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BSG 24.10.2013 - B 13 R 209/13 B
BSG 24.10.2013 - B 13 R 209/13 B - rechtliches Gehör - berufskundliche Sachkunde - Äußerungsmöglichkeit des Klägers
Normen
§ 62 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, Art 103 GG, § 43 SGB 6
Vorinstanz
vorgehend SG Magdeburg, 26. April 2010, Az: S 8 R 493/08, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, 27. Februar 2013, Az: L 3 R 136/10, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 27. Februar 2013 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
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Einen von der 1952 geborenen Klägerin im März 2007 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3.7.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.5.2008 ab.
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Das SG Magdeburg hat mit Gerichtsbescheid vom 26.4.2010 die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das LSG Sachsen-Anhalt ua ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. V. vom 29.3.2012 nebst ergänzender Stellungnahme vom 23.7.2012 eingeholt. Mit Urteil vom 27.2.2013 hat es die Berufung zurückgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung. Auch soweit Dr. V. in seinem Gutachten und seiner ergänzenden Stellungnahme zusätzliche Pausen von bis zu dreimal zehn Minuten in einer mehr als sechsstündigen Arbeitsschicht für erforderlich halte, führe dies nicht dazu, dass die Klägerin mit ihrem Leistungsvermögen für leichte körperliche Arbeiten von sechs Stunden und mehr nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes tätig sein könne. Kurzpausen von weniger als 15 Minuten alle zwei Stunden zählten im Bereich des öffentlichen Dienstes nicht als Arbeitszeit verkürzende Pausen (Hinweis auf Urteile des BAG vom 30.3.1989 - 6 AZR 326/86 - EzBAT § 4 BAT Betriebliche Übung Nr 11; vom 27.4.2000 - 6 AZR 861/98). Für Büroarbeiten habe das Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie deswegen die von den Arbeitgebern zugestandene persönliche Verteilzeit mit etwa 12 Prozent der tariflich festgesetzten Arbeitszeit angesetzt (vgl Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, DRV 8-9/93, S 493, 527). Zusätzliche zehnminütige Ruhepausen seien im Rahmen der sogenannten persönlichen Verteilzeit realisierbar (Hinweise auf Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 20.3.2007 - L 11 R 684/06 - und vom 26.10.2010 - L 11 R 5203/09; Urteile des Bayerischen LSG vom 25.5.2009 - L 18 R 535/04 - und vom 29.4.2009 - L 18 R 866/06, alle veröffentlicht in Juris). Auch aus der Einschätzung von Dr. V., dass die Klägerin in einer genau sechsstündigen Arbeitsschicht außer einer halbstündigen oder zwei viertelstündigen Arbeitspausen zusätzliche Arbeitsunterbrechungen von bis zu zweimal zehn Minuten einhalten müsse, ergäben sich keine Konsequenzen hinsichtlich einer Einsetzbarkeit der Klägerin unter betriebsunüblichen Bedingungen. Zwar stehe Arbeitnehmern nach § 4 S 1 ArbZG erst bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden eine Ruhepause zu. Vorliegend könne die Klägerin aber mehr als sechs Stunden arbeiten und benötige dabei keine über die ihr nach dem ArbZG zustehenden Pausen hinausgehenden sogenannten unüblichen Pausen. Vor dem Hintergrund, dass seit dem Inkrafttreten des § 43 Abs 1 S 2 SGB VI ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen Voraussetzung für den Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sei, trage das Risiko, noch sechs, aber nicht mehr acht Stunden täglich arbeiten zu können, der Versicherte. Insoweit sei der Versicherte, der mehr als sechs Stunden arbeiten könne, nicht besser zu stellen, als derjenige, der nur noch über ein genau sechsstündiges Leistungsvermögen verfüge.
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Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Sie habe keine Kenntnis davon gehabt und sei insoweit durch die Urteilsgründe überrascht worden, dass das LSG sich allein mit Hilfe von Entscheidungen des BAG, des LSG Baden-Württemberg und des Bayerischen LSG sowie des Hefts der DRV 8-9/93 "Berufs- und Erwerbsunfähigkeit" zu den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt sachkundig gemacht und sich dadurch als ausreichend informiert angesehen habe, um die Frage zu beantworten, ob die vom Sachverständigen Dr. V. für erforderlich gehaltenen zusätzlichen Ruhepausen betriebsunübliche Arbeitsbedingungen bedeuten. Da ihr das Berufungsgericht vor seiner Entscheidung weder mitgeteilt habe, welche Vorstellungen es zu den Pausenregelungen im Arbeitsleben habe und wie es die Üblichkeit der festgestellten Ruhepausen für einen Bewerber um einen Arbeitsplatz einschätze, noch offenbart habe, über welche berufskundliche Sachkunde es insoweit verfüge, habe sie keine Möglichkeit gehabt, sich hierzu zu äußern.
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II. Auf die Beschwerde der Klägerin war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Die Klägerin hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) und auch in der Sache zutreffend die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62, § 128 Abs 2 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BVerfGE 84, 188, 190; 89, 28, 35 ; 101, 106, 129 ; BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 157/11 B - Juris RdNr 8; BSG vom 13.10.1993 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3). Er soll ua verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG).
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Hiernach hat das LSG eine Überraschungsentscheidung getroffen. Denn es hat seine berufskundlichen Feststellungen zu den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und hier speziell zur Üblichkeit bzw Unüblichkeit von Pausenregelungen im Arbeitsleben unter Auswertung der vorgenannten Urteile des BAG, des Bayerischen LSG und des LSG Baden-Württemberg sowie des Hefts der DRV 8-9/93 "Grundsätze zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung" getroffen. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten aber nicht auf das Bestehen dieser berufskundlichen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, worauf diese gestützt wird und was diese beinhaltet, sodass die Klägerin sich hierzu nicht äußern konnte. Das Gericht muss die Beteiligten jedoch über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass den Beteiligten an einem Rentenstreitverfahren die berufskundlichen Erkenntnisse (Tatsachen), die das LSG aus den genannten Gerichtsurteilen und der erwähnten Zeitschrift entnommen hat, mit Sicherheit gegenwärtig waren (vgl Senatsurteil vom 23.5.1996 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 20, wonach eine Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs nur für diejenigen Tatsachen gilt, welche allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen diese auch wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sind).
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Damit liegt der von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler vor. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil - wie die Klägerin hinreichend vorgetragen hat - jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass das LSG auf die von ihr dann vorgebrachten Einwendungen gegen die als berufskundliche Beurteilungsgrundlagen herangezogenen Unterlagen zu einer anderen Entscheidung bzw weiteren Beweiserhebung auf berufskundlichem Fachgebiet hätte kommen können.
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Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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