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EuGH 07.04.2016 - C-315/14
EuGH 07.04.2016 - C-315/14 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) - 7. April 2016 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Selbständige Handelsvertreter — Richtlinie 86/653/EWG — Art. 17 Abs. 2 — Ausgleichszahlung für Kunden — Voraussetzungen für die Gewährung — Werbung neuer Kunden — Begriff ‚neue Kunden‘ — Kunden des Unternehmers, die erstmals Waren beziehen, deren Vertrieb dem Handelsvertreter anvertraut wurde“
Leitsatz
In der Rechtssache C-315/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juli 2014, in dem Verfahren
Marchon Germany GmbH
gegen
Yvonne Karaszkiewicz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Marchon Germany GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte C. Stempfle, C. Nitsche, A. Zafar und A. Herbertz,
von Frau Karaszkiewicz, vertreten durch Rechtsanwalt G. Heinicke,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, B. Beutler, J. Kemper und J. Mentgen als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Müller als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch K.-P. Wojcik und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2015
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. L 382, S. 17).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Marchon Germany GmbH (im Folgenden: Marchon) und Frau Karaszkiewicz über die Ausgleichszahlung für Kunden, die Frau Karaszkiewicz nach der Beendigung ihres Handelsvertretervertrags von Marchon fordert.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Erwägungsgründe 2 und 3 der Richtlinie 86/653 lauten:
„Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der [Europäischen Union] spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmen sowie die Sicherheit im Handelsverkehr. Diese Unterschiede erschweren im Übrigen auch erheblich den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmer und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.
Der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten muss unter Bedingungen erfolgen, die denen eines Binnenmarktes entsprechen, weswegen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in dem zum guten Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang angeglichen werden müssen. Selbst vereinheitlichte Kollisionsnormen auf dem Gebiet der Handelsvertretung können die erwähnten Nachteile nicht beseitigen und lassen daher einen Verzicht auf die vorgeschlagene Harmonisierung nicht zu.“
Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen gelten für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln.
(2) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im Folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.“
In Art. 3 der Richtlinie heißt es:
„(1) Bei der Ausübung seiner Tätigkeit hat der Handelsvertreter die Interessen des Unternehmers wahrzunehmen und sich nach den Geboten von Treu und Glauben zu verhalten.
(2) Im Besonderen muss der Handelsvertreter
sich in angemessener Weise für die Vermittlung und gegebenenfalls den Abschluss der ihm anvertrauten Geschäfte einsetzen;
…“
Art. 17 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 hat.
Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit
er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und
die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht …
Der Ausgleich darf einen Betrag nicht überschreiten, der einem jährlichen Ausgleich entspricht, der aus dem Jahresdurchschnittsbetrag der Vergütungen, die der Handelsvertreter während der letzten fünf Jahre erhalten hat, errechnet wird; ist der Vertrag vor weniger als fünf Jahren geschlossen worden, wird der Ausgleich nach dem Durchschnittsbetrag des entsprechenden Zeitraums ermittelt.
…“
Deutsches Recht
§ 89b Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB) bestimmt:
„Der Handelsvertreter kann von dem Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses einen angemessenen Ausgleich verlangen, wenn und soweit
der Unternehmer aus der Geschäftsverbindung mit neuen Kunden, die der Handelsvertreter geworben hat, auch nach Beendigung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile hat und
die Zahlung eines Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht.
Der Werbung eines neuen Kunden steht es gleich, wenn der Handelsvertreter die Geschäftsverbindung mit einem Kunden so wesentlich erweitert hat, dass dies wirtschaftlich der Werbung eines neuen Kunden entspricht.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Großhändlerin von Brillengestellen vertreibt Marchon eine Produktpalette von Brillengestellen verschiedener Modelle, Marken und Kollektionen an eine Kundschaft, die aus Optikern besteht.
Um den Vertrieb ihrer Gestelle zu gewährleisten, greift Marchon auf eine Reihe von Handelsvertretern zurück. Diese betraut sie jeweils mit der Vermittlung des Verkaufs von Brillengestellen nicht der gesamten Produktpalette, sondern nur solcher einer oder mehrerer bestimmter Marken. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass jeder Handelsvertreter in einem bestimmten Gebiet im Wettbewerb zu anderen Handelsvertretern steht, denen Marchon den Vertrieb von Brillengestellen ihrer anderen Marken übertragen hat.
