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang A Buchst. b und c der Richtlinie 2003/55 dahin auszulegen, dass die unterbliebene rechtzeitige und direkte Information der Gaskunden über Voraussetzungen, Anlass und Umfang einer bevorstehenden Tarifänderung für Gaslieferungen der Wirksamkeit einer solchen Tarifänderung entgegensteht?
Falls diese Frage bejaht wird:
Ist Art. 3 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang A Buchst. b und c der Richtlinie 2003/55 gegenüber einem privatrechtlich (als deutsche GmbH) organisierten Versorgungsunternehmen seit dem 1. Juli 2004 unmittelbar anwendbar, weil die genannten Bestimmungen dieser Richtlinie inhaltlich unbedingt und damit ohne weiteren Umsetzungsakt anwendungsfähig sind und dem Bürger Rechte gegenüber einer Organisation einräumen, die trotz ihrer privaten Rechtsform dem Staat untersteht, weil dieser alleiniger Anteilseigner des Unternehmens ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2003/55 in Verbindung mit deren Anhang A Buchst. b und c dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass Tarifänderungen, die den Kunden nicht persönlich mitgeteilt worden sind, von einem Gasversorger letzter Instanz nur zu dem Zweck vorgenommen werden, den Anstieg der Bezugskosten von Erdgas ohne Gewinnerzielungsabsicht abzuwälzen, die Einhaltung der in diesen Bestimmungen genannten Transparenz- und Informationspflichten durch den Versorger eine Voraussetzung für die Gültigkeit der betreffenden Tarifänderungen ist.
Der Zweck der Richtlinie 2003/55 ist die Verbesserung der Funktionsweise des Gasbinnenmarkts. Insoweit ist ein nicht diskriminierender, transparenter und zu angemessenen Preisen gewährleisteter Netzzugang Voraussetzung für einen funktionierenden Wettbewerb und von größter Bedeutung für die Vollendung des Gasbinnenmarkts (Urteil vom 23. Oktober 2014, Schulz und Egbringhoff, C-359/11 und C-400/11, EU:C:2014:2317, Rn. 39).
In diesem Kontext liegen den Bestimmungen der Richtlinie 2003/55 Belange des Verbraucherschutzes zugrunde, die in engem Zusammenhang sowohl mit der Liberalisierung der in Rede stehenden Märkte als auch mit dem ebenfalls mit dieser Richtlinie verfolgten Ziel stehen, eine stabile Gasversorgung zu gewährleisten (Urteil vom 23. Oktober 2014, Schulz und Egbringhoff, C-359/11 und C-400/11, EU:C:2014:2317, Rn. 40).
Im Hinblick auf dieses Ziel und auf diese Belange sieht Art. 3 der Richtlinie 2003/55, der die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und den Verbraucherschutz betrifft, in Abs. 3 vor, dass die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzes ergreifen. Ferner können die Mitgliedstaaten einen Versorger letzter Instanz benennen, um die Versorgungssicherheit der am Gasnetz angeschlossenen Kunden zu gewährleisten. Zumindest im Fall der Haushaltskunden schließen diese Maßnahmen jedenfalls die in Anhang A aufgeführten Maßnahmen ein.
Nach Anhang A Buchst. b der Richtlinie 2003/55 sollen die in deren Art. 3 Abs. 3 genannten Maßnahmen insbesondere gewährleisten, dass die Dienstleister ihren Kunden direkt jede Gebührenerhöhung mit angemessener Frist mitteilen, auf jeden Fall jedoch vor Ablauf der normalen Abrechnungsperiode, die auf die Gebührenerhöhung folgt. Ferner stellen die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung sicher, dass es den Kunden freisteht, den Vertrag zu lösen, wenn sie die neuen Bedingungen der Gasversorgung nicht akzeptieren. Nach Anhang A Buchst. c der Richtlinie erhalten die Kunden transparente Informationen über geltende Preise und Tarife.
Dem Wortlaut dieser Bestimmungen ist jedoch nicht zu entnehmen, ob die Einhaltung der den Gasversorgern obliegenden Transparenz- und Informationspflichten eine Voraussetzung für die Gültigkeit der Tarifänderungen der Gaslieferung ist.
Der Gerichtshof hat allerdings entschieden, dass die Kunden, um ihre Rechte in vollem Umfang und tatsächlich nutzen und in voller Sachkenntnis eine Entscheidung über eine mögliche Lösung vom Vertrag oder ein Vorgehen gegen die Änderung des Lieferpreises treffen zu können, rechtzeitig vor dem Inkrafttreten dieser Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden müssen (Urteil vom 23. Oktober 2014, Schulz und Egbringhoff, C-359/11 und C-400/11, EU:C:2014:2317, Rn. 47).
Folglich sollen die in Anhang A Buchst. b und c der Richtlinie 2003/55 vorgeschriebenen Transparenz- und Informationspflichten entsprechend dem Ziel des Verbraucherschutzes gewährleisten, dass der Kunde sein Recht zur Lösung vom Vertrag oder zum Vorgehen gegen die Änderung des Lieferpreises ausüben kann.
