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BSG 24.04.2014 - B 13 R 352/12 B
BSG 24.04.2014 - B 13 R 352/12 B - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - mangelhafte gerichtliche Sachaufklärung - Rente wegen Erwerbsminderung
Normen
§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 43 Abs 2 S 2 SGB 6
Vorinstanz
vorgehend SG Rostock, 23. September 2008, Az: S 14 R 468/07, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, 11. Mai 2011, Az: L 7 R 278/08, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 11. Mai 2011 wird das Urteil aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Dem Kläger war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) hinsichtlich der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 160a Abs 1 S 2 SGG) zu gewähren. Nach Ablehnung seines Antrags auf Prozesskostenhilfe durch Senatsbeschluss vom 17.7.2012 (B 13 R 27/11 BH) hat er innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs 2 S 1 und 3 SGG Wiedereinsetzungsgründe glaubhaft gemacht und die Beschwerde eingelegt.
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II. Der Kläger bezieht Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Er begehrt Rente wegen voller Erwerbsminderung.
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Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des SG Rostock vom 23.9.2008; Urteil des LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 11.5.2011). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, es liege aufgrund der erstinstanzlich eingeholten Gutachten des Orthopäden Dr. V, D., vom April 2008 und der Nervenärztin Dr. M., R., vom Juni 2008 sowie des von der Beklagten vorgelegten Gutachtens des Psychiaters H. vom Januar 2009 insgesamt ein schlüssiges, im Wesentlichen übereinstimmendes sozialmedizinisches Beweisergebnis zum Leistungsvermögen des Klägers vor. Die von ihm benannten - teilweise von behandelnden Ärzten aufgeführten - Diagnosen eines "Tethered-cord"-Syndroms oder einer Fibromyalgie seien nicht in der Lage, die Leistungsbeurteilungen der Gutachter in Frage zu stellen. Im Berufungsverfahren habe sich kein weiterer Ermittlungsbedarf ergeben.
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Dem vorausgegangen war, dass das LSG mit Beweisanordnung vom 6.7.2010 den Orthopäden Dr. S., T., mit der Erstattung eines Gutachtens zur Leistungsfähigkeit des Klägers im Erwerbsleben beauftragt hatte. Hierauf hatte der Kläger mit Schriftsatz vom 9.7.2010 mitgeteilt, dass er angesichts seiner Schmerzzustände nicht an einem Tag von seinem Wohnort G. nach T. und zurück gelangen könne. Daraufhin bestellte das LSG statt Dr. S. den Orthopäden Dr. V., D., zum Sachverständigen. Hiergegen wandte sich der Kläger telefonisch mit Hinweis darauf, dass Dr. V. bereits im Auftrag des SG ein Gutachten (vom 6.4.2008) erstattet habe, und mit Schriftsatz vom 26.8.2010, in dem er vor allem um Begutachtung hinsichtlich der bereits von behandelnden Ärzten bescheinigten Gesundheitsstörungen Fibromyalgie und Tethered-cord-Syndrom sowie Polyarthrose bat; alle diese Erkrankungen seien nicht primär orthopädisch. Dieses Anliegen wiederholte er mit weiteren Schriftsätzen. Zur mündlichen Verhandlung am 11.5.2011 erschien der Kläger nicht, bat jedoch mit Fax von diesem Tag ua, seine Schriftsätze angemessen zu berücksichtigen.
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Verletzung des § 103 SGG durch das LSG. Dieses habe ihn - trotz mehrfachen schriftsätzlichen Beweisantrags - hinsichtlich der bisher nicht berücksichtigten Erkrankungen Tethered-cord-Syndrom und Fibromyalgie nicht begutachten lassen. Hätte das LSG ein schmerztherapeutisches Gutachten eingeholt, wären diese Befunde bestätigt und für den Kläger eine volle Erwerbsminderung anerkannt worden.
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III. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
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Der Kläger hat den Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 103 SGG) formgerecht (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) gerügt.