Frau Karaszkiewicz, die von September 2008 bis Juni 2009 als Handelsvertreterin für Marchon tätig war, war mit dem Vertrieb von Brillengestellen der Marken C. K. und F. betraut. Marchon hatte ihr zu diesem Zweck eine Liste mit Optikern zur Verfügung gestellt, mit denen sie bereits in Bezug auf Brillengestelle anderer Marken Geschäftsverbindungen unterhielt. Frau Karaszkiewicz vermittelte den Verkauf der ihr zugewiesenen Brillengestelle überwiegend an diese Optiker.
Nach der Beendigung ihres Vertrags verlangte Frau Karaszkiewicz von Marchon eine Ausgleichszahlung für Kunden gemäß § 89b HGB. Dazu machte sie u. a. geltend, dass die Optiker, die aufgrund ihrer Einschaltung erstmals Brillengestelle der Marken C. K. oder F. bezogen hätten, als Neukunden im Sinne dieser Bestimmung anzusehen seien, auch wenn sie bereits auf der Kundenliste gestanden hätten, die ihr diese Gesellschaft zur Verfügung gestellt habe.
Das Landgericht München I gab der Klage von Frau Karaszkiewicz statt, beschränkte die Höhe des gewährten Ausgleichs jedoch aus Gründen der Billigkeit auf die Hälfte des von ihr beantragten Betrags. Es war nämlich der Ansicht, dass die von ihr erbrachten Vermittlungstätigkeiten dadurch erleichtert worden seien, dass die Neukunden, die sie für Marchon geworben habe, diese Gesellschaft bereits gekannt hätten.
Marchon legte gegen diese Entscheidung Berufung beim Oberlandesgericht München ein. Da dieses Gericht die ursprüngliche Entscheidung bestätigte, legte Marchon Revision zum Bundesgerichtshof ein.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt der Erfolg der Revision von der Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 und insbesondere davon ab, ob man davon ausgehen könne, dass ein Handelsvertreter unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden neue Kunden im Sinne dieser Bestimmung geworben habe.
So könnte der Begriff „neue Kunden“ im Sinne dieser Bestimmung auf Personen beschränkt sein, die vor der Einschaltung des betreffenden Handelsvertreters keine Geschäftsverbindung mit dem Unternehmer hatten. Dennoch fragt sich das vorlegende Gericht, ob nicht eine weiter gehende Auslegung dieser Bestimmung vorzunehmen ist, wenn der Handelsvertreter angesichts der Vertriebsstruktur des Unternehmers nur einen Teil der Waren des Unternehmers vertreibt. Im Hinblick auf Sinn und Zweck der Richtlinie 86/653 und insbesondere auf das Ziel des Schutzes des Handelsvertreters in seinen Beziehungen zu dem Unternehmer könnten die Personen, die bisher keine Waren des Unternehmers, mit deren Verkaufsförderung der Handelsvertreter betraut worden war, bezogen hatten, trotz der zwischen ihnen und dem Unternehmer wegen anderer Waren bestehenden Geschäftsverbindungen als neue Kunden im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie angesehen werden.
Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass er der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach „neue Kunden“ auch solche vom Handelsvertreter geworbene Kunden sein können, die zwar bereits Geschäftsverbindungen mit dem Unternehmer wegen von ihm vertriebener Produkte aus einem Produktsortiment unterhalten, jedoch nicht wegen solcher Produkte, mit deren alleiniger Vermittlung der Unternehmer den Handelsvertreter beauftragt hat?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
Mit am 18. November 2015 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat Marchon die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt.
Sie macht im Wesentlichen geltend, dass bestimmte vom Generalanwalt in seinen Schlussanträgen verwendete Begriffe, nämlich „Produkt“, „neue Produktkategorie“ und „Marke“, zwischen den Parteien nicht erörtert worden seien.
Der Gerichtshof kann gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
Im vorliegenden Fall geht der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts davon aus, dass er über alle erforderlichen Angaben verfügt, um die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage zu beantworten, und dass die Rechtssache nicht im Hinblick auf eine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung ist, oder im Hinblick auf ein vor ihm nicht erörtertes Vorbringen zu beurteilen ist.
Was insbesondere die vom Generalanwalt in seinen Schlussanträgen verwendeten Begriffe „Produkt“, „neue Produktkategorie“ und „Marke“ betrifft, ist festzustellen, dass die Parteien in ihren schriftlichen Erklärungen und in der Sitzung ausreichend Gelegenheit hatten, diese Begriffe zu erörtern.
Unter diesen Umständen ist der Antrag von Marchon auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zurückzuweisen.
Zur Vorlagefrage
Vor der Prüfung der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 86/653, wie aus ihrem Art. 1 hervorgeht, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien eines Handelsvertretervertrags regeln und in ihren Art. 13 bis 20 insbesondere Abschluss und Beendigung dieses Vertrags harmonisiert.
