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BFH 22.11.2023 - VII B 25/23
BFH 22.11.2023 - VII B 25/23 - (Steuervergütung im Einzelfall nach § 163 AO)
