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BVerfG 29.06.2020 - 1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15
BVerfG 29.06.2020 - 1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15 - Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde von "Altanschließern" gegen Heranziehung zu Wasseranschlussbeiträgen in Mecklenburg-Vorpommern - Verstoß des § 9 Abs 3 S 1 KAG MV aF gegen Grundsatz der Rechtssicherheit ohne Auswirkung auf vorliegend angegriffene Bescheide - keine Verletzung von Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG (Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit) bzw von Art 3 Abs 1 GGBelastungsgleichheit
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 9 KAG MV vom 14.07.2016, § 9 Abs 3 S 1 Halbs 2 KAG MV vom 12.04.2005, § 12 Abs 2 S 1 Halbs 2 KAG MV vom 12.04.2005
Vorinstanz
vorgehend BVerwG, 15. April 2015, Az: 9 C 16/14, Urteil
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 1. April 2014, Az: 1 L 140/13, Urteil
vorgehend VG Schwerin, 16. April 2013, Az: 4 A 1515/12, Urteil
vorgehend BVerwG, 15. April 2015, Az: 9 C 17/14, Urteil
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 1. April 2014, Az: 1 L 142/13, Urteil
vorgehend VG Schwerin, 16. April 2011, Az: 4 A 1280/12, Urteil
vorgehend BVerwG, 15. April 2015, Az: 9 C 15/14, Urteil
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 1. April 2014, Az: 1 L 139/13, Urteil
vorgehend VG Schwerin, 16. April 2013, Az: 4 A 1516/12, Urteil
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die Anträge auf Auslagenerstattung werden abgelehnt.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführer sind Eigentümer von Grundstücken in Mecklenburg-Vorpommern, die bereits vor der Wiedervereinigung über einen Anschluss an eine Abwasserentsorgungseinrichtung verfügten. Im Jahr 2005 zog der Beklagte des Ausgangsverfahrens die Beschwerdeführer im Hinblick auf nach der Wiedervereinigung getätigte Investitionsmaßnahmen (sogenannte "Nachwendeinvestitionen") auf der Grundlage insbesondere der §§ 1, 3 f. seiner Satzung über die Erhebung von Beiträgen und Gebühren für die Abwasserentsorgung zur Zahlung von Schmutzwasseranschlussbeiträgen heran.
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Die Beschwerdeführer rügen im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 Kommunalabgabengesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. April 2005 (KAG M-V a.F.) ermögliche eine zeitlich unbegrenzte Heranziehung zu Anschlussbeiträgen und sei deshalb verfassungswidrig. Dieser Verfassungsverstoß könne entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch nicht durch § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a.F. legitimiert werden, demzufolge die Festsetzungsfrist bei der Erhebung eines Anschlussbeitrags nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V a.F. frühestens mit Ablauf des 31. Dezembers 2008 endete.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer bleiben ohne Erfolg.
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1. Die Beschwerdeführer werden nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verletzt.
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a) § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a.F. verstieß − auch in Anbetracht der Stichtagsregelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a.F. − zwar gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. BVerfGE 133, 143 156, 158 Rn. 34, 41>), weil diese Regelung bei unterbliebenem oder fehlerhaftem Erlass einer Beitragssatzung eine zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Beiträgen nach Erlangung des Vorteils ermöglichte. Denn ohne eine wirksame Satzung konnte eine Beitragsschuld nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren, so dass das Landesrecht der Erhebung von Beiträgen zum Vorteilsausgleich keine bestimmte zeitliche Grenze setzte, wenn nach der Schaffung der Vorteilslage eine Beitragssatzung nicht erlassen wurde oder nichtig war. Es ließ damit in diesen Fällen entgegen dem verfassungsrechtlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit das berechtigte Interesse des Bürgers, in zumutbarer Zeit Klarheit darüber zu gewinnen, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss, völlig unberücksichtigt.
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Auch § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a.F. normierte keine zeitliche Höchstgrenze der Inanspruchnahme, sondern verlängerte lediglich die Festsetzungsverjährungsfrist im Sinne einer Mindestfrist. Davon geht auch das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich aus.
