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EuGH 08.11.2012 - C-268/11
EuGH 08.11.2012 - C-268/11 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) - 8. November 2012 ( *1) - „Vorabentscheidungsersuchen — Assoziierungsabkommen EWG–Türkei — Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats — Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich — Rechte der türkischen Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt angehören — Rückwirkende Rücknahme eines Aufenthaltstitels“
Leitsatz
In der Rechtssache C-268/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hamburgischen Oberverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2011, in dem Verfahren
Atilla Gülbahce
gegen
Freie und Hansestadt Hamburg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, sowie der Richter K. Lenaerts, J. Malenovský, T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn Gülbahce, vertreten durch Rechtsanwalt M. Prottung,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Juni 2012
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, die durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80 bzw. Assoziierungsabkommen).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Gülbahce und der Freien und Hansestadt Hamburg über die Rücknahme seiner Aufenthaltserlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Nach seinem Art. 2 Abs. 1 hat das Assoziierungsabkommen zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Art. 12 des Assoziierungsabkommens lautet: „Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“ In Art. 13 des Abkommens vereinbaren die Vertragsparteien, „sich von den Artikeln [43 EG] bis [46 EG] und [48 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben“.
In Art. 22 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens heißt es:
„Zur Verwirklichung der Ziele des [Assoziierungsabkommens] und in den darin vorgesehenen Fällen ist der Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen. …“
Beschluss Nr. 1/80
Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.
(3) Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt.“
Art. 7 dieses Beschlusses bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.
Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“
Art. 10 dieses Beschlusses sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft räumen den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt.
(2) Vorbehaltlich der Artikel 6 und 7 haben die in Absatz 1 genannten türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen in gleicher Weise wie die Arbeitnehmer aus der Gemeinschaft Anspruch auf die Unterstützung der Arbeitsämter bei der Beschaffung eines Arbeitsplatzes.“
Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“
Deutsches Recht
§ 5 („Arten der Aufenthaltsgenehmigung“) des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet vom 9. Juli 1990 (BGBl. 1990 I S. 1354, im Folgenden: AuslG) bestimmt in seinem Abs. 1:
„Die Aufenthaltsgenehmigung wird erteilt als
Aufenthaltserlaubnis (§§ 15, 17),
Aufenthaltsberechtigung (§ 27),
Aufenthaltsbewilligung (§§ 28, 29),
Aufenthaltsbefugnis (§ 30).“
§ 19 („Eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten“) AuslG sieht vor:
„(1) Die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten wird im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, von dem in § 17 Abs. 1 bezeichneten Aufenthaltszweck unabhängiges Aufenthaltsrecht verlängert, wenn
die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat,
…
und wenn
der Ausländer bis zum Eintritt der in den Nummern 1 bis 3 bezeichneten Voraussetzungen im Besitz der Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung war, es sei denn, er konnte aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht rechtzeitig die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragen.
…
(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist die Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr zu verlängern; die Inanspruchnahme von Sozialhilfe steht dieser Verlängerung, unbeschadet des Absatzes 1 Satz 3, nicht entgegen. Danach kann die Aufenthaltserlaubnis befristet verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die unbefristete Verlängerung nicht vorliegen.
