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BSG 25.01.2017 - B 3 P 23/16 B
BSG 25.01.2017 - B 3 P 23/16 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Gerichtsbescheid - Unwirksamkeit der Zustellung an ein unter Betreuung stehendes volljähriges Kind - Heilung von Zustellungsmängeln - Zustellung an einen von mehreren gesetzlichen Vertretern ausreichend - Berufungseinlegung - Rechtsstreit einer prozessunfähigen Person - Genehmigung
Normen
§ 189 ZPO, § 53 ZPO, § 170 Abs 1 S 1 ZPO, § 170 Abs 1 S 2 ZPO, § 170 Abs 3 ZPO, § 178 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 63 Abs 1 S 1 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 71 Abs 6 SGG, § 105 Abs 2 S 1 SGG, § 151 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a SGG, § 184 BGB, § 1629 Abs 1 S 2 BGB, § 1902 BGB
Vorinstanz
vorgehend SG Gießen, 12. Februar 2015, Az: S 9 P 5/13, Gerichtsbescheid
vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 11. August 2016, Az: L 8 P 4/15, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. August 2016 wird zurückgewiesen.
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Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
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I. Streitig ist die Herabsetzung der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung von der Pflegestufe III auf die Pflegestufe II ab 1.4.2012.
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Die am 24.6.1996 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt körperlich und geistig behindert. Von der beklagten Pflegekasse erhielt sie ab 1.6.1998 Pflegegeld nach der Pflegestufe III (Bescheid vom 27.7.1998). Nachdem eine Wiederholungsbegutachtung (§ 18 Abs 2 S 5 SGB XI) durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) auf Grund entwicklungsbedingter Fortschritte einen durchschnittlichen täglichen Grundpflegebedarf von nur noch 206 Minuten ergeben hatte und damit den zeitlichen Mindestwert der Pflegestufe III von 240 Minuten (§ 15 Abs 1 S 1 Nr 3 und Abs 3 S 1 Nr 3 SGB XI) nicht mehr erreichte (Gutachten vom 22.12.2011), hob die Beklagte den Leistungsbescheid vom 27.7.1998 mit Wirkung ab 1.4.2012 auf (§ 48 SGB X). Sie bewilligte stattdessen nur noch Pflegegeld nach der Pflegestufe II (Bescheid vom 14.3.2012, Widerspruchsbescheid vom 16.1.2013). Die Klägerin macht geltend, tatsächlich bestehe unverändert ein täglicher Grundpflegebedarf von mehr als 240 Minuten, sodass der Herabstufungsbescheid aufzuheben und das Pflegegeld weiterhin nach der Pflegestufe III zu zahlen sei.
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Im Klageverfahren wurde die Klägerin von ihren Eltern gesetzlich vertreten, und zwar zunächst auf Grund elterlicher Sorge nach § 1629 BGB und mit Eintritt der Volljährigkeit (§ 2 BGB) auf Grund ihrer Bestellung zu jeweils alleinvertretungsberechtigten Betreuern ihrer Tochter nach § 1902 BGB (Beschluss des AG Friedberg - Betreuungsgericht - vom 8.7.2014 - 830 XVII D 289/14 -). Das SG hat die am 21.2.2013 erhobene Anfechtungsklage nach Beweisaufnahme abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 12.12.2014). Ausweislich der Postzustellungsurkunde ist der Gerichtsbescheid mit einem an die Klägerin adressierten Schreiben des SG übersandt und dem Vater der Klägerin am 10.1.2015 in der Wohnung der Familie übergeben worden (Ersatzzustellung nach § 63 SGG iVm § 178 Abs 1 Nr 1 ZPO).