Die Ausübung dieses Rechts durch die Kunden könnte jedoch nicht gewährleistet sein und den Bestimmungen von Anhang A Buchst. b und c der Richtlinie 2003/55 würde die praktische Wirksamkeit genommen, wenn der Gasversorger seine Transparenz- und Informationspflichten dadurch verletzen würde, dass er es insbesondere unterlässt, seine Kunden persönlich von der in Betracht gezogenen Tarifänderung zu informieren.
Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass die Stadtwerke Neuwied unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens als „Versorger letzter Instanz“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2003/55 handelten und die von diesem Versorger nacheinander vorgenommenen Tarifänderungen nur dazu dienten, den Anstieg der Bezugskosten von Erdgas ohne Gewinnerzielungsabsicht abzuwälzen.
Der Gerichtshof hat aber entschieden, dass aufgrund der Tatsache, dass ein solcher Gasversorger im Rahmen der durch die nationalen Rechtsvorschriften auferlegten Verpflichtungen verpflichtet ist, mit allen Kunden, die darum ersuchen und die dazu berechtigt sind, zu den in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Bedingungen Verträge zu schließen, die wirtschaftlichen Interessen dieses Versorgers insoweit zu berücksichtigen sind, als er sich die andere Vertragspartei nicht aussuchen und den Vertrag nicht beliebig beenden kann (Urteil vom 23. Oktober 2014, Schulz und Egbringhoff, C-359/11 und C-400/11, EU:C:2014:2317, Rn. 44).
Daher ist festzustellen, dass in dem Fall, dass die Tarifänderungen des Gasversorgers lediglich den Anstieg der Bezugskosten von Gas auf den Preis der Dienstleistung abwälzen, ohne dass der Versorger einen Gewinn zu erzielen beabsichtigt, die Ungültigkeit dieser Änderungen wegen unterbliebener persönlicher Mitteilung an die Kunden die wirtschaftlichen Interessen des Gasversorgers ernsthaft gefährden kann.
Demzufolge kann die Gültigkeit der Tariferhöhung, die der Umwälzung des Anstiegs der Bezugskosten von Gas entspricht, nicht von der persönlichen Information der Kunden abhängen, da der Versorger die Versorgungssicherheit seiner Kunden zu gewährleisten hat. Andernfalls könnte das vom Gasversorger getragene wirtschaftliche Risiko sowohl die Verwirklichung des mit der Richtlinie 2003/55 verfolgten Ziels der Versorgungssicherheit in Frage stellen als auch die wirtschaftlichen Interessen dieses Versorgers unverhältnismäßig beeinträchtigen.
Da das Unterbleiben einer persönlichen Mitteilung der Tarifänderungen selbst in einer solchen Situation gleichwohl eine Beeinträchtigung des Verbraucherschutzes darstellt, ist allerdings zum einen erforderlich, dass die Kunden eines solchen Versorgers den Vertrag jederzeit kündigen können, und zum anderen, dass dem Kunden, da die Gasversorgung zu einem Tarif durchgeführt wird, von dem er vor seinem Inkrafttreten nicht Kenntnis nehmen konnte, angemessene Rechtsbehelfe offenstehen, damit er Ersatz für den Schaden verlangen kann, der gegebenenfalls entstanden ist, weil er nicht die Möglichkeit hatte, rechtzeitig sein Recht auszuüben, den Versorger zu wechseln, um einen günstigeren Tarif zu erhalten. Das vorlegende Gericht wird diese Punkte zu überprüfen haben.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2003/55 in Verbindung mit deren Anhang A Buchst. b und c dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass Tarifänderungen, die den Kunden nicht persönlich mitgeteilt worden sind, von einem Gasversorger letzter Instanz nur zu dem Zweck vorgenommen werden, den Anstieg der Bezugskosten von Erdgas ohne Gewinnerzielungsabsicht abzuwälzen, die Einhaltung der in diesen Bestimmungen genannten Transparenz- und Informationspflichten durch den Versorger keine Voraussetzung für die Gültigkeit der betreffenden Tarifänderungen ist, sofern die Kunden den Vertrag jederzeit kündigen können und über angemessene Rechtsbehelfe verfügen, um Ersatz für den Schaden zu erhalten, der gegebenenfalls durch das Unterbleiben einer persönlichen Mitteilung der Änderungen entstanden ist.
Zur zweiten Vorlagefrage
In Anbetracht der Antwort auf die erste Vorlagefrage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG in Verbindung mit deren Anhang A Buchst. b und c ist dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass Tarifänderungen, die den Kunden nicht persönlich mitgeteilt worden sind, von einem Gasversorger letzter Instanz nur zu dem Zweck vorgenommen werden, den Anstieg der Bezugskosten von Erdgas ohne Gewinnerzielungsabsicht abzuwälzen, die Einhaltung der in diesen Bestimmungen genannten Transparenz- und Informationspflichten durch den Versorger keine Voraussetzung für die Gültigkeit der betreffenden Tarifänderungen ist, sofern die Kunden den Vertrag jederzeit kündigen können und über angemessene Rechtsbehelfe verfügen, um Ersatz für den Schaden zu erhalten, der gegebenenfalls durch das Unterbleiben einer persönlichen Mitteilung der Änderungen entstanden ist.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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