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Der Vorschrift kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht nur der Wille des Gesetzgebers entnommen werden, eine Beitragserhebung jedenfalls bis zum 31. Dezember 2008 zu ermöglichen. Betroffene hätten wegen der darin enthaltenen Frist die Gewissheit gehabt, jedenfalls bis zum Ablauf des 31. Dezember 2008 mit der Heranziehung zu Anschlussbeiträgen rechnen zu müssen, so dass sich der Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit erst auf den Zeitraum nach Ablauf dieses Stichtages und folglich nicht auf Bescheide auswirke, die − wie in den streitgegenständlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren − zuvor erlassen wurden (ebenso zum brandenburgischen Landesrecht OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 27. Mai 2013 - 9 S 75.12 -, Rn. 29 und vom 16. Juli 2014 - 9 N 69.14 -, Rn. 22; Urteil vom 14. November 2013 - 9 B 34.12 -, Rn. 60 f.). Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts zu erinnern.
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b) Verfassungsrechtliche Bedenken sind auch nicht vor dem Hintergrund angezeigt, dass nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a.F. die Erhebung von Anschlussbeiträgen für eine 18-jährige Zeitspanne, nämlich vom Beginn des Eintritts der Vorteilslage bis zur möglichen Heranziehung zu Beiträgen bis zum 31. Dezember 2008, ermöglichte. Der hier für die Beurteilung der Rechtssicherheit maßgebliche Zeitraum hält sich im Rahmen des weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, der ihm im Bereich der Beitragserhebung zum Ausgleich von Vorteilen zukommt (BVerfGE 133, 143 160 Rn. 46>).
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Nach dem Willen des Gesetzgebers in Mecklenburg-Vorpommern sollte mit der Regelung in § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a.F. den beitragserhebenden Körperschaften mehr Zeit eingeräumt werden, um Beiträge von sogenannten Altanschließern erheben zu können (LTDrucks 4/1576 S. 77). Die besonderen Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung wurden verfassungsgerichtlich bereits in unterschiedlichen Kontexten gewürdigt und gerade hinsichtlich des insoweit bestehenden gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums anerkannt (vgl. BVerfGE 95, 1 23 f.>; 95, 267 313>; 148, 69 119 Rn. 122>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juli 1993 - 1 BvR 504/93 -, Rn. 9 f. und vom 24. September 1997 - 1 BvR 647/91 -, Rn. 43).
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c) Gegen die Annahme der Gerichte, die beitragsrechtliche Vorteilslage sei dabei Eigentümern von tatsächlich schon zu DDR-Zeiten angeschlossenen Grundstücken erst in dem Zeitpunkt zugeflossen, in dem ihnen mit den jeweiligen öffentlichen Entsorgungseinrichtungen erstmals und frühestens unter dem grundlegend neuen Rechtsregime nach der Wiedervereinigung der rechtlich gesicherte Vorteil geboten worden sei, ihr Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Einrichtung entsorgen zu können, also nicht vor dem Jahr 1990, ist verfassungsrechtlich dann nichts zu erinnern, wenn die Herstellungsbeiträge nur die nach der Wiedervereinigung entstandenen Aufwendungen zum Gegenstand haben, also nur die sogenannten Nachwendeinvestitionen betreffen. Davon geht auch das Bundesverwaltungsgericht in den von den Beschwerdeführenden angegriffenen Entscheidungen aus (siehe hierzu jetzt auch BGH, Urteil vom 27. Juni 2019 - III ZR 93/18 -, Rn. 55).
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2. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsgleichheit liegt gleichfalls nicht vor. Dabei sind die Verfassungsbeschwerden bereits nicht ausreichend begründet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Jedenfalls aber erweisen sie sich insofern als unbegründet.
