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BVerfG 20.02.2017 - 2 BvR 63/15
BVerfG 20.02.2017 - 2 BvR 63/15 - Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG durch Nichtvorlage der Frage, ob das Ziel einer effektiven Zuwanderungskontrolle als zwingender Grund des Allgemeininteresses eine Beschränkung der Stillhalteklausel des Art 13 EWGAssRBes 1/80 rechtfertigen könne - zudem keine Verletzung des Art 101 Abs 1 S 2 GG durch Fehlen einer expliziten Begründung der Nichtvorlage
Normen
Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 267 Abs 3 AEUV, Art 13 EWGAssRBes 1/80, Art 6 MRK
Vorinstanz
vorgehend BVerwG, 6. November 2014, Az: 1 C 4/14, Urteil
Tenor
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts O… wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, in der dieses ohne eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof davon ausgegangen ist, dass das Ziel einer effektiven Zuwanderungskontrolle als zwingender Grund des Allgemeininteresses eine Beschränkung der Stillhalteklausel des Art. 13 des Assoziationsratsbeschlusses 1/80 rechtfertigen könne. Der Beschwerdeführer rügt, das Bundesverwaltungsgericht habe ihn seinem gesetzlichen Richter entzogen, da es das Unionsrecht fortentwickelt habe, wozu ausschließlich der Europäische Gerichtshof befugt gewesen sei. Im Übrigen sei die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch in der Sache verfehlt.
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II.
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Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>). Sie ist jedenfalls unbegründet.
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Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem grundrechtsgleichen Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da die Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV weder wegen des Fehlens einer expliziten Begründung für die Nichtvorlage (1.) noch der Sache nach (2.) unhaltbar gehandhabt worden ist.
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1. Eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht schon darin, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht explizit begründet hat, warum es von einer Vorlage abgesehen hat. Zwar kann eine fehlende Begründung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf einen Entzug des gesetzlichen Richters hindeuten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 - 1 BvR 2083/11 -, juris, Rn. 30; vgl. aber BVerfGE 135, 155 234>, wonach allein eine fehlende Begründung bei materieller Vertretbarkeit nicht ausreicht). Dies entspricht auch der bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. BVerfGE 111, 307), der prüft, ob die unterlassene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof durch nationale Höchstgerichte einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK darstellt (EGMR, Entscheidung vom 10. April 2012 - 4832/04 - Vergauwen u.a. - und EGMR, Entscheidung vom 8. April 2014 - 17120/09 - Dhahbi). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hierbei insbesondere das Erfordernis einer Begründung der Nichtvorlage anhand der vom Europäischen Gerichtshof anerkannten Fallgruppen, in denen eine Vorlage entbehrlich ist, angenommen. Einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK hat er in einem Fall festgestellt, in dem sich das nationale Gericht mit dem ausdrücklichen Vorlagebegehren des Klägers nicht auseinandergesetzt und sich darüber hinaus in dem Urteil mit keinem Wort mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs befasst hatte (EGMR, Entscheidung vom 8. April 2014 - 17120/09 - Dhahbi, Rn. 33).
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Vorliegend ergibt sich aus diesen Maßstäben keine Verletzung des gesetzlichen Richters. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich ausführlich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auseinandergesetzt und diese ausgewertet. Jedenfalls solange der Verfahrensbeteiligte keine konkrete Vorlagefrage formuliert hat und sich das Fachgericht mit dem Unionsrecht auseinandersetzt, stellt allein die Unterlassung einer ausdrücklichen Begründung der Nichtvorlage für sich genommen keinen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter dar. Dass sich eine derartige Begründung im vorliegenden Fall zur Klarstellung des vom Revisionsgericht eingenommenen Rechtsstandpunkts angeboten hätte, ändert daran nichts.
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2. Es liegt auch keine unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht vor.
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a) Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Dies gilt auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums; ein "oberstes Vorlagenkontrollgericht" ist es nicht (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerfGE 135, 155 230 ff., Rn. 176 ff.> m.w.N.).
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Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird offensichtlich unhaltbar gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt schließlich zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines "acte clair" oder eines "acte éclairé" willkürlich bejahen (zu den drei Fallgruppen vgl. BVerfGE 82, 159 195 f.>; 126, 286 316 f.>; 128, 157 187 f.>; 129, 78 106 f.>).
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b) Vorliegend sind die Voraussetzungen keiner der drei Fallgruppen erfüllt. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt. Vielmehr ist es nach Auswertung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs davon ausgegangen, dass dieser nunmehr auch zwingende Gründe des Allgemeininteresses als Rechtfertigungsgründe bei Abweichungen von der Stand-Still-Klausel anerkennt, und es hat das Vorliegen solcher zwingender Gründe festgestellt. Es hat die Rechtslage damit als geklärt angesehen und gerade keine eigenständige Fortentwicklung des Unionsrechts bei zweifelhafter Rechtslage angenommen. Auch ein bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft liegt nicht vor.
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Die Voraussetzungen der dritten Fallgruppe sind ebenfalls nicht erfüllt, denn das Bundesverwaltungsgericht hat den ihm bei der Frage, ob die Rechtsprechung unvollständig ist beziehungsweise ein "acte clair" oder "acte eclairé" vorliegt, zustehenden Beurteilungsspielraum nicht unvertretbar ausgefüllt. Zwar sprach Einiges dafür, den Europäischen Gerichtshof zur Präzisierung des Begriffs der "zwingenden Gründe des Allgemeininteresses" anzurufen (vgl. Vorlagebeschluss des VG Darmstadt vom 1. Dezember 2015 - 5 K 1261/15.DA -, juris, Rn. 64 ff. und Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 16. September 2015 - 11 S 1711/15 -, juris, Rn. 8). Denn diesen Rechtfertigungsgrund hatte der Europäische Gerichtshof im Assoziationsrecht erst in seiner jüngeren Rechtsprechung entwickelt und insbesondere die Verhinderung rechtswidriger Einreise und rechtswidrigen Aufenthalts sowie die Bekämpfung von Zwangsheiraten und die Förderung der Integration erörtert (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-225/12 - Demir, und EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C-138/13 - Dogan). Diese Rechtfertigungsgründe waren präziser konturiert als die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Fallgruppe der wirksamen Steuerung der Migration, die zur Rechtfertigung von Zuzugsbeschränkungen türkischer Staatsangehöriger vielfach angeführt werden könnte.
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Die Handhabung der Vorlagepflicht durch das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch den fachgerichtlichen Wertungsrahmen im Ergebnis gleichwohl noch nicht überschritten. Denn es ist davon ausgegangen, dass die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses parallel zum Recht der Grundfreiheiten zu bestimmen sind, in denen eine derartige ungeschriebene Einschränkungsmöglichkeit seit langem anerkannt ist und grundsätzlich weit ausgelegt wird (vgl. schon EuGH, Urteil vom 20. Februar 1979 - C-120/78 - Cassis de Dijon, Rn. 8). Dieses Verständnis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird auch in der Literatur vertreten (vgl. Thym, ZAR 2014, S. 301 303>). Dass das Bundesverwaltungsgericht den Verweis des Beschwerdeführers auf Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) nicht zum Anlass für eine Vorlage genommen hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn die Vorschrift stellt durch einen besonders intensiven Ausweisungsschutz nur eine besonders schützenswerte Gruppe von Unionsbürgern besser und wirkt zudem nur gegenüber dem schwerstmöglichen aufenthaltsrechtlichen Eingriff, der Ausweisung. Dies ist auf die Wiedereinführung einer formalen Voraussetzung für den legalen Aufenthalt türkischer Staatsangehöriger nicht übertragbar.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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