Was die Beendigung des Handelsvertretervertrags betrifft, verpflichtet Art. 17 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, eine Regelung für die Entschädigung des Handelsvertreters einzuführen, wobei er ihnen die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten lässt, nämlich entweder einem nach den Kriterien des Art. 17 Abs. 2 bestimmten Ausgleich – d. h. dem System des Ausgleichs für Kunden – oder Schadensersatz nach den in Art. 17 Abs. 3 festgelegten Kriterien – d. h. dem Schadensersatzsystem (vgl. Urteil Quenon K., C-338/14, EU:C:2015:795, Rn. 24).
Es ist unstreitig, dass die Bundesrepublik Deutschland das System des Ausgleichs für Kunden gewählt hat.
Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass die von einem Handelsvertreter für die Waren geworbenen Kunden, mit deren Verkauf ihn der Unternehmer beauftragt hat, auch dann als neue Kunden im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen mit diesem Unternehmer unterhielten.
Nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 hat der Handelsvertreter Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht. Die Zahlung eines solchen Ausgleichs hat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit zu entsprechen.
Der reine Wortlaut dieser Bestimmung könnte, da zwischen neuen Kunden und vorhandenen Kunden unterschieden wird, nahelegen, dass als neue Kunden nur diejenigen anzusehen sind, mit denen der Unternehmer bis zur Einschaltung des Handelsvertreters und ganz allgemein keine Geschäftsverbindungen unterhalten hat. Jedoch lässt sich anhand dieses Wortlauts allein nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Eigenschaft als „neuer“ oder als „vorhandener“ Kunde in Bezug auf die gesamte Produktpalette des Unternehmers oder auf bestimmte Waren im Besonderen zu beurteilen ist.
Folglich ist Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem diese Bestimmung steht, und der Ziele, die mit dieser Richtlinie verfolgt werden, auszulegen (vgl. entsprechend Urteile Csonka u. a., C-409/11, EU:C:2013:512, Rn. 23, und Vnuk, C-162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 42).
Als Erstes ist zum Kontext, in dem diese Bestimmung steht, zu bemerken, dass diese eine der Maßnahmen zur Harmonisierung der für Handelsvertreterverträge geltenden Regeln darstellt, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist. Dazu ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653, dass im Rahmen eines solchen Vertrags derjenige Handelsvertreter ist, der als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für den Unternehmer den Verkauf oder Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.
Im Übrigen geht aus Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie hervor, dass der Handelsvertreter im Rahmen dieses Vertrags die Interessen des Unternehmers wahrzunehmen hat, u. a. indem er sich in angemessener Weise für die Vermittlung und gegebenenfalls den Abschluss der ihm anvertrauten Geschäfte einsetzt.
Wie die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, hängt der Gegenstand der Tätigkeit des Handelsvertreters daher vom Wortlaut des ihn mit dem Unternehmer verbindenden Vertrags und insbesondere von der Vereinbarung der Parteien hinsichtlich der Waren ab, die der Unternehmer mit Hilfe des Handelsvertreters verkaufen oder kaufen möchte.
Was als Zweites die mit der Richtlinie 86/653 verfolgten Ziele betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese u. a. die Interessen des Handelsvertreters gegenüber dem Unternehmer schützen soll (vgl. in diesem Sinne Urteile Honyvem Informazioni Commerciali, C-465/04, EU:C:2006:199, Rn. 19, und Quenon K., C-338/14, EU:C:2015:795, Rn. 23). Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass Art. 17 dieser Richtlinie insofern entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteil Unamar, C-184/12, EU:C:2013:663, Rn. 39). Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie ist folglich in einem Sinne auszulegen, der zu diesem Schutz des Handelsvertreters beiträgt und folglich seine Verdienste beim Zustandekommen der ihm anvertrauten Geschäfte vollständig berücksichtigt. Der Begriff „neuer Kunde“ im Sinne dieser Bestimmung darf demnach nicht eng ausgelegt werden.
Im Licht der vorstehenden Ausführungen ist davon auszugehen, dass die Beurteilung, ob es sich um einen neuen oder um einen vorhandenen Kunden im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 handelt, anhand der Waren zu erfolgen hat, mit deren Vermittlung der Handelsvertreter vom Unternehmer beauftragt wurde und deren An- oder Verkauf er gegebenenfalls tätigen soll.