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a) Aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgt für das Steuer- und Abgabenrecht der Grundsatz der Belastungsgleichheit (vgl. BVerfGE 124, 235 244>; 132, 334 349 Rn. 47>; 137, 1 20 Rn. 48>; 149, 222 254 Rn. 65>). Wer eine nichtsteuerliche Abgabe schuldet, ist regelmäßig zugleich steuerpflichtig und wird insofern zur Finanzierung der die Gemeinschaft treffenden Lasten herangezogen. Neben dieser steuerlichen Inanspruchnahme bedürfen nichtsteuerliche Abgaben, die den Einzelnen zu einer weiteren Finanzleistung heranziehen, einer über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden besonderen sachlichen Rechtfertigung (BVerfGE 75, 108 158>; 144, 369 397 Rn. 62>; 149, 222 254 Rn. 65>). Werden Beiträge erhoben, verlangt Art. 3 Abs. 1 GG, dass die Differenzierung zwischen Beitragspflichtigen und nicht Beitragspflichtigen nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen wird, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Beitrag abgegolten werden soll (BVerfGE 137, 1 21 Rn. 51>; 149, 222 254 Rn. 66>). Die Erhebung von Beiträgen erfordert hiernach hinreichende sachliche Gründe, welche eine individuelle Zurechnung des mit dem Beitrag belasteten Vorteils zum Kreis der Belasteten rechtfertigen (BVerfGE 137, 1 22 Rn. 52>; 149, 222 254 f. Rn. 66>). Die für die Kostentragungspflicht erforderliche individuelle Zurechenbarkeit lässt sich insbesondere aus der rechtlichen oder tatsächlichen Sachherrschaft oder -nähe und der damit verbundenen Möglichkeit herleiten, aus der Sache konkrete wirtschaftliche Vorteile oder Nutzen zu ziehen (BVerfGE 91, 207 223>; 137, 1 22 Rn. 52>; 149, 222 255 Rn. 66>).
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b) Ein solcher sachlicher Grund für die Heranziehung der Beschwerdeführer zu Anschlussbeiträgen durch den Beklagten ist hier gegeben.
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Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass mit Blick auf den Zeitpunkt der Entstehung des beitragsrechtlichen Vorteils nach ständiger Senatsrechtsprechung auch allen Eigentümern von tatsächlich bereits angeschlossenen Grundstücken ("Altan-schließer") mit den jeweiligen öffentlichen Entsorgungseinrichtungen von den kommunalen Einrichtungsträgern wie dem Zweckverband erstmalig und frühestens unter dem grundlegend neuen Rechtsregime nach der Wiedervereinigung der rechtlich gesicherte Vorteil geboten worden sei, ihr Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Einrichtung entsorgen zu können (dies gelte entsprechend für die Versorgung mit Trinkwasser durch einen Trinkwasseranschluss). In die Beitragskalkulation zur Abgeltung dieses Vorteils seien zudem nur sogenannte "Nachwendeinvestitionen" eingeflossen. Der Herstellungsvorteil liegt demnach in der rechtlichen Absicherung des durch Aufwendungen nach der Wiedervereinigung entstandenen Vorteils der Entsorgung von Schmutzwasser in einer öffentlichen Einrichtung. Dieser sei erstmals und frühestens nach Inkrafttreten insbesondere des Kommunalabgabengesetzes Mecklenburg-Vorpommern − beziehungsweise zeitlich danach mit Erlass einer wirksamen Beitragssatzung − eingetreten.
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Den Grundstücken der Beschwerdeführer wurde demnach durch die Nachwendeinvestitionen ebenso wie den Neuanschließern ein wirtschaftlicher Vorteil vermittelt, der seine Rechtsgrundlage in § 9 KAG M-V findet (zur Möglichkeit der Beitragserhebung für Vorteile aus Investitionen in bereits vorhandene Anlagen vgl. BVerfGE 137, 1 27 Rn. 63>). Die Beschwerdeführer profitieren in gleichem Maß wie Neuanschließer von den erfolgten Investitionsmaßnahmen. Es würde einen Verstoß gegen die nach Art. 3 Abs. 1 GG gebotene Vorteilsgerechtigkeit darstellen, wenn im Hinblick auf die Nachwendeinvestitionen nur die Neuanschließer für denselben Vorteil zu Beiträgen herangezogen würden, nicht jedoch die Beschwerdeführer als Altanschließer.
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c) Wenn die Beschwerdeführer den maßgeblichen Vorteil allein in der bereits vor der Wiedervereinigung gegebenen tatsächlichen Möglichkeit des Anschlusses an die Entsorgungseinrichtung sehen, zeigen sie keine verfassungsrechtlichen Verstöße auf. Investitionen zur Zeit der Deutschen Demokratischen Republik werden hier gerade nicht "noch einmal" durch einen Beitrag abgegolten, da sie nicht zu den Nachwendeinvestitionen gehören. Deren Rechtsgrundlage und rechtliche Einordnung als Herstellungsbeitrag gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V ist keine Frage des Bundesverfassungsrechts, sondern eine einfachrechtliche Frage der Rechtsgrundlage des Beitrags im Landesrecht. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Fachgerichte diese Rechtsgrundlage willkürlich ausgelegt oder angewendet hätten.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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