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BSG 25.04.2023 - B 7 AS 113/22 B
BSG 25.04.2023 - B 7 AS 113/22 B
Vorinstanz
vorgehend SG Schwerin, 1. Februar 2017, Az: S 11 AS 153/15, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, 16. September 2021, Az: L 10 AS 94/17, Urteil
Tenor
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Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 16. September 2021 - L 10 AS 94/17 - gewährt.
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 16. September 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt für den Zeitraum Januar 2015 bis Juni 2016 höheres Alg II mit der Begründung, die Regelbedarfe seien verfassungswidrig zu niedrig, sowie die Feststellung der Rechtswidrigkeit des eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts vom 2.2.2015. Die Klage ist vor dem SG erfolglos geblieben (Urteil vom 1.2.2017). Im Berufungsverfahren war der Kläger anwaltlich nicht vertreten. Nachdem er zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 16.9.2021 geladen worden ist, hat er mit einem Schreiben vom 10.8.2021 unter Hinweis auf den Beschluss des BSG vom 4.3.2021 (B 4 AS 308/20 B) einen "Antrag auf die Bereitstellung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung als Mittelloser" gestellt. Dem Schreiben waren als "Beweis für [die] Mittellosigkeit" eine ausgefüllte und unterschriebene Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe sowie ein aktueller Bewilligungsbescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beigefügt.
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Das LSG hat in der Besetzung der Berufsrichter des Senats den Antrag auf Gewährung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abgelehnt (Beschluss vom 17.8.2021). Ein Anspruch auf einen Vorschuss für eine Entschädigung nach § 191 SGG bestehe nicht, da das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden sei. Im Übrigen scheide eine Gewährung von Reisekosten aus. Das Berufungsverfahren habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Kläger habe seine Bedürftigkeit nicht nachgewiesen. Seine Angaben seien widersprüchlich. Der Kläger habe in der Erklärung angegeben, über kein Girokonto zu verfügen. Dagegen folge aus dem beigefügten SGB II-Bescheid, dass die Leistungen auf ein Bankkonto überwiesen würden. Der Beschluss enthielt den Hinweis, er sei nach § 177 SGG unanfechtbar.
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Der Kläger war im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anwesend.
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Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 16.9.2021). Hiergegen wendet er sich mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, mit der er ua einen Verfahrensfehler rügt.
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II. Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch ihn und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung seines Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 SGG).
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Das Urteil des LSG vom 16.9.2021 beruht auf einem von dem Kläger hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, weil das Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergangen ist.
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Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Stellt ein mittelloser Beteiligter einen Antrag auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, der vom Gericht übergangen wird, kann hierin nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Versagung rechtlichen Gehörs liegen, weil in solchen Fällen die Gewährung einer Reiseentschädigung entsprechend der jeweiligen landesrechtlichen Regelung zur (bundeseinheitlichen) "Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen" in Betracht kommt (VwV Reiseentschädigung, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 20.1.2014, BAnz AT 29.1.2014 B1; hier anwendbar idF der VwV Reiseentschädigung des Justizministeriums Mecklenburg-Vorpommern vom 12.6.2006, AmtsBl M-V 2006, 447; zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 31.1.2014, AmtsBl M-V 2014, 66; vgl hierzu nur BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - RdNr 11; BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 6; BSG vom 25.6.2021 - B 13 R 94/20 B - RdNr 8 f; BSG vom 4.3.2021 - B 4 AS 308/20 B - RdNr 6 ff; Bockholdt, NZS 2021, 281, 284 f; Schweitzer, SGb 2022, 723 ff).