…“
§ 23 („Ausländische Familienangehörige Deutscher“) AuslG bestimmt in seinem Abs. 1:
„Die Aufenthaltserlaubnis ist nach Maßgabe des § 17 Abs. 1
dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen,
…
zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat; …
…“
§ 1 der Verordnung über die Arbeitserlaubnis für nichtdeutsche Arbeitnehmer in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. September 1980 (BGBI. 1980 I S. 1754, im Folgenden: AEVO) lautet:
„Die Erlaubnis nach § 19 Abs. 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (Arbeitserlaubnis) kann nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts erteilt werden
für eine bestimmte berufliche Tätigkeit in einem bestimmten Betrieb oder
ohne Beschränkung auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit und ohne Beschränkung auf einen bestimmten Betrieb.“
§ 2 („Besondere Arbeitserlaubnis“) AEVO sieht in seinem Abs. 1 vor:
„Die Arbeitserlaubnis ist unabhängig von der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts und ohne die Beschränkung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 zu erteilen, wenn der Arbeitnehmer
…
mit einem Deutschen im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes mit gewöhnlichem Aufenthalt im Geltungsbereich dieser Verordnung verheiratet ist …
…“
§ 4 Abs. 2 AEVO bestimmt:
„Die Arbeitserlaubnis nach § 2 Abs. 1, 2 Nr. 1 und 2 sowie Abs. 3 wird auf fünf Jahre befristet. Sie ist Arbeitnehmern, die sich in den letzten acht Jahren vor Beginn der Geltungsdauer der Arbeitserlaubnis ununterbrochen rechtmäßig im Geltungsbereich dieser Verordnung aufgehalten haben, unbefristet zu erteilen.“
In § 284 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuchs in der vom 1. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung (BGBl. 1997 I S. 594, im Folgenden: SGB III) heißt es:
„(1) Ausländer dürfen eine Beschäftigung nur mit Genehmigung des Arbeitsamtes ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen. …
…
(5) Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 [AuslG] besitzt, soweit durch Rechtsverordnung nichts anderes bestimmt ist, und wenn die Ausübung einer Beschäftigung nicht durch eine ausländerrechtliche Auflage ausgeschlossen ist.“
§ 286 („Arbeitsberechtigung“) SGB III sieht vor:
„(1) Die Arbeitsberechtigung wird erteilt, wenn der Ausländer
eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis besitzt und
fünf Jahre rechtmäßig eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Bundesgebiet ausgeübt hat oder
sich seit sechs Jahren im Bundesgebiet ununterbrochen aufhält und
nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt wird.
Für einzelne Personengruppen können durch Rechtsverordnung Ausnahmen von Satz 1 Nr. 1 zugelassen werden.
…
(3) Die Arbeitsberechtigung wird unbefristet und ohne betriebliche, berufliche und regionale Beschränkungen erteilt, soweit durch Rechtsverordnung nichts anderes bestimmt ist.“
§ 2 („Arbeitsberechtigung“) der Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für ausländische Arbeitnehmer vom 17. September 1998 (BGBl. 1998 I S. 2899, im Folgenden: ArGV) bestimmt in seinem Abs. 1:
„Die Arbeitsberechtigung wird abweichend von § 286 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [SGB III] auch dann erteilt, wenn der Ausländer
mit einem deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt und eine nach § 23 Abs. 1 [AuslG] erteilte Aufenthaltserlaubnis besitzt,
…“
In § 5 („Verhältnis zum aufenthaltsrechtlichen Status“) ArGV heißt es:
„Die Arbeitsgenehmigung kann abweichend von § 284 Abs. 5 [SGB III] auch Ausländern erteilt werden,
die vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung befreit sind, wenn die Befreiung nicht auf Aufenthalte bis zu drei Monaten oder auf Aufenthalte ohne Aufnahme einer genehmigungspflichtigen Beschäftigung beschränkt ist,
die eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 des Asylverfahrensgesetzes) besitzen und nicht verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§§ 47 bis 50 des Asylverfahrensgesetzes),
deren Aufenthalt nach § 69 Abs. 3 [AuslG] als erlaubt gilt,
die ausreisepflichtig sind, solange die Ausreisepflicht nicht vollziehbar oder eine gesetzte Ausreisepflicht noch nicht abgelaufen ist,
die eine Duldung (§ 55 [AuslG]) besitzen, es sei denn, diese Ausländer haben sich in das Inland begeben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen, oder bei diesen Ausländern können aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden (§ 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes), oder
deren Abschiebung durch eine richterliche Anordnung ausgesetzt ist.“
Nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 ArGV erlischt die Arbeitsgenehmigung, wenn der Ausländer keine der in § 5 bezeichneten Voraussetzungen erfüllt.
