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BVerfG 25.07.2017 - 2 BvR 1405/17
BVerfG 25.07.2017 - 2 BvR 1405/17 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: teilweise Parallelentscheidung
Normen
Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 94 StPO, § 97 Abs 1 Nr 3 StPO, § 98 StPO, § 103 StPO
Vorinstanz
vorgehend LG München I, 8. Mai 2017, Az: 6 Qs 5/17, Beschluss
vorgehend AG München, 6. März 2016, Az: ER II Gs - 2238/17, Beschluss
nachgehend BVerfG, 9. Januar 2018, Az: 2 BvR 1405/17, Einstweilige Anordnung
nachgehend BVerfG, 27. Juni 2018, Az: 2 BvR 1405/17, Nichtannahmebeschluss
Tenor
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Die Staatsanwaltschaft München II wird angewiesen, die im Rahmen der Durchsuchung der Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day in der Prinzregentenstraße 11 in München am 15. März 2017 sichergestellten Unterlagen (lfd. Nummern 1 bis 185 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15. März 2017) sowie die angefertigte Datensicherung (Festplatte gemäß lfd. Nummer 186 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15. März 2017) - diese nach Vollziehung der durch Beschluss des Landgerichts München I vom 7. Juli 2017 (Aktenzeichen 6 Qs 15/17) angeordneten Herausgabe der unter dem Dateipfad "interwoven" von einem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten und Vernichtung davon gefertigter Kopien - bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, bei dem Amtsgericht München versiegelt zu hinterlegen.
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Eine Auswertung oder sonstige Verwertung der sichergestellten Unterlagen und der Datensicherung hat in diesem Zeitraum zu unterbleiben.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerin ist ein weltweit am Markt vertretener deutscher Automobilhersteller und Muttergesellschaft verschiedener weiterer Automobilhersteller, unter anderem der Audi AG. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sie sich gegen die auf § 103 StPO gestützte Anordnung der Durchsuchung der Münchener Kanzleiräume der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day, die sie im Zuge des sogenannten "VW-Dieselskandals" mandatiert hatte.
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1. Anlässlich eines in den USA geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen beauftragte die Beschwerdeführerin im September 2015 die international tätige Rechtsanwaltskanzlei Jones Day mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden. Mit dem Mandat waren auch Rechtsanwälte aus dem Münchener Kanzleibüro befasst. Zum Zwecke der Sachaufklärung sichteten die Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day konzernweit eine Vielzahl von Dokumenten und führten über 700 Befragungen von Mitarbeitern des Volkswagen-Konzerns durch. Der Aufsichtsrat der ebenfalls von den Ermittlungen betroffenen Audi AG ermächtigte seinen stellvertretenden Vorsitzenden, über die Beschwerdeführerin einen Zugriff auf die die Audi AG betreffenden Ergebnisse der "External Investigation" der Kanzlei Jones Day zu veranlassen (Aufsichtsratsbeschluss vom 7. Oktober 2015). Laut Jahresabschlussbericht der Audi AG für das Geschäftsjahr 2015 erhielten Aufsichtsrat und Vorstand zum Zeitpunkt der Jahresabschlussaufstellung einen mündlichen Zwischenbericht über den Stand der Untersuchungen.
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Im Januar 2017 einigten sich die Beschwerdeführerin und das U.S. Department of Justice im Rahmen eines sogenannten Plea Agreement auf die Zahlung eines Strafgeldes in Höhe von 2,8 Milliarden USD. Die Beschwerdeführerin bekannte sich in einem der Verständigung beigefügten statement of facts schuldig, durch eine Tochterfirma in den USA Dieselfahrzeuge mit unzulässigen Abgaskontrollvorrichtungen vertrieben zu haben. Betroffen waren Fahrzeuge mit 2,0 Liter-Dieselmotoren der Beschwerdeführerin und mit 3,0 Liter-Dieselmotoren, die die Audi AG entwickelt und hergestellt hatte.
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Wegen der Vorgänge im Zusammenhang mit den 3,0 Liter-Dieselmotoren der Audi AG führt die Staatsanwaltschaft München II ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges und strafbarer Werbung, das sich bislang gegen Unbekannt richtet. Auf ihren Antrag ordnete das Amtsgericht München mit Beschluss vom 6. März 2017 auf der Grundlage von § 103 StPO die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day an. Die Durchsuchung sollte der Auffindung von Dokumenten dienen, die von der Kanzlei im Zuge ihrer internen Ermittlungen über die Vorgänge um den 3,0 Liter-Dieselmotor der Audi AG zusammengetragen oder erstellt worden waren.
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Die Durchsuchungsanordnung wurde am 15. März 2017 vollzogen. Insgesamt wurden 185 Aktenordner und Hefter mit Unterlagen aus den Büros der sachbearbeitenden Rechtsanwälte und einem eigens für das Mandat eingerichteten Aktenraum sichergestellt. Die Ermittler sicherten außerdem einen umfangreichen Bestand an elektronischen Daten, von denen sie einen Teil zunächst von einem in Belgien befindlichen Server herunterluden.
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Gegen die Durchsuchungsanordnung vom 6. März 2017 legte die Beschwerdeführerin am 24. März 2017 Beschwerde ein, der das Amtsgericht München mit Entscheidung vom 29. März 2017 nicht abhalf. Das Landgericht München I verwarf die Beschwerde der Beschwerdeführerin - sowie die ebenfalls gegen die Durchsuchungsanordnung gerichtete Beschwerde der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day - mit Beschluss vom 8. Mai 2017 als unbegründet. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin vom 7. Juni 2017 verwarf das Landgericht München I mit Beschluss vom 14. Juni 2017 als unzulässig.
