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BFH 10.01.2024 - XI B 24/22
BFH 10.01.2024 - XI B 24/22 - Keine Verletzung der Neutralitätspflicht durch Hinweis auf einen begünstigenden Fehler
Normen
§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 1 S 1 Halbs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO, § 135 Abs 2 FGO, § 69 AO, § 393 Abs 3 S 2 AO, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG
Vorinstanz
vorgehend FG Düsseldorf, 31. Januar 2022, Az: 11 K 2812/17 H, Urteil
Leitsatz
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NV: Das finanzgerichtliche Verfahren ist vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägt, sodass das FG nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, einen den Kläger begünstigenden Fehler des FA im Rahmen der Klageanträge zu seinen Lasten zu berücksichtigen (Saldierungsgebot). Ein solcher Hinweis an die Beteiligten zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung verletzt die dem FG obliegende Neutralitätspflicht nicht.
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 31.01.2022 - 11 K 2812/17 H wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gründe
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Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist unbegründet und daher zurückzuweisen.
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1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) zuzulassen.
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a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Beantwortung der Rechtsfrage muss aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung dem allgemeinen Interesse dienen. Es muss sich um eine klärungsbedürftige Rechtsfrage handeln, die im Revisionsverfahren auch geklärt werden könnte (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17.05.2021 - VIII B 88/20, BFH/NV 2021, 1353, Rz 7; vom 23.02.2022 - II B 26/21, BFH/NV 2022, 612, Rz 7). Einer allgemeinen und abstrakten Klärung nicht zugänglich und damit nicht klärungsfähig sind Rechtsfragen, deren Beantwortung von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängt (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 21.09.2016 - VI B 34/16, BFH/NV 2017, 26, Rz 5; vom 23.07.2020 - VIII B 130/19, BFH/NV 2021, 33, Rz 4; vom 23.02.2022 - II B 26/21, BFH/NV 2022, 612, Rz 7). Die ordnungsgemäße Konkretisierung der Frage erfordert regelmäßig, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder mit "Nein" beantwortet werden kann; unzulässig ist eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalls abhängt und damit auf die Antwort "kann sein" hinausläuft (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26.04.2018 - XI B 117/17, BFH/NV 2018, 953, Rz 51; vom 24.10.2023 - VIII B 70/22, BFH/NV 2024, 34, Rz 6). Neben der Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage in dem künftigen Revisionsverfahren fordert der BFH außerdem, dass eine Aussage zu dieser Rechtsfrage erforderlich war, um die vom Finanzgericht (FG) getroffene Entscheidung zu begründen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 07.06.2011 - X B 212/10, BFH/NV 2011, 1709, Rz 5; vom 22.03.2023 - II B 26/22, BFH/NV 2023, 729, Rz 24, m.w.N.). Die Rechtsfrage darf mithin nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der Urteilsausspruch entfiele (vgl. BFH-Beschluss vom 22.03.2023 - II B 26/22, BFH/NV 2023, 729, Rz 24).
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b) Den vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen kommt danach keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu.
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aa) Der Kläger hält es für klärungsbedürftig , ob das FG "seine Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit [verletzt]‚ wenn es in der mündlichen Verhandlung Hinweise zu seiner Rechtsauffassung … gibt, die dazu führen, dass das Finanzamt daraufhin von einer bereits angekündigten Teilabhilfe … Abstand nimmt?".
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Diese Rechtsfrage ist nicht allgemein klärungsfähig. Der aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes abgeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren verlangt als "allgemeines Prozessgrundrecht", dass der Richter das Verfahren so gestalten muss, wie die Parteien beziehungsweise Beteiligten es von ihm erwarten dürfen. Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten, insbesondere aber darf er aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableiten und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl. dazu Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 06.04.1998 - 1 BvR 2194/97, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1998, 2044; vom 18.07.2013 - 1 BvR 1623/11, NJW 2014, 205; BFH-Beschlüsse vom 05.02.2014 - X B 138/13, BFH/NV 2014, 720, Rz 25 ff.; vom 16.03.2016 - X B 202/15, BFH/NV 2016, 1050, Rz 15 ff.). Ob der Richter hierbei die Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit verletzt‚ ist nicht allgemein und abstrakt klärbar, sondern kann allein anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden; denn Inhalt und Umfang der Hinweispflichten des § 76 Abs. 2 FGO richten sich wesentlich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls (vgl. BFH-Beschlüsse vom 04.06.2003 - X B 16/02, BFH/NV 2003, 1212, unter II.1.a bb; vom 16.03.2016 - X B 202/15, BFH/NV 2016, 1050, Rz 14).
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Im Übrigen ist das finanzgerichtliche Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) geprägt. Das FG ist nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, einen den Kläger begünstigenden Fehler des Finanzamts im Rahmen der Klageanträge zu seinen Lasten zu berücksichtigen (sog. Saldierungsgebot, vgl. BFH-Entscheidungen vom 26.09.2005 - XI B 57/04, BFH/NV 2006, 517, unter 2.a; vom 19.05.2021 - X R 20/19, BFHE 273, 237, Rz 83). Zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung kann es verpflichtet sein, auf eine mögliche Saldierung vorab hinzuweisen (vgl. BFH-Beschluss vom 26.06.2021 - VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511). Ein solcher Hinweis an die Beteiligten ist keine Verletzung der Neutralitätspflicht (vgl. BFH-Beschluss vom 23.03.1995 - XI B 166/94, BFH/NV 1995, 998).