Am 1. Januar 2005 trat das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950, Neufassung im BGBl. 2008 I S. 162, im Folgenden: AufenthG) in Kraft. § 4 („Erfordernis eines Aufenthaltstitels“) Abs. 2 und 5 AufenthG sieht vor:
„(2) Ein Aufenthaltstitel berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sofern es nach diesem Gesetz bestimmt ist oder der Aufenthaltstitel die Ausübung der Erwerbstätigkeit ausdrücklich erlaubt. Jeder Aufenthaltstitel muss erkennen lassen, ob die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erlaubt ist. Einem Ausländer, der keine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung besitzt, kann die Ausübung einer Beschäftigung nur erlaubt werden, wenn die Bundesagentur für Arbeit zugestimmt hat oder durch Rechtsverordnung bestimmt ist, dass die Ausübung der Beschäftigung ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zulässig ist. Beschränkungen bei der Erteilung der Zustimmung durch die Bundesagentur für Arbeit sind in den Aufenthaltstitel zu übernehmen.
…
(5) Ein Ausländer, dem nach dem [Assoziierungsabkommen] ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.“
§ 105 („Fortgeltung von Arbeitsgenehmigungen“) AufenthG sieht in seinem Abs. 2 vor:
„Eine vor Inkrafttreten dieses Gesetzes erteilte Arbeitsberechtigung gilt als uneingeschränkte Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zur Aufnahme einer Beschäftigung.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Herr Gülbahce ist ein türkischer Staatsangehöriger, der im Juni 1997 eine deutsche Staatsangehörige heiratete. Am 8. Juni 1998 reiste er mit einem für eine Familienzusammenführung erteilten Sichtvermerk nach Deutschland ein. Die deutschen Behörden erteilten ihm im Juli 1998 eine Aufenthaltserlaubnis, die im Juni 1999, im August 2001 und im Januar 2004 verlängert wurde. Daneben erteilte ihm das zuständige Arbeitsamt am 29. September 1998 eine unbefristete Arbeitsgenehmigung.
Im Juli 2005 erfuhren die deutschen Behörden, dass die Ehefrau von Herrn Gülbahce im November 1999 erklärt hatte, sie lebe seit dem 1. Oktober 1999 von ihm getrennt. Nachdem ihn die Freie und Hansestadt Hamburg angehört hatte, nahm sie mit Bescheid vom 6. Februar 2006, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 29. August 2006, die Herrn Gülbahce im August 2001 und im Januar 2004 erteilten Aufenthaltserlaubnisse mit Wirkung für die Vergangenheit zurück. Nach Auffassung der Freien und Hansestadt Hamburg waren die Verlängerungen der Aufenthaltserlaubnisse rechtswidrig, weil die eheliche Lebensgemeinschaft zwischen Herrn Gülbahce und seiner Ehefrau keine zwei Jahre bestanden habe. Zudem sei auch eine Verlängerung nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 nicht in Frage gekommen, da Herr Gülbahce nicht mindestens ein Jahr bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei.
Herr Gülbahce erhob vor dem Verwaltungsgericht Hamburg Klage, die mit Urteil vom 3. Juli 2007 abgewiesen wurde. Das als Berufungsgericht angerufene vorlegende Gericht änderte dieses Urteil mit Urteil vom 29. Mai 2008.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat Herr Gülbahce zwar keine zweijährige Ehebestandszeit nachgewiesen und kann sich auch nicht auf Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 berufen, doch hätte seine Aufenthaltserlaubnis aufgrund der ihm im September 1998 erteilten unbefristeten Arbeitsgenehmigung in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 dieses Beschlusses im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Diskriminierungsverboten in den von der Europäischen Union mit der Tunesischen Republik und dem Königreich Marokko geschlossenen Abkommen verlängert werden müssen.
Hierzu vertrat das vorlegende Gericht die Auffassung, dass Herrn Gülbahce, da er sowohl im August 2001 als auch im Januar 2004 dem regulären Arbeitsmarkt angehört habe, das Recht auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung nur aus Gründen des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates hätte entzogen werden können, die bei ihm nicht vorgelegen hätten.