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Die VwV Reiseentschädigung mit den dort geregelten Voraussetzungen für eine Entschädigung können die Gerichte im Rahmen ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit zwar nicht binden. Die Gerichte haben aber im Rahmen der sie treffenden prozessualen Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs zu beachten, dass entsprechende Ansprüche auf Reiseentschädigung für Personen bestehen können, die nicht in der Lage sind, die Kosten für die Reise zum Ort der mündlichen Verhandlung aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Sie sind deshalb verpflichtet, hierüber eine Entscheidung herbeizuführen (zu letzterem BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - RdNr 11; vgl auch BSG vom 25.6.2021 - B 13 R 94/20 B - RdNr 9), indem sie entweder selbst über solche Anträge entscheiden und dabei unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung die VwV Reiseentschädigung zu berücksichtigen haben (vgl nur Schweitzer, SGb 2022, 723, 725) oder solche Anträge jedenfalls an die Gerichtsverwaltung weiterleiten, damit von dort über sie entschieden werden kann (vgl Bockholdt NZS 2021, 281, 285; Entscheidungszuständigkeit zuletzt offengelassen von BSG vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 9).
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Im vorliegenden Fall lag ein solches Übergehen des klägerischen Antrags vor. Der Beschluss des LSG vom 17.8.2021, mit dem es den Antrag auf Gewährung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abgelehnt hat, enthält keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Gewährung von Reiseentschädigung nach der entsprechenden Verwaltungsvorschrift. Geprüft wird zunächst § 191 SGG. "Im Übrigen" hat das LSG die Gewährung von Reisekosten - ohne Bezugnahme auf eine konkrete Rechtsgrundlage - mit der Begründung abgelehnt, das Berufungsverfahren des Klägers weise keine hinreichende Erfolgsaussicht auf. Eine solche - der PKH entsprechende - Voraussetzung lässt sich der VwV Reiseentschädigung gerade nicht entnehmen (vgl zu den verschiedenen Anspruchsgrundlagen für eine Reiseentschädigung Bockholdt, NZS 2021, 281 ff sowie zuletzt BSG vom 1.2.2023 - B 7 AS 106/22 B - RdNr 4).
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Der Kläger hat seinerseits alles getan, um sich Gehör zu verschaffen. Speziell im Zusammenhang mit Gehörsverletzungen aufgrund des Übergehens oder der Ablehnung von Anträgen auf Reiseentschädigungen verlangt das BSG insoweit von den Betroffenen, ihre Mittellosigkeit substantiiert darzulegen und auf Verlangen des Gerichts nachzuweisen (vgl hierzu nur BSG vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 8). Teilweise verlangt es auch von ihnen, gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Reisekostenvorschusses weiter vorzugehen (BSG vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 9; BSG vom 29.1.2019 - B 5 R 286/18 B - RdNr 11) sowie das Gericht - ggf im Wege einer Gegenvorstellung - noch einmal ausdrücklich auf mögliche Ansprüche nach der entsprechenden VwV Reiseentschädigung hinzuweisen (BSG vom 17.12.2020 - B 1 KR 26/20 B - RdNr 6).
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Der Kläger hat keine Obliegenheit verletzt. Er hat seine Mittellosigkeit durch Vorlage eines SGB II-Bescheids und eines PKH-Formulars substantiiert dargelegt. Nachfragen - etwa im Hinblick auf das vom Kläger für die unbare Auszahlung des Alg II verwendete Konto, das nach seinen Angaben im PKH-Verfahren vor dem BSG einem Dritten gehört - hat das LSG nicht gestellt. Anlass, gegen den Beschluss des LSG weiter vorzugehen, bestand nicht. Insbesondere war der Kläger nicht verpflichtet, das LSG noch einmal auf die Möglichkeit der Gewährung einer Reiseentschädigung nach der VwV Reiseentschädigung hinzuweisen, nachdem er in seinem Antrag sogar schon auf den Beschluss des BSG vom 4.3.2021 (B 4 AS 308/20 B) Bezug genommen hatte.
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Die Entscheidung des LSG kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "Beruhen-Können" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Kläger behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 8 mwN). Dies ist hier auf der Grundlage des Vortrags im Beschwerdeverfahren - trotz des unzutreffenden Hinweises auf die Möglichkeit einer abweichenden Regelsatzfestsetzung gemäß § 27a Abs 4 Satz 1 Nr 2 SGB XII - der Fall.
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Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
S. Knickrehm
Siefert
Harich
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