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Am 11.2.2015 ist beim SG ein von der Klägerin persönlich unterzeichnetes Schreiben vom 8.2.2015 eingegangen, in dem sie die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung durch das SG nach § 105 Abs 2 SGG beantragte und darauf hinwies, ein Gerichtsbescheid vom 12.12.2014 sei ihr nicht zugegangen, und zwar weder als in üblicher Schriftform abgefasstes Dokument noch in der wegen ihrer Blindheit erforderlichen barrierefreien Form als elektronisches (digitales) Dokument (§ 191a GVG). Das SG hat das Schreiben - wegen der Zulässigkeit der Berufung gegen ein Urteil mit entsprechendem Inhalt (§ 105 Abs 2, § 143 SGG) - als Berufung angesehen und es sogleich dem LSG zugeleitet (§ 151 Abs 2 SGG). Ein zweites Schreiben vom 8.2.2015 mit gleichem Inhalt, erweitert um einen Antrag auf Akteneinsicht in barrierefreier Form (§ 191a GVG), hat die Klägerin unmittelbar an das LSG gerichtet, das dort am 12.2.2015 eingegangen ist. Das LSG hat den Antrag der Klägerin als unzulässig verworfen (Urteil vom 11.8.2016): Über den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem SG nach § 105 Abs 2 SGG könne nur das SG selbst entscheiden; das LSG sei insoweit nicht zuständig. Eine Umdeutung des - wegen der prinzipiellen Zulässigkeit der Berufung (§ 143 SGG) gemäß § 105 Abs 2 S 2 SGG hier von vornherein ausgeschlossenen - Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung in eine Berufung scheide aus. Im Übrigen wäre eine am 11.2.2015 eingelegte Berufung aber ebenfalls unzulässig gewesen, weil die Monatsfrist (§ 151 Abs 1 SGG) zur Einlegung der Berufung mit Ablauf des 10.2.2015 geendet hätte, nachdem der Gerichtsbescheid vom 12.12.2014 am 10.1.2015 wirksam zugestellt worden sei.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin, vertreten durch ihren Vater als alleinvertretungsberechtigten Betreuer, Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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II. Es kann offenbleiben, ob die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig ist, weil die Klägerin den geltend gemachten Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nicht formgerecht bezeichnet hat (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Auf jeden Fall ist die Beschwerde aber unbegründet und muss deshalb zurückgewiesen werden.
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Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht (vgl zB BSG Beschluss vom 26.10.2015 - B 10 ÜG 13/15 B - Juris sowie BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
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1. Die Klägerin rügt die Verletzung von Zustellungsvorschriften. Das SG habe den Gerichtsbescheid vom 12.12.2014 an sie persönlich und nicht, wie es erforderlich gewesen wäre, an ihren Vater und ihre Mutter als jeweils alleinvertretungsberechtigte Betreuer zugestellt (§ 170 ZPO). Ihr Vater habe den Gerichtsbescheid lediglich an ihrer Stelle entgegengenommen. Damit sei die einmonatige Berufungsfrist (§ 105 Abs 2 S 1 iVm § 151 SGG) - anders als vom LSG angenommen - nicht am 10.1.2015 in Lauf gesetzt worden. Im Berufungsverfahren habe das LSG alle Schriftstücke mit jeweils einem Anschreiben an die "Eheleute D. und S. D." zugestellt und nicht, wie es erforderlich gewesen wäre, getrennt in zwei Schreiben an ihren Vater und ihre Mutter als alleinvertretungsberechtigte Betreuer. Aus den Postzustellungsurkunden sei nicht ersichtlich, wer die Schriftstücke in Empfang genommen hat. Daher sei auch die Ladung der Betreuer zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 11.8.2016 nicht wirksam erfolgt. Diesem Vorbringen kann kein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler des Berufungsgerichts entnommen werden.
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Es trifft zwar zu, dass nicht die Klägerin als Zustellungsadressatin hätte genannt werden dürfen (§ 182 Abs 2 Nr 1 ZPO), weil die Klage nicht von ihr selbst, sondern von ihren Eltern als Träger der elterlichen Sorge (§ 1629 Abs 1 BGB) erhoben und nach Eintritt der Volljährigkeit der Klägerin (24.6.2014) als jeweils alleinvertretungsberechtigte Betreuer (§ 1902 BGB) verfahrensmäßig weiterbetrieben worden ist (demgemäß musste der Gerichtsbescheid auch nicht in einer für die blinde Klägerin ohne fremde Hilfe wahrnehmbaren Form zugestellt werden, vgl BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 4). Es fehlt jedoch die Darstellung, weshalb keine Heilung des Zustellungsmangels eingetreten sein kann. Nach § 63 Abs 1 S 1 iVm § 105 Abs 2 S 1 SGG sind Gerichtsbescheide den Beteiligten zuzustellen. Zugestellt wird gemäß § 63 Abs 2 S 1 SGG von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung. Nach § 189 ZPO ist eine Heilung von Zustellungsmängeln möglich: "Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist." Die Vorschrift ist nach ihrem Sinn und Zweck weit auszulegen (BGH NJW-RR 2011, 417; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl 2016, § 189 RdNr 2 und 3).