Auf die Revision der Freien und Hansestadt Hamburg gegen das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 29. Mai 2008 hob das Bundesverwaltungsgericht dieses Urteil mit Urteil vom 8. Dezember 2009 auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurück.
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 weder einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit noch ein von einer konkreten Beschäftigung unabhängiges Aufenthaltsrecht verleihe. Dabei gelte eine vor Inkrafttreten des AufenthG erteilte Arbeitsberechtigung ab dessen Inkrafttreten am 1. Januar 2005 nur noch als verwaltungsinterne Zustimmung. In einer solchen Regelung könne auch kein Verstoß gegen die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 gesehen werden, da die Erteilung einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung für Ehegatten deutscher Staatsangehöriger erst mit der ArGV im September 1998 eingeführt worden sei, wohingegen die im Jahr 1980 geltende Regelung, auf die Art. 13 abstelle, erst nach einem achtjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt die Erteilung einer unbefristeten Arbeitserlaubnis ermöglicht habe.
Da das Hamburgische Oberverwaltungsgericht der Ansicht ist, dass die Auslegung des Unionsrechts erforderlich ist, um ihm die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu ermöglichen, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen,
dass ein türkischer Arbeitnehmer, dem ordnungsgemäß die Erlaubnis erteilt wurde, im Gebiet eines Mitgliedstaats für eine bestimmte (gegebenenfalls unbefristete), die Dauer der Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit eine Beschäftigung auszuüben (sogenannte überschießende Arbeitserlaubnis), während dieser gesamten Zeit seine Rechte aus dieser Erlaubnis ausüben kann, soweit dem Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, nicht entgegenstehen,
und dass es einem Mitgliedstaat untersagt ist, dieser Erlaubnis unter Hinweis auf zum Zeitpunkt ihrer Erteilung geltende nationale Vorschriften über die Abhängigkeit der Arbeitserlaubnis von der Aufenthaltserlaubnis von vornherein jegliche Wirkung im Hinblick auf seinen aufenthaltsrechtlichen Status abzusprechen (im Anschluss an die Urteile des Gerichtshofs vom 2. März 1999, Eddline El-Yassini, C-416/96, Slg. 1999, I-1209, Leitsatz 3 und Randnrn. 62 bis 65, zur Tragweite von Art. 40 Abs. 1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten und durch die Verordnung [EWG] Nr. 2211/78 des Rates vom 26. September 1978 im Namen der Gemeinschaft genehmigten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko [ABl. L 264, S. 1], und vom 14. Dezember 2006, Gattoussi, C-97/05, Slg. 2006, I-11917, Leitsatz 2 und Randnrn. 36 bis 43, zur Tragweite von Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits, geschlossen in Brüssel am 17. Juli 1995 und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch den Beschluss 98/238/EG, EGKS des Rates und der Kommission vom 26. Januar 1998 [ABl. L 97, S. 1])?
Für den Fall, dass diese Frage zu bejahen ist:
Ist Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass die Stillhalteklausel es einem Mitgliedstaat auch verbietet, einem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmer durch eine normative Regelung (hier: durch das AufenthG) die Möglichkeit zu nehmen, sich auf einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 im Hinblick auf die ihm zuvor erteilte, die Dauer der Aufenthaltserlaubnis übersteigende Arbeitsgenehmigung zu berufen?
Für den Fall, dass diese Frage zu bejahen ist:
Ist Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass das darin normierte Diskriminierungsverbot es den nationalen Behörden jedenfalls nicht untersagt, befristete Aufenthaltserlaubnisse, die einem türkischen Arbeitnehmer nach nationalem Recht für eine bestimmte Zeit zu Unrecht erteilt worden sind, nach Ablauf von deren Geltungsdauer entsprechend den nationalen Vorschriften für solche Zeiträume zurückzunehmen, in denen der türkische Arbeitnehmer die ihm davor ordnungsgemäß erteilte unbefristete Arbeitsgenehmigung tatsächlich ausgenutzt und gearbeitet hat?
