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BVerfG 26.12.2022 - 1 BvR 2333/22
BVerfG 26.12.2022 - 1 BvR 2333/22 - Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Übertragung der Alleinsorge auf Vater bei getrenntlebenden Eltern - Verletzung des Elternrechts der Mutter weder dargelegt noch ersichtlich
Normen
Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 1671 Abs 1 S 2 Nr 2 BGB
Vorinstanz
vorgehend OLG München, 8. Dezember 2022, Az: 4 UF 1160/22, Beschluss
vorgehend AG Augsburg, 7. November 2022, Az: 402 F 2355/22, Beschluss
vorgehend AG Augsburg, 5. Oktober 2022, Az: 402 F 2355/22, Beschluss
vorgehend OLG München, 8. Dezember 2022, Az: 4 UF 1228/22, Beschluss
vorgehend AG Augsburg, 9. November 2022, Az: 402 F 2758/22, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
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Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft Entscheidungen über das Sorgerecht für ein rund drei Monate altes Kind sowie über die Herausgabe des Kindes.
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I.
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Die Beschwerdeführerin und ihr mittlerweile von ihr getrennt lebender Ehemann sind die Eltern einer im Juni 2015 geborenen Tochter sowie eines Ende September 2022 geborenen Sohns. Weite Teile des Sorgerechts für die Tochter sind beiden Eltern vorläufig entzogen worden. Das Familiengericht stützte diese Entscheidung darauf, dass beide Eltern mit der Trennungssituation massiv überfordert seien und sich nur bedingt auf die Tochter fokussieren könnten. Diese sei nicht nur in therapeutischer Behandlung, sondern habe ernstzunehmende suizidale Neigungen. Die Tochter lebt seit Ende April 2022 in einer Bereitschaftspflegefamilie. Beide Eltern haben getrennt voneinander Umgangskontakte mit ihr.
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Im hier zugrunde liegenden Ausgangsverfahren hat das Familiengericht das Sorgerecht, mit Ausnahme des Umgangsbestimmungsrechts, für den Sohn vorläufig auf den Vater übertragen, der mit dem Kind in einer Eltern-Kind-Einrichtung lebt. Die Beschwerdeführerin hatte dort zeitweilig täglich Kontakt mit dem Sohn; aktuell besteht wohl an mehreren Tagen der Woche Kontakt. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, wendet sich die Beschwerdeführerin vor allem gegen die vorläufige Übertragung des Sorgerechts für ihren Sohn auf dessen Vater. Sie macht unter anderem die Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG geltend. Von den Fachgerichten sei vor allem die besondere Bedeutung einer noch stillenden Mutter für einen Säugling nicht hinreichend berücksichtigt worden.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die dafür nach § 93a Abs. 2 BVerfGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Auf Grundlage der Verfassungsbeschwerde und der mit ihr vorgelegten Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Entscheidungen in Grundrechten, insbesondere in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, verletzt sein könnte.
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1. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die familiengerichtlichen Entscheidungen richtet, ist sie bereits deshalb unzulässig, weil es insoweit am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Die erstinstanzlichen Beschlüsse sind durch die nachfolgenden vollumfänglichen Sachentscheidungen des Oberlandesgerichts prozessual überholt. Ein dennoch fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis ist weder dargelegt noch ersichtlich (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. November 2022 - 1 BvR 1667/22 -, Rn. 12 m.w.N.).
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2. Die Beschwerdeführerin bleibt auch insoweit erfolgslos, als sie sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts wendet. Eine durch diese bewirkte Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist bei Anwendung des hier geltenden zurückgenommenen verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs weder in substantiierter Weise dargelegt noch sonst ersichtlich. Die Beschwerdeführerin hat bereits versäumt, ein in dem ihre Tochter betreffenden Sorgerechtsverfahren eingeholtes Sachverständigengutachten vorzulegen. Auf dieses Gutachten hat sich das Oberlandesgericht in seinem im Verfahren 4 UF 1160/22 ergangenen Beschluss im Zusammenhang mit der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bezogen. Darauf kommt es hier jedoch nicht an, weil die Beschwerdeführerin unabhängig davon nicht hinreichend begründet hat (vgl. § 23 Abs. 1, § 92 BVerfGG), dass sie in ihrem Elternrecht verletzt sein könnte.
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a) Sind - wie vorliegend - fachgerichtliche Entscheidungen über den Ausschluss eines Elternteils von der gemeinsamen Sorge auf ihre Vereinbarkeit mit dem Elternrecht zu überprüfen, sind Prüfungsmaßstab und Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zur Konstellation des Art. 6 Abs. 3 GG zurückgenommen. Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen dazu, ob die Voraussetzungen des § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB erfüllt sind, sowie die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung werden vom Bundesverfassungsgericht nicht kontrolliert. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 92 f.>; 72, 122 138>; BVerfGK 16, 355 359>; stRspr).
