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BVerfG 09.07.2020 - 1 BvR 1571/19
BVerfG 09.07.2020 - 1 BvR 1571/19 - Stattgebender Kammerbeschluss: Versagung von PKH in der Berufungsinstanz unter Abweichung von § 119 Abs 1 S 2 ZPO ohne besondere Begründung hierfür verletzt Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 19 Abs 4 GG)
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 114 Abs 1 S 1 ZPO, § 119 Abs 1 S 2 ZPO
Vorinstanz
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 4. April 2019, Az: L 7 AY 784/19 ER-B, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. April 2019 - L 7 AY 784/19 ER-B - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt wurde, und wird insoweit aufgehoben.
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2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.
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3. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe durch das Landessozialgericht Baden-Württemberg. Hinsichtlich der Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) hat das Verfahren mit dem Beschluss der Kammer vom 3. Juli 2019 - 1 BvR 1060/19 - seinen Abschluss gefunden.
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1. Der Beschwerdeführer beantragte anwaltlich vertreten einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht, um vorläufig volle Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu erhalten. Das Sozialgericht beschied diesen Antrag positiv und verpflichtete den Landkreis, weitere Leistungen zu gewähren. Mit Beschluss vom 4. April 2019 half das Landessozialgericht Baden-Württemberg der dagegen gerichteten Beschwerde des Landkreises ab. Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers seien nicht zu erstatten. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe sei mangels hinreichender Erfolgsaussicht abzulehnen. Insoweit verwies das Gericht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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2. Der Beschwerdeführer meint, die Versagung der Prozesskostenhilfe verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Hier sei § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO entsprechend anzuwenden. Seine Erfolgsaussichten hätten aufgrund der stattgebenden Entscheidung des Sozialgerichts in erster Instanz nicht von vornherein verneint werden dürfen. So habe das Landessozialgericht das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verletzt.
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3. Die Verfassungsbeschwerde wurde zugestellt und dem Ministerium der Justiz und für Europa Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen vor.
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4. Dem Beschwerdeführer wurde mit Beschluss vom 20. November 2019 unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten Prozesskostenhilfe bewilligt.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der abgelehnten Prozesskostenhilfe zulässig und begründet. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf Rechtsschutzgleichheit angezeigt. Das kann die Kammer entscheiden (§ 93c Abs. 1 BVerfGG); die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (BVerfGE 1, 109 ff.>; 22, 83 86>; 63, 380 394 f.>; 81, 347 357>; 92, 122 123>; stRspr).
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1. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landessozialgerichts, dem Beschwerdeführer in der zweiten Instanz keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen, ist zulässig.
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Die Verfassungsbeschwerde genügt im Ergebnis den aus § 23 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz und § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen. Dagegen spricht nicht, dass Art. 3 Abs. 1 GG nicht ausdrücklich benannt wird, sondern die Beschwerdeschrift nur auf Art. 19 Abs. 4 GG und das Gebot effektiven Rechtsschutzes Bezug nimmt. Eine fehlende oder unrichtige Artikelzuordnung des Grundrechtsverstoßes, der gerügt werden soll, führt nicht zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 92, 158 175>; 115, 166 180>; 130, 76 109 f.>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg verletzt den Beschwerdeführer in der von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten Rechtsschutzgleichheit, soweit der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist.
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a) Das Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG gebietet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (dazu BVerfGK 19, 384 386>). Das Grundrecht zielt also auf Gleichbehandlung mit denen, die ihre Prozessaussichten vernünftig abwägen und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigen (vgl. BVerfGE 78, 104 117 f.>; 81, 347 357>; 117, 163 187>; stRspr). Die entsprechende Prüfung darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zu verlagern; es will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347 357>). Dabei verfügen die Fachgerichte über einen Entscheidungsspielraum bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen, dürfen aber einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht unverhältnismäßig erschweren (vgl. BVerfGE 81, 347 358>).
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b) Hier hat das Fachgericht seinen Entscheidungsspielraum zu Lasten des Beschwerdeführers offensichtlich überschritten.
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Für den Prozess vor den Sozialgerichten ordnet § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG die entsprechende Geltung der Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Prozesskostenhilfe an. Gemäß § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfolgt die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für jeden Rechtszug besonders. In § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO ist geregelt, dass in einem höheren Rechtszug nicht zu prüfen ist, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat. Das Landessozialgericht hat diese offensichtlich einschlägige Norm nicht angewandt. Der Beschwerdeführer obsiegte in erster Instanz vor dem Sozialgericht und die unterlegene Behörde legte dagegen Beschwerde ein. Dennoch stützt sich das Landessozialgericht einzig auf § 114 ZPO und damit auf mangelnde Erfolgsaussichten in der Hauptsache.
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Zwar ist es nicht völlig ausgeschlossen, eine von § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO abweichende Entscheidung zu treffen. Doch muss diese zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Anforderungen besonders begründet werden (vgl. zur identischen damaligen Vorgabe in § 119 Satz 2 ZPO BVerfGE 71, 122 135 f.>). Daran fehlt es hier.
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Damit erschwert die Entscheidung des Landessozialgerichts, für anwaltliche Unterstützung in einem Beschwerdeverfahren gegen eine für den Beschwerdeführer erfolgreiche Entscheidung in erster Instanz keine Prozesskostenhilfe zu gewähren, unzumutbar den Weg zu den Gerichten.
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III.
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Der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. April 2019 - L 7 AY 784/19 ER-B -, wird, soweit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt wurde, aufgehoben und die Sache an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.
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IV.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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