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Die Zustellung des Gerichtsbescheids an die unter Betreuung stehende Klägerin (§ 1902 BGB) war nach § 170 Abs 1 S 2 ZPO unwirksam, weil die Klägerin nach § 71 Abs 6 SGG iVm § 53 ZPO einer nicht prozessfähigen Person in dem von ihren Eltern als Betreuern betriebenen Klageverfahren gleichstand. Bei nicht prozessfähigen Personen ist an ihren gesetzlichen Vertreter zuzustellen (§ 170 Abs 1 S 1 ZPO). Überdies regelt § 170 Abs 3 ZPO, dass bei mehreren gesetzlichen Vertretern die Zustellung an einen von ihnen genügt. Die Vorschrift ist auf Eltern als gesetzliche Vertreter ihrer minderjährigen Kinder unmittelbar anwendbar, was aus § 1629 Abs 1 S 2 BGB abgeleitet wird (Stöber in Zöller, ZPO, 31. Aufl 2016, § 170 RdNr 6; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 75. Aufl 2017, § 170 RdNr 6 mwN) und ist auf Eltern entsprechend anzuwenden, wenn sie als Betreuer ihrer volljährig gewordenen Kinder fungieren und für ein Kind gemeinsam einen Rechtsstreit führen. Die Zustellung vom 10.1.2015 ist somit gegenüber dem Vater der Klägerin als alleinvertretungsberechtigtem Betreuer nach § 189 ZPO wirksam geworden, weil an ihn "die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet werden konnte" und er den an seine Tochter adressierten Gerichtsbescheid ausweislich der Postzustellungsurkunde in der Wohnung in Empfang genommen hat (§ 63 SGG iVm § 178 Abs 1 Nr 1 ZPO).
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2. Aber auch aus einem weiteren Grund konnte die Beschwerde keinen Erfolg haben. Nicht problematisiert haben die Beteiligten und das LSG die Frage, ob die in den Schreiben der Klägerin vom 8.2.2015 liegende Berufung wirksam von der Klägerin eingelegt werden konnte. Die Schreiben sind von der Klägerin persönlich unterzeichnet worden. Eine Mitunterzeichnung durch den Vater oder die Mutter als alleinvertretungsberechtigte Betreuer fehlt. Auch im gesamten Berufungsverfahren haben sich die Eltern der Klägerin trotz mehrfacher Nachfragen des LSG nicht geäußert und auch die von der Klägerin beantragte Akteneinsicht, die ihnen als Betreuern bewilligt worden war (Verfügung des LSG vom 14.7.2015), nicht wahrgenommen. Da die Klägerin gemäß § 71 Abs 6 SGG iVm § 53 ZPO wegen der Betreuung (§ 1902 BGB) einer prozessunfähigen Person "für den Rechtsstreit", dh für alle Instanzen einer gerichtlichen Streitigkeit bis zu deren rechtskräftigem Abschluss, gleichstand, hätte die Berufung nur von dem Vater oder der Mutter oder von beiden gemeinsam als gesetzliche Vertreter ihrer Tochter eingelegt werden können oder sie hätten zumindest die Einlegung der Berufung durch ihre Tochter genehmigen müssen (BGHZ 41, 104; Vollkommer in Zöller, ZPO, 31. Aufl 2016, § 53 RdNr 5), was nach dem Akteninhalt nicht geschehen ist. Wegen fiktiver Prozessunfähigkeit der Klägerin war die Einlegung der Berufung durch sie persönlich prozessual unwirksam. Einen "besonderen Vertreter" musste das LSG nach § 72 SGG nicht bestellen, weil die Klägerin mit ihren Eltern als Betreuer über gesetzliche Vertreter verfügte.
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3. Weil die Berufung der Klägerin aus vorgenannten Gründen keinen Erfolg hätte haben können, das angestrebte Revisionsverfahren aus Rechtsgründen also nicht zugunsten der Klägerin zu entscheiden wäre, kommt es auf die Frage sonstiger Verfahrensfehler des LSG nicht an. Der Senat sieht deshalb von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 SGG).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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