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BVerfG 11.09.2015 - 1 BvR 2211/15
BVerfG 11.09.2015 - 1 BvR 2211/15 - Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Voraussetzungen eines Versammlungsverbots wegen polizeilichen Notstandes - Maßgeblichkeit der fachgerichtlichen Gefahrenprognose, wenn das Fachgericht die verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht verkannt hat und dem BVerfG eine eigene Sachaufklärung aus Zeitgründen nicht möglich ist
Normen
Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 15 Abs 1 VersammlG
Vorinstanz
vorgehend Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, 11. September 2015, Az: 4 Bs 192/15, Beschluss
vorgehend VG Hamburg, 9. September 2015, Az: 15 E 4931/15, Beschluss
Gründe
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde weder als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, eine Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, einer Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 96, 120 128 f.>; stRspr).
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2. Danach fehlt es hier an den Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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a) Wenn sich - wie dies nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts der Fall ist, von denen auch das Bundesverfassungsgericht ausgeht - der Veranstalter und die Versammlungsteilnehmer überwiegend friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit vorwiegend auf Grund des Verhaltens Dritter - insbesondere von Gegendemonstrationen - zu befürchten sind, ist die Durchführung der Versammlung jedoch nach Art. 8 Abs. 1 GG grundsätzlich zu schützen und sind behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten (vgl. BVerfGE 69, 315 360 f.>; BVerfGK 8, 79 81>). Gegen die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den besonderen, eng auszulegenden Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 360 f.>; BVerfGK 17, 303 308>). Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anderenfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der von dem Beschwerdeführer angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre; eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht allerdings nicht (BVerfGK 8, 79 82>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 2794/10 -, NVwZ 2013, S. 570 571>). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde (BVerfGK 17, 303 308>).
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Mit Art. 8 GG wäre es nicht zu vereinbaren, dass bereits mit dem Bevorstehen einer Gegendemonstration, deren Durchführung den Einsatz von Polizeikräften erfordern könnte, erreicht werden kann, dass dem Veranstalter der angemeldeten Versammlung die Möglichkeit genommen wird, sein Demonstrationsanliegen zu verwirklichen. Deshalb muss vorrangig versucht werden, den Schutz der Versammlung auf andere Weise durchzusetzen. Der Staat darf insbesondere nicht dulden, dass friedliche Demonstrationen einer bestimmten politischen Richtung durch gewalttätige Gegendemonstrationen verhindert werden. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so ist es Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit für alle Grundrechtsträger hinzuwirken und die polizeilichen Mittel und Kräfte bereitzustellen beziehungsweise erforderlichenfalls im Wege der Amtshilfe zu organisieren, um dieses Ziel zu erreichen (vgl. BVerfGK 8, 79 81>). Der Bund und die Länder sind gegebenenfalls zur Amtshilfe verpflichtet. Im Regelfall muss und wird es deshalb möglich sein, eine Versammlung, die - wie im vorliegenden Verfahren - frühzeitig angemeldet wurde, vor Angriffen Dritter zu schützen und so deren Durchführung sicherzustellen. Lassen sich angesichts nicht vorhersehbarer Entwicklungen oder außergewöhnlicher Umstände im Einzelfall die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit benötigten Polizeikräfte am Veranstaltungstag auch unter Hinzuziehung externer Kräfte nicht rechtzeitig bereitstellen, verlangt eine verhältnismäßige Beschränkung des Art. 8 Abs. 1 GG auch die Prüfung einer zeitlichen Verschiebung der Versammlung anstelle eines Verbots als milderes Mittel.
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b) Das Oberverwaltungsgericht stellt unter Zugrundelegung dieser Grundsätze mit guten Gründen darauf ab, dass vorliegend zweifelhaft ist, ob die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens die erforderlichen Anstrengungen zum Schutz der Versammlung unternommen hat und das Verbot der Versammlung zu Recht auf einen polizeilichen Notstand gestützt werden konnte. Vertretbar hält es diese Frage im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes unter dem besonderen Zeitdruck des Falls nicht für aufklärbar. Die im Rahmen der Folgenabwägung erstellte Gefahrenprognose, dass die geplante Durchführung der Versammlung angesichts der jedenfalls im Ergebnis nicht hinreichend verfügbaren Einsatzkräfte mit Sicherheit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einem erheblichen Teil der Teilnehmer und Gegendemonstranten führen wird, die unter diesen Bedingungen nicht verhindert werden können, war nicht auf bloße Vermutungen, sondern auf umfangreiche Tatsachenfeststellungen gestützt. Sie hält sich unter den besonderen Bedingungen des vorliegenden Falls noch im fachgerichtlichen Wertungsrahmen. Sie nimmt die Anforderungen an den polizeilichen Notstand ernst und behält sich dessen Prüfung im Hauptsacheverfahren vor. Es ist weder ersichtlich, dass das Gericht damit den Sicherheitsbehörden einen Weg öffnen will, durch schlichte Verweigerung der gebotenen Anstrengungen Versammlungen zu verhindern, noch dass die Antragsgegnerin sich an die insoweit maßgeblichen Maßstäbe nicht halten und diesen Weg als ein Mittel zur Verhinderung von unliebsamen Versammlungen wählen wird.
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Eine hiervon abweichende eigene Folgenabwägung ist auch dem Bundesverfassungsgericht angesichts der Kürze der Zeit nicht möglich. Im Rahmen der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG ist eine verantwortliche Abwägung nur in voller Kenntnis der hierfür maßgeblichen Umstände möglich. Fehlt es an einer realistischen Möglichkeit, sich diese zu verschaffen, und ist insbesondere in der zur Verfügung stehenden Zeit feststellbar, dass die Ausgangsentscheidungen die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht verkannt haben, die für eine solche Abwägung gelten, sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einer abweichenden Beurteilung außerstande (vgl. BVerfGE 56, 244 246>; 72, 299 301>; 83, 158 161>). So liegt es hier. Insbesondere hat das Oberverwaltungsgericht die einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht verkannt.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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