Ist Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 weiter dahin auszulegen, dass von dieser Vorschrift ausschließlich diejenige Beschäftigung erfasst wird, die ein türkischer Arbeitnehmer, der im Besitz einer ihm von den nationalen Behörden ordnungsgemäß erteilten unbefristeten und sachlich nicht eingeschränkten Arbeitserlaubnis ist, in dem Zeitpunkt ausübt, in dem seine für einen anderen Zweck erteilte befristete Aufenthaltserlaubnis endet, und dass ein türkischer Arbeitnehmer in dieser Situation deshalb nicht verlangen kann, dass die nationalen Behörden auch nach endgültiger Aufgabe dieser Beschäftigung seinen weiteren Aufenthalt für eine neue Beschäftigung – gegebenenfalls nach einer für die Stellensuche notwendigen zeitlichen Unterbrechung – erlauben?
Ist Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 weiter dahin auszulegen, dass das Diskriminierungsverbot es den nationalen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats (nur) untersagt, gegenüber einem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Staatsangehörigen, dem er ursprünglich in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weiter gehende Rechte als in Bezug auf seinen Aufenthalt verliehen hat, nach dem Ablauf der zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen, sofern diese Maßnahmen nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates dienen, sie nicht jedoch dazu verpflichtet, eine Genehmigung zum Aufenthalt zu erteilen?
Zu den Vorlagefragen
Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen formal auf die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 beschränkt hat, ist vorab festzustellen, dass dies den Gerichtshof nicht daran hindert, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. Urteile vom 8. November 2007, ING. AUER, C-251/06, Slg. 2007, I-9689, Randnr. 38, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C-434/09, Slg. 2011, I-3375, Randnr. 24).
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der Anwendung von Art. 267 AEUV aus den Fragen des vorlegenden Gerichts unter Berücksichtigung des von diesem mitgeteilten Sachverhalts das herausschälen kann, was die Auslegung des Unionsrechts betrifft, um diesem Gericht die Lösung der ihm vorliegenden Rechtsfrage zu ermöglichen (Urteil vom 28. April 2009, Apostolides, C-420/07, Slg. 2009, I-3571, Randnr. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung aus, dass die rückwirkende Rücknahme der Herrn Gülbahce im August 2001 und im Januar 2004 gewährten Verlängerungen seiner Aufenthaltserlaubnis darauf gestützt worden sei, dass ab dem 1. Oktober 1999 die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau, die eine Voraussetzung darstelle, an die das AuslG in Verbindung mit der AEVO, dem SGB III und der ArGV die Aufenthaltserlaubnis knüpfe, nicht mehr bestanden habe.
Das vorlegende Gericht führt ferner aus, dass Herr Gülbahce am 6. Februar 2006, dem Zeitpunkt dieser rückwirkenden Rücknahme, seit mehr als einem Jahr bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei, so dass grundsätzlich die Voraussetzungen vorgelegen hätten, unter denen er im Sinne von Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt angehöre.
Daher sind die Vorlagefragen zu einer Frage zusammenzufassen und dahin zu verstehen, dass geklärt werden soll, ob Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er die zuständigen nationalen Behörden daran hindert, den Aufenthaltstitel eines türkischen Arbeitnehmers rückwirkend auf den Zeitpunkt, zu dem der Grund weggefallen war, von dem das nationale Recht die Erteilung dieses Titels abhängig machte, zurückzunehmen, wenn die Rücknahme nach Ablauf des in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich genannten Zeitraums von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung erfolgt.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Rechte, die den türkischen Arbeitnehmern durch die Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehen werden, nach Maßgabe der Dauer einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in abgestufter Weise erweitert werden und bezwecken, die Situation der Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise zu festigen (vgl. u. a. Urteil vom 10. Januar 2006, Sedef, C-230/03, Slg. 2006, I-157, Randnr. 34).