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Der Sicherstellung widersprach die Beschwerdeführerin und beantragte am 24. März 2017, die sichergestellten Unterlagen und Daten sofort an die Kanzlei Jones Day herauszugeben. Das Amtsgericht München wertete dies als Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO und lehnte eine Herausgabe mit Entscheidung vom 29. März 2017 unter Verweis auf seinen Beschluss vom 21. März 2017 ab, mit dem es die Sicherstellung auf den Antrag der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO bereits bestätigt hatte. Dagegen legte die Beschwerdeführerin am 29. Mai 2017 Beschwerde ein, auf die das Landgericht München I mit Beschluss vom 7. Juli 2017 anordnete, dass die unter dem Dateipfad "interwoven" von einem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten an die Kanzlei Jones Day herauszugeben und von diesen Daten gefertigte Kopien zu vernichten seien. Im Übrigen verwarf es die Beschwerde als unbegründet.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Durchsuchungsanordnung des Amtsgerichts München vom 6. März 2017 und den Beschluss des Landgerichts München I vom 8. Mai 2017, durch die sie sich in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt sieht.
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Im Wesentlichen beruft sie sich darauf, dass Amtsgericht und Landgericht bei der Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO den grundrechtlichen Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Rechtsanwalt und Mandant nicht hinreichend berücksichtigt hätten. Für den Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO sei nicht die formale Stellung des Mandanten als Beschuldigter im konkreten Ermittlungsverfahren entscheidend, sondern allein das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant, so dass sich die Anordnung der Durchsuchung wegen eines Beschlagnahmeverbotes als unverhältnismäßig erweise.
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Die Beschwerdeführerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG die Aussetzung der Vollziehung des Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts München vom 6. März 2017 sowie die Aufrechterhaltung der Versiegelung der am Münchener Standort der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day sichergestellten Unterlagen und Daten bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde anzuordnen.
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II.
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Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 371>; 103, 41 42>; 121, 1 15>; 134, 138 140 Rn. 6 m.w.N.>; stRspr).
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Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 105, 365 371>; 106, 351 355>; 121, 1 17>; 125, 385 393>; 126, 158 168>; 129, 284 298>; 132, 195 232 f. Rn. 87>; stRspr). Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich mithin auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (vgl. nur BVerfGE 94, 166 217>).
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2. Nach diesen Maßgaben war die einstweilige Anordnung zu erlassen.
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a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft insbesondere die Frage auf, in welchem Umfang das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlichen Schutz genießt und inwieweit in dieses Verhältnis durch staatliche Ermittlungsmaßnahmen wie beispielsweise eine Durchsuchung eingegriffen werden darf, wenn der Rechtsanwalt im Auftrag seines Mandanten mit einer internen Untersuchung befasst ist, auf deren Ergebnisse die Ermittlungsbehörden zugreifen möchten, weil sie sich davon weitergehende Erkenntnisse für ihre Ermittlungen in einem Verfahren versprechen, in welchem der Mandant zwar nicht formell Beschuldigter ist, das aber in unmittelbarem Zusammenhang mit den im Rahmen des Mandatsverhältnisses durchgeführten internen Ermittlungen steht. Dies kann im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden.
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b) Im Rahmen der somit erforderlichen Folgenabwägung überwiegen die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Staatsanwaltschaft in der Zwischenzeit eine Auswertung des sichergestellten Materials vornehmen, ohne hierzu berechtigt zu sein. Dieser Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die im Zuge der internen Ermittlungen erstellten und gesammelten Unterlagen und Daten könnte zu einer - möglicherweise irreparablen - Beeinträchtigung des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses (vgl. BVerfGE 113, 29 49> m.w.N.) zwischen der Beschwerdeführerin und der Kanzlei Jones Day führen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Staatsanwaltschaft infolge einer Auswertung Kenntnis von Informationen erlangen würde, die allesamt aufgrund des von der Beschwerdeführerin erteilten Mandats in die Sphäre der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day gelangt sind und über deren Preisgabe die Beschwerdeführerin als Auftraggeberin bisher selbst entscheiden konnte. Darin läge einerseits ein schwerlich wiedergutzumachender Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführerin. Andererseits könnten durch die Auswertung persönliche Daten unbeteiligter Dritter, insbesondere von Mitarbeitern der Volkswagen AG oder ihrer Tochtergesellschaften wie etwa der Audi AG, die ihre Daten in der Sphäre der Kanzlei Jones Day sicher glaubten, zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen.
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Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, würde damit lediglich eine Verzögerung der staatsanwaltlichen Ermittlungen für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Ein Beweisverlust hinsichtlich der Informationen aus dem sichergestellten Material wäre nicht zu befürchten, wenn auch den Ermittlungsbehörden vorerst die Möglichkeit versperrt bliebe, mit Hilfe dieser Informationen weitere Ermittlungshandlungen vorzunehmen, die der Beweiserhebung oder der Verfahrenssicherung dienen. Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für die Beschwerdeführerin schwerer als die durch den Erlass der einstweiligen Anordnung eintretende vorübergehende Beschränkung der staatlichen Strafverfolgung.
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