In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der Handelsvertreter nach dem Wortlaut seines Handelsvertretervertrags mit der Vermittlung des Verkaufs eines Teils der Warenpalette des Unternehmers, nicht aber der gesamten Warenpalette betraut wurde, schließt der Umstand, dass eine Person mit diesem Unternehmer bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen unterhielt, nicht aus, dass diese Person als von diesem Handelsvertreter geworbener neuer Kunde angesehen werden kann, wenn es dem Handelsvertreter durch seine Bemühungen gelungen ist, eine Geschäftsverbindung zwischen dieser Person und dem Unternehmer in Bezug auf die Waren zu begründen, mit deren Vertrieb er beauftragt wurde.
Marchon trägt hingegen vor, dass im vorliegenden Fall die Kunden, auf die sich Frau Karaszkiewicz berufe, für die von dieser vertriebenen Waren nicht als neu im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 anzusehen seien. Diese Kunden hätten nämlich mit Marchon bereits Geschäftsverbindungen wegen Brillengestellen unterhalten, die denen entsprächen, deren Verkauf die Handelsvertreterin habe vermitteln sollen, und lediglich von anderen Marken seien.
Dass unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die von einem Handelsvertreter für seinen Unternehmer geworbenen Kunden von diesem bereits Waren gekauft hatten, die ihrer Art nach mit denen vergleichbar sind, deren Verkauf der Handelsvertreter an diese Kunden vermittelt hat, kann nicht allein ausreichen, um anzunehmen, dass die letztgenannten Waren bereits Teil der zu diesen Kunden bestehenden Geschäftsverbindungen waren.
Demnach ist unter Berücksichtigung der Tätigkeit des Handelsvertreters als Verkaufsvermittler, wie sie in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils dargestellt ist, zu prüfen, ob der Vertrieb der in Rede stehenden Waren von Seiten des betreffenden Handelsvertreters Vermittlungsbemühungen und eine besondere Verkaufsstrategie im Hinblick auf die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung, insbesondere soweit diese Waren zu einem anderen Teil der Produktpalette des Unternehmers gehören, erfordert hat.
Wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann der Umstand, dass der Unternehmer einem Handelsvertreter den Vertrieb neuer Waren an Kunden anvertraut, mit denen er bereits bestimmte Geschäftsverbindungen unterhält, ein Indiz dafür sein, dass diese Waren zu einem anderen Teil der Produktpalette gehören als die Waren, die diese Kunden bisher gekauft hatten, und dass der Vertrieb dieser neuen Waren an diese Kunden die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung durch den Handelsvertreter erfordert, was jedoch das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Diese Analyse wird dadurch bestätigt, dass der Vertrieb von Waren im Allgemeinen je nach den Marken, mit denen sie gekennzeichnet sind, in einem anderen Rahmen stattfindet. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass eine Marke häufig neben einem Hinweis auf die Herkunft der Waren oder Dienstleistungen ein Instrument der Geschäftsstrategie darstellt, das u. a. zu Werbezwecken oder zum Erwerb eines Rufes eingesetzt wird, um den Verbraucher zu binden (Urteil Interflora und Interflora British Unit, C-323/09, EU:C:2011:604, Rn. 39).
Somit können Umstände wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in denen der Vorlageentscheidung zufolge das Warenangebot des Unternehmers nach verschiedenen Marken unterteilt ist und jeder seiner Handelsvertreter mit der Absatzvermittlung nur einer oder einiger dieser Marken betraut ist, darauf hindeuten, dass – was jedoch das vorlegende Gericht zu prüfen hat – diese Handelsvertreter mit jedem Kunden eine für die Marken, für die sie beauftragt sind, spezifische Geschäftsverbindung begründen müssen.
Was schließlich das Vorbringen von Marchon betrifft, dass es für den Handelsvertreter einfacher sei, neue Waren an Personen zu veräußern, die mit dem Unternehmer bereits in Geschäftsverbindungen stünden, kann diese Behauptung, sollte sie zutreffen, vom nationalen Gericht im Rahmen der Prüfung der Billigkeit des Ausgleichs nach Art. 17 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 vollständig berücksichtigt werden (vgl. entsprechend Urteil Volvo Car Germany, C-203/09, EU:C:2010:647, Rn. 44).
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass die von einem Handelsvertreter für Waren geworbenen Kunden, mit deren Vertrieb ihn der Unternehmer beauftragt hat, auch dann als neue Kunden im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen mit dem Unternehmer unterhielten, sofern der Verkauf der erstgenannten Waren durch diesen Handelsvertreter die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung erfordert hat, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter ist dahin auszulegen, dass die von einem Handelsvertreter für Waren geworbenen Kunden, mit deren Vertrieb ihn der Unternehmer beauftragt hat, auch dann als neue Kunden im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen mit dem Unternehmer unterhielten, sofern der Verkauf der erstgenannten Waren durch diesen Handelsvertreter die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung erfordert hat, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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