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Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts wie auch aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, ergeben sich allerdings Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren (vgl. BVerfGE 55, 171 182>; BVerfGK 15, 509 514>). Das Verfahren muss grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes entsprechen. Die Gerichte müssen daher ihr Verfahren so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. BVerfGE 55, 171 182>; BVerfGK 17, 407 412>). Eine dem Elternrecht genügende Entscheidung kann nur aufgrund der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls getroffen werden (vgl. BVerfGK 15, 509 514> m.w.N.), bei der allerdings auch zu berücksichtigen ist, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfGK 15, 509 514> m.w.N.).
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Hinsichtlich der Ermittlung der Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung in Eilverfahren bleiben die praktisch verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren allerdings regelmäßig hinter den im Hauptsacheverfahren bestehenden Möglichkeiten zurück. Den Gerichten ist es in kindesschutzrechtlichen Eilverfahren insbesondere regelmäßig nicht möglich, noch vor der Eilentscheidung ein Sachverständigengutachten einzuholen. Dies steht einer Entscheidung über das Sorgerecht jedoch nicht entgegen (so selbst für einen Entzug des Sorgerechts: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 18 m.w.N.).
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Nichts anderes gilt für fachgerichtliche Entscheidungen über Herausgabeverlangen (vgl. § 1632 BGB), wenn es um eine Herausgabe im Zusammenhang mit Sorgerechtsentscheidungen geht, durch die die bisherige gemeinsame elterliche Sorge auf einen Elternteil übertragen wurde.
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b) Daran gemessen verletzen die angegriffenen Entscheidungen die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Oberlandesgericht hat auf einer hinreichend zuverlässigen Grundlage die Voraussetzungen für eine vorläufige Übertragung des Sorgerechts auf den Vater festgestellt.
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aa) Mit den Berichten des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin sowie den Erkenntnissen aus der persönlichen Anhörung der genannten fachlich Beteiligten und der Eltern stand dem Oberlandesgericht eine ausreichend tragfähige tatsächliche Grundlage für die zu treffenden Sorge- und Herausgabeentscheidungen zur Verfügung. Es dürfte bereits fachrechtlich nicht gehalten gewesen sein, sich einen persönlichen Eindruck von dem Sohn zu verschaffen, weil die Voraussetzungen von § 159 Abs. 2 FamFG nicht vorlagen. Denn es handelte sich nicht um ein Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB. Verfassungsrechtlich gebot Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG jedenfalls nicht, sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen.
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bb) Es ist nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht § 1671 BGB in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzender Weise ausgelegt und angewendet hätte. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich davon ausgegangen, dass den hochgradig zerstrittenen Eltern, die sich nur noch mit massiven gegenseitigen Vorwürfen begegnen und denen jegliches gegenseitige Vertrauen verloren gegangen ist, eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge nicht möglich ist. Die Beschwerdeführerin war vor der Geburt des Sohnes bis Ende Oktober 2022 verschwunden und hat die Geburt des Sohnes verheimlicht. Die Eltern können sich nicht einmal auf einen Vornamen für den Sohn einigen und nutzen unterschiedliche Vornamen.
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Das Jugendamt hatte aufgrund der Erfahrungen mit der Schwester des Säuglings Anhaltspunkte für eine eingeschränkte psychische Stabilität der Beschwerdeführerin und hielt jedenfalls ambulante Hilfen für zwingend geboten. Die Beschwerdeführerin hat im August und September 2022 über ihre Bevollmächtigte deutlich gemacht, bezüglich des Ungeborenen in keiner Weise mit dem Jugendamt kooperieren zu wollen. Der Vater akzeptierte hingegen alle Hilfsmaßnahmen und war kooperativ. Vor diesem Hintergrund bestehen gegen eine Übertragung des Sorgerechts auf den Vater keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies gilt auch für die Folgenabwägung des Oberlandesgerichts; insoweit ist nachvollziehbar, jedenfalls dann einen erneuten Aufenthaltswechsel des Kindes zu vermeiden, wenn es - soweit im einstweiligen Anordnungsverfahren bereits erkennbar - im laufenden Hauptsacheverfahren keine deutlichen Anhaltspunkte dafür gibt, dass dort nahezu sicher der Beschwerdeführerin das Sorgerecht zu übertragen wäre. Die Gerichte sind insoweit auch den klaren fachlichen Empfehlungen von Verfahrensbeiständin und Jugendamt gefolgt.
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3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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