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bb) Die vom Kläger darüber hinaus aufgeworfenen Rechtsfragen, ob das "in § 393 Abs. 3 Satz 2 AO normierte Verwertungsverbot hinsichtlich Erkenntnissen aus Telefonüberwachung die Berücksichtigung dort gewonnener Informationen in anderen (d.h. nicht den oder die Betroffenen, sondern Dritte betreffenden) Besteuerungsverfahren", hindert und der "Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit i.S.d. § 69 AO verkannt [wird], wenn das FG die grobe Pflichtverletzung bereits darin sieht, dass die Steuerpflichtige trotz Vorhandenseins von 'Warnsignalen' das Amt des Geschäftsführers antritt, statt in Ansehung dieser Warnsignale davon Abstand zu nehmen", sind nicht entscheidungserheblich. Diese Rechtsfragen könnten hinweggedacht werden, ohne dass der Ausspruch des angefochtenen Urteils des FG entfiele.
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Das FG ist zwar der Auffassung, dass die Erkenntnisse aus einer Telefonüberwachung im Besteuerungsverfahren nicht verwertbar seien. Darauf beruht seine Entscheidung jedoch nicht. Nach der vom FG gewonnenen Überzeugung reichten die Äußerungen des Steuerberaters … in dem abgehörten Telefonat nicht aus, um ihn als naheliegenden Haftungsschuldner in Betracht zu ziehen, sodass seiner materiell-rechtlichen Ansicht nach die Ausübung des Auswahlermessens nicht zu beanstanden war. Selbst wenn das FG nicht von einem Verwertungsverbot ausgegangen wäre, wäre seine Entscheidung daher nicht anders ausgefallen.
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Das FG hat seine Auffassung, dass der Kläger die ihm als Geschäftsführer auferlegten Pflichten grob fahrlässig verletzt hat, nicht allein auf die ihm bei seinem Einstieg als Gesellschafter und Geschäftsführer bekannten Umstände gestützt, sondern gleichermaßen darauf, dass er nicht auf die Erfüllung von umsatzsteuerrechtlichen Mitteilungs-, Anmelde- und Zahlungspflichten für die getätigten Geschäfte geachtet und sich --wenn überhaupt-- nur unzureichend um die Belange der betreffenden GmbH gekümmert habe. Damit war auch eine Aussage des FG zu der vom Kläger in Bezug auf den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit im Sinne des § 69 der Abgabenordnung (AO) aufgeworfenen Rechtsfrage nicht erforderlich, um seine Entscheidung zu begründen.
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2. Die Verfahrensrügen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) sind entweder nicht hinreichend gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt oder nicht begründet.
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a) Hinsichtlich der Rüge, das FG habe gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen, fehlt es an der erforderlichen Darlegung.
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aa) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff. Insbesondere verpflichtet § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO das Gericht, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist danach zum Beispiel verletzt, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache oder sonst Teile des Gesamtergebnisses des Verfahrens unberücksichtigt geblieben sind (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 26.06.2021 - VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511, Rz 23; vom 20.09.2022 - VIII B 82/21, BFH/NV 2022, 1295, Rz 27; jeweils m.w.N.). Bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, ist der --gegebenenfalls auf einer anderen Vertragsauslegung und Sachverhaltswürdigung beruhende-- materiell-rechtliche Standpunkt des FG zugrunde zu legen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 15.12.2008 - IX B 39/08, juris, unter 2.b; vom 20.09.2022 - VIII B 82/21, BFH/NV 2022, 1295, Rz 27).
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bb) Einen Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO hat der Kläger nicht aufgezeigt. Er legt nicht dar, dass das angefochtene Urteil des FG im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO auf der von ihm gerügten "Aktenwidrigkeit" --welche er darin sieht, dass das FG aus seiner Sicht zu Unrecht von einem Verwertungsverbot nach § 393 Abs. 3 Satz 2 AO ausgegangen sei-- beruhen kann. Dies wäre aber erforderlich gewesen, da das FG zu keinem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es --wie es in seinem Urteil ausgeführt hat-- die Äußerungen in dem abgehörten Telefonat berücksichtigt hätte (siehe oben unter 1.b bb).
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Soweit der Kläger sinngemäß rügt, das FG setze seine eigene Einschätzung an die Stelle der des Beklagten und Beschwerdegegners --Finanzamt--, macht er keinen Verfahrensfehler im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend, sondern wendet sich gegen die aus seiner Sicht materiell-rechtlich fehlerhafte Entscheidung des FG. Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt nicht bereits deshalb vor, weil das FG den ihm vorliegenden Akteninhalt nicht entsprechend den klägerischen Vorstellungen würdigt oder die Würdigung fehlerhaft erscheint. Insoweit handelt es sich um materiell-rechtliche Fehler, nicht um einen Verfahrensverstoß (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 03.02.2016 - XI B 53/15, BFH/NV 2016, 954, Rz 36; vom 04.03.2020 - XI B 30/19, BFH/NV 2020, 611, Rz 14, m.w.N.).
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b) Der vom Kläger als Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gerügte Verstoß gegen Denkgesetze führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze sind in der Regel materiell-rechtliche Fehler und können nicht als Verfahrensmangel gerügt werden (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 20.06.2012 - X B 1/12, BFH/NV 2012, 1616, Rz 9; vom 11.02.2020 - XI B 69, 70/19, BFH/NV 2020, 891, Rz 5).
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3. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiter gehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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