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Der Verfahrensmangel liegt auch vor. Denn das LSG ist dem Beweisantrag des Klägers, durch Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens aufzuklären, ob bei ihm die Gesundheitsstörungen Fibromyalgie und Tethered-cord-Syndrom bestehen und welchen Einfluss sie auf seine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.
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Zu Unrecht begründet das LSG die Ablehnung der genannten Beweisanträge (auf S 16 f des Urteils) damit, dass sämtliche vom Kläger beklagten Beschwerden durch die gerichtlich (vom SG) gehörten Sachverständigen Dr. V. und Dr. M. berücksichtigt und die Existenz von Schmerzen bestätigt worden seien: zum einen aufgrund von degenerativen Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparats, zum anderen aufgrund eines somatoformen Schmerzsyndroms. Deshalb hätten die vom Kläger eingereichten "Diagnosestellungen", die größtenteils darüber hinaus auch älteren Datums seien, keine andere Beurteilung des Leistungsvermögens gerechtfertigt.
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Diese Argumentation trifft hinsichtlich der Diagnose "Fibromyalgie" schon deshalb nicht zu, weil diese nach den Akten erstmals im September 2008 gestellt (Bl 239, 252, 288 LSG-Akten) und vorher weder im Gutachten Dr. V. vom April 2008 noch im Gutachten Dr. M. vom Juni 2008 diskutiert worden war; auch der Psychiater H. erwähnt in seinem Verwaltungsgutachten vom Januar 2009 diese Diagnose nicht. Ebenso wenig vermag zu überzeugen, wenn das LSG (auf S 16, Abs 3 seines Urteils) die Diagnose Tethered-cord-Syndrom undifferenziert mit den Diagnosen Fibromyalgie und Multiarthrosesyndrom gleichsetzt und behauptet, alles sei schon zur Genüge berücksichtigt.
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Bei seiner Entscheidungsfindung ist dem Senat bewusst, dass bei einer Klage auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht die Bestätigung bloßer Diagnosen entscheidungserheblich sein kann, sondern nur die gesundheitlich bedingten Leistungseinschränkungen im Erwerbsleben. Diese sind jedoch von Amts wegen zu ermitteln. Der Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dürfen die Tatsachengerichte nicht dadurch ausweichen, dass sie entscheidungserhebliche Fragen (hier: das Bestehen der Gesundheitsstörungen Fibromyalgie und Tethered-cord-Syndrom beim Kläger sowie ihre Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben) trotz fehlender eigener (nachzuweisender: s bereits BSG vom 2.6.1959, SozR Nr 33 zu § 103 SGG) Sachkunde selbst entscheiden. So aber ist das LSG verfahren. Es hat die genannten Gesundheitsstörungen, deren Vorliegen dem Kläger in von ihm beigebrachten ärztlichen Unterlagen bescheinigt wurde, als unerheblich bzw ihre Auswirkungen als durch die vorliegenden Sachverständigengutachten als beantwortet angesehen, obwohl diese sich zu ihrem Inhalt nicht geäußert haben, zum Teil die Unterlagen gar nicht kennen konnten, weil diese erst nach der Begutachtung entstanden sind.
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Dabei kann dahinstehen, ob zur ordnungsgemäßen Beurteilung der genannten Fragen, der Beschwerdebegründung folgend, ein schmerztherapeutisches Gutachten erforderlich war, oder ob nicht eine zusätzliche Stellungnahme eines oder beider der vom SG bereits gehörten Sachverständigen ausgereicht hätte. Denn jedenfalls ging der auf eine erneute Begutachtung abzielende Beweisantrag des Klägers in die zutreffende Richtung. Die Ergebnisse von erbetenen zusätzlichen Stellungnahmen hätten zur Entscheidung beitragen können, ob noch ein weiteres Sachverständigengutachten erforderlich ist.
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Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die angefochtene Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann.
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Auf der Grundlage des § 160a Abs 5 SGG macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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