Wie sich aus Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, hat ein türkischer Arbeitnehmer nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung das Recht, weiterhin eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis bei demselben Arbeitgeber auszuüben.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die praktische Wirksamkeit dieses Rechts zwangsläufig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraus (vgl. u. a. Urteil vom 7. Juli 2005, Dogan, C-383/03, Slg. 2005, I-6237, Randnr. 14).
Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung eines türkischen Staatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat im Sinne von Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus (Urteile vom 16. Dezember 1992, Kus, C-237/91, Slg. 1992, I-6781, Randnr. 22, und vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, Slg. 2008, I-10323, Randnr. 53).
Wie in Randnr. 34 des vorliegenden Urteils dargelegt, steht im vorliegenden Fall fest, dass die in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 aufgestellte, den Zeitraum von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung betreffende Voraussetzung erfüllt war, als die Verlängerungen des Aufenthaltstitels von Herrn Gülbahce am 6. Februar 2006 rückwirkend zurückgenommen wurden.
Die nationalen Behörden halten diese Rücknahme für begründet, weil die genannte Voraussetzung nicht erfüllt gewesen sei, als in den Monaten August 2001 und Januar 2004 der Aufenthaltstitel von Herrn Gülbahce verlängert worden sei, und weil er zu dieser Zeit nicht mehr die Voraussetzung erfüllt habe, an die sein Aufenthaltstitel geknüpft gewesen sei, nämlich das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen.
Somit verliert das Aufenthaltsrecht eines türkischen Arbeitnehmers, wenn im Lauf seines ersten Beschäftigungsjahrs die Voraussetzungen wegfallen, von denen sein Aufenthaltstitel abhängt, nach Ansicht der nationalen Behörden seinen Charakter als unbestrittenes Recht, so dass ab diesem Zeitpunkt die vom Arbeitnehmer zurückgelegten Beschäftigungszeiten nicht für den Erwerb der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 berücksichtigt werden könnten, da er die Voraussetzung von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht erfülle.
Dieses Argument hat der Gerichtshof aber gerade in Bezug auf nationale Vorschriften, die das Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen vom Zusammenleben mit einem Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats abhängig machten, ausdrücklich zurückgewiesen.
In seinem nach Eingang des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens verkündeten Urteil vom 29. September 2011, Unal (C-187/10, Slg. 2011, I-9045), hatte der Gerichtshof bereits Gelegenheit zu der Feststellung, dass die Rechte aus einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80, sobald sich ein türkischer Staatsangehöriger wirksam auf sie berufen kann, nicht mehr vom Fortbestand der Umstände abhängen, die zu ihrer Entstehung geführt hatten, da dieser Beschluss keine solche Voraussetzung vorsieht (Urteil Unal, Randnr. 50).
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 schon dann Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber hat, wenn er seit mehr als einem Jahr eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt hat, da diese Bestimmung die Zuerkennung dieses Anspruchs von keiner weiteren Voraussetzung abhängig macht und insbesondere nicht von den Voraussetzungen, unter denen das Recht auf Einreise und Aufenthalt erlangt worden ist (Urteil Unal, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Demgemäß wurde entschieden, dass ein türkischer Arbeitnehmer, der seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis eine Beschäftigung ausgeübt hat, die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich erfüllt, selbst wenn ihm der Aufenthaltstitel, über den er verfügt, ursprünglich zu anderen Zwecken als zur Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erteilt worden war (Urteil Unal, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts berührt der Beschluss Nr. 1/80 zwar in keiner Weise die Befugnis der Mitgliedstaaten, einem türkischen Staatsangehörigen die Einreise in ihr Hoheitsgebiet und die Ausübung einer ersten unselbständigen Erwerbstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht zu gestatten, und dieser Beschluss steht grundsätzlich auch nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, die Beschäftigungsbedingungen dieses Staatsangehörigen bis zum Ablauf der in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses genannten Jahresfrist zu regeln (vgl. Urteil Unal, Randnr. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Jedoch kann Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dahin ausgelegt werden, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, einseitig den Inhalt des Systems der schrittweisen Eingliederung der türkischen Staatsangehörigen in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats zu verändern, indem er einem Arbeitnehmer, dem die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestattet worden ist und der dort länger als ein Jahr ununterbrochen für den gleichen Arbeitgeber rechtmäßig eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hat, die Rechte vorenthält, die ihm Art. 6 Abs. 1 erster bis dritter Gedankenstrich, abgestuft nach der Dauer seiner Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, verleiht (vgl. Urteil Unal, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Durch eine solche Auslegung würde der Beschluss Nr. 1/80 nämlich ausgehöhlt und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, da Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses allgemein und unbedingt gefasst ist, wobei er keine Befugnis der Mitgliedstaaten zur Einschränkung der Rechte vorsieht, die er den türkischen Arbeitnehmern unmittelbar verleiht (Urteil Unal, Randnrn. 43 und 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zwar kann die Ausübung einer Beschäftigung durch einen türkischen Arbeitnehmer im Rahmen einer aufgrund einer Täuschung, die zu einer Verurteilung geführt hat, erteilten Aufenthaltserlaubnis oder im Rahmen einer Erlaubnis zum vorläufigen Aufenthalt, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht gilt, keine Rechte für den Betreffenden nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 begründen (vgl. Urteil Unal, Randnr. 47).
Im Ausgangsverfahren geht jedoch, anders als in der eine Scheinehe betreffenden Rechtssache, in der das Urteil vom 5. Juni 1997, Kol (C-285/95, Slg. 1997, I-3069), ergangen ist, aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass Herr Gülbahce seine Beschäftigung im Rahmen einer aufgrund einer Täuschung erteilten Aufenthaltserlaubnis oder einer nur bis zur endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht geltenden Erlaubnis zum vorläufigen Aufenthalt ausgeübt hätte.
Außerdem stand ihm nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 2 AEVO sowie nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 5 ArGV ein Aufenthaltsrecht zu, das ihm seit dem 29. September 1998, an dem ihm das zuständige Arbeitsamt eine unbefristete Arbeitsgenehmigung erteilt hatte, die freie Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erlaubte. Das vorlegende Gericht hat hierzu ausgeführt, es sei nicht festgestellt worden, dass er sein Recht auf Einreise nach und Aufenthalt in Deutschland durch eine Täuschung erlangt hätte.
Damit steht fest, dass Herr Gülbahce den im Aufnahmemitgliedstaat geltenden einreise- und arbeitsrechtlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften nachgekommen ist.
Würde unter diesen Umständen nicht anerkannt, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens in Deutschland seit mehr als einem Jahr einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgegangen ist, liefe dies Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zuwider.
Folglich ist davon auszugehen, dass die Beschäftigungszeiten, die der Kläger des Ausgangsverfahrens nach der Erteilung seines Aufenthaltstitels und seiner Arbeitsgenehmigung und vor der rückwirkenden Rücknahme der Verlängerungen dieses Aufenthaltstitels zurückgelegt hat, die Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung von einem Jahr im Sinne von Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen.
Nach alledem ist auf die vom Gerichtshof umformulierten Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er die zuständigen nationalen Behörden daran hindert, den Aufenthaltstitel eines türkischen Arbeitnehmers rückwirkend auf den Zeitpunkt, zu dem der Grund weggefallen war, von dem das nationale Recht die Erteilung dieses Titels abhängig machte, zurückzunehmen, wenn der Arbeitnehmer keine Täuschung begangen hat und die Rücknahme nach Ablauf des in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich genannten Zeitraums von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung erfolgt.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, die durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass er die zuständigen nationalen Behörden daran hindert, den Aufenthaltstitel eines türkischen Arbeitnehmers rückwirkend auf den Zeitpunkt, zu dem der Grund weggefallen war, von dem das nationale Recht die Erteilung dieses Titels abhängig machte, zurückzunehmen, wenn der Arbeitnehmer keine Täuschung begangen hat und die Rücknahme nach Ablauf des in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich genannten Zeitraums von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung erfolgt.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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