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BSG 15.12.2016 - B 5 R 238/16 B
BSG 15.12.2016 - B 5 R 238/16 B - Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Anhörungsfrist - rechtliches Gehör - vereinfachtes Verfahren - Verlängerung der Erklärungsfrist - Entscheidung
Normen
§ 202 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 160a Abs 1 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 GG, § 65 SGG, § 224 Abs 2 ZPO, § 225 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Karlsruhe, 17. November 2014, Az: S 5 R 32/14
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 27. Juni 2016, Az: L 13 R 5029/14, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Juni 2016 wird aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
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Den im August 2012 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25.3.2013 ab. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6.12.2013). Nach Einholung verschiedener ärztlicher Befundberichte sowie eines internistisch-arbeitsmedizinischen und neuropsychiatrischen Sachverständigengutachtens hat das SG Karlsruhe mit Urteil vom 17.11.2014 die Klage abgewiesen. Nach Durchführung weiterer Sachaufklärungsmaßnahmen - Beiziehung eines internistischen Sachverständigengutachtens aus einem anderen Rechtsstreit sowie Einholung eines ärztlichen Befundberichts und eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens - hat das LSG Baden-Württemberg die Klägerin mit Schreiben vom 1.6.2016 darauf hingewiesen, dass es keinen Anlass sehe, das angefochtene Urteil zu beanstanden. Es werde bis spätestens 24.6.2016 um Mitteilung gebeten, ob die Berufung zurückgenommen werde. Anderenfalls sei beabsichtigt, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss zu entscheiden. Nach § 153 Abs 4 SGG sei dies möglich, wenn der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Hierzu könne innerhalb der genannten Frist Stellung genommen werden. Mit Fax vom 24.6.2016, beim LSG eingegangen am selben Tag, haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin gebeten, die Frist zur Stellungnahme bis zum 29.7.2016 zu verlängern, weil eine notwendige Besprechung mit der Klägerin vor dem 14.7.2016 nicht erfolgen könne.
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Mit Beschluss vom 27.6.2016 hat das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es auf Folgendes hingewiesen: Der Senat entscheide gemäß § 153 Abs 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte, nachdem die Beteiligten Gelegenheit gehabt hätten, sich hierzu zu äußern. Dem am Nachmittag des Tages des Ablaufs der Äußerungsfrist eingegangenen Antrag auf Verlängerung der Frist um mehr als einen Monat sei nicht zu entsprechen gewesen. Die Klägerin habe ausreichend Zeit zur Äußerung gehabt und auch nicht plausibel dargelegt, dass eine Besprechung mit ihren Bevollmächtigten in Kenntnis des Termins nicht möglich gewesen und dies erst am Tage des Fristablaufs nach 14.30 Uhr erkannt worden sei. Die Berufung der Klägerin habe in der Sache keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nicht vorlägen.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG iVm § 153 Abs 4 S 2 SGG sowie einen Verstoß gegen § 103 SGG.
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II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist begründet.
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Das LSG hat zu Unrecht im vereinfachten Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden, ohne zuvor über den noch innerhalb der Anhörungsfrist gestellten Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zu entscheiden. Diese Verfahrensweise verletzt den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG iVm § 153 Abs 4 S 2 SGG.
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Will das Berufungsgericht an der Durchführung des vereinfachten Verfahrens festhalten, obwohl ein Beteiligter eine Verlängerung der Erklärungsfrist zur Ergänzung seines Vortrags beantragt, hat es vorab über den Verlängerungsantrag zu entscheiden (BSG Urteil vom 31.7.2002 - B 4 RA 28/02 R - Juris RdNr 15; BVerwG Beschluss vom 2.7.1998 - 9 B 535/98 - Juris RdNr 2 mwN; vgl auch BVerwG Beschluss vom 15.12.2004 - 1 B 150/04, 1 B 150/04 (1 PKH 45/04) - Juris RdNr 4). Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob erhebliche Gründe iS von § 202 S 1 SGG iVm § 224 Abs 2 ZPO (vgl hierzu Beschluss des Senats vom 9.4.2003 - B 5 RJ 140/02 B - Juris RdNr 9) für eine Verlängerung der richterlichen Frist nach § 65 SGG vorgetragen werden. Auch wenn das Gericht befugt ist, den Antrag abzulehnen, weil erhebliche Gründe nicht bestehen, muss es hierüber gemäß § 202 S 1 SGG iVm § 225 ZPO vorab entscheiden und dies dem Beteiligten, zu dessen Ungunsten der Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG ergehen soll, mitteilen, um ihm gegebenenfalls eine abschließende Stellungnahme zu ermöglichen (BVerwG Beschluss vom 2.7.1998 - 9 B 535/98 - Juris RdNr 2; BVerwG Beschluss vom 15.12.2004 - 1 B 150/04, 1 B 150/04 (1 PKH 45/04) - Juris RdNr 4). Angesichts dessen, dass § 153 Abs 4 SGG eng und in einer möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden ist, kann hiervon nur in offensichtlich rechtsmissbräuchlichen Fällen eine Ausnahme zugelassen werden (vgl BSG Urteil vom 31.7.2002 - B 4 RA 28/02 R - Juris RdNr 15).
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Für einen solchen Ausnahmefall liegen hier keine Anhaltspunkte vor.
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Zwar haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin den Antrag auf Fristverlängerung erst am letzten Tag der Frist gestellt. Allein dies rechtfertigt die Vorgehensweise des LSG indes nicht. Abgesehen davon, dass Fristen grundsätzlich bis zum letzten Tag ausgenutzt werden dürfen, sind keine berechtigten Interessen der Beklagten oder des Gerichts ersichtlich, die die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung hätten entfallen lassen können.
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Die Verletzung des § 153 Abs 4 S 2 SGG ist im vorliegenden Fall wie ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO zu behandeln, bei dem unwiderleglich vermutet wird, dass die Entscheidung auf dem Verfahrensverstoß beruht, so dass es keiner Ausführungen zur Kausalität zwischen Verfahrensverstoß und Entscheidung bedarf.
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Zwar stellt nach Rechtsauffassung des Senats eine Verletzung des § 153 Abs 4 S 2 SGG nicht stets einen absoluten Revisionsgrund wegen nicht vorschriftmäßiger Besetzung des LSG ohne ehrenamtliche Richter (vgl § 33 Abs 1 S 1 SGG) dar. Die nicht ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG ist in erster Linie eine Gehörsverletzung, deren Kausalität für die angefochtene Entscheidung auch in anderen Fällen nicht ohne Weiteres zu unterstellen ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 62 RdNr 11a). Fehler bei der Anhörung lassen die in § 153 Abs 4 S 1 SGG festgelegten Voraussetzungen für die Befugnis des LSG, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, nicht zwangsläufig entfallen (Beschluss des Senats vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7; aA wohl BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 17 und BSG Beschluss vom 22.11.2012 - B 3 P 10/12 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 15 RdNr 12).
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Wird die erforderliche Anhörung jedoch - wie hier - dem Beteiligten ganz abgeschnitten, ist der Anhörungsfehler vergleichbar mit der unterlassenen Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung oder dem fehlenden Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, bei denen ein Einfluss auf die Entscheidung ähnlich wie bei einem absoluten Revisionsgrund regelmäßig unterstellt wird (vgl ausführlich BSGE 53, 83, 85 = SozR 1500 § 124 Nr 7 mwN; BSG Beschluss vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R - Juris).
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Das Gebot rechtlichen Gehörs ist eine Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip, vgl hierzu Beschluss des Senats vom 9.4.2003 - B 5 RJ 140/02 B - Juris RdNr 10). Es beinhaltet, dass die Beteiligten die Möglichkeit haben müssen, im Rechtsstreit tatsächliche und rechtliche Argumente vorzubringen, um auf die richterliche Überzeugungsbildung einwirken und sie beeinflussen zu können (vgl zB BVerfGE 84, 188, 189 f; 86, 133, 144). Diesem Zweck dient in besonderem Maße die mündliche Verhandlung. Die nach § 153 Abs 4 S 2 SGG zu gewährende Anhörung ersetzt die im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestehende Gelegenheit, auf den Gang des Verfahrens Einfluss zu nehmen (Beschluss des Senats vom 9.4.2003 - B 5 RJ 140/02 B - Juris RdNr 9). Wird einem Beteiligten durch das Gericht gänzlich die Möglichkeit genommen, Bedenken gegen eine Entscheidung durch Beschluss ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter zu äußern und hiermit zusammenhängend in der Sache selbst Stellung zu nehmen, werden die Interessen des Rechtsuchenden genauso verletzt wie im Fall der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung trotz fehlenden Einverständnisses bzw der unterlassenen Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung.
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Da eine Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs vorliegt, bedarf es keiner Entscheidung, ob das LSG zudem gegen die ihm nach § 103 SGG obliegende Sachaufklärungspflicht verstoßen hat.
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Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG an das LSG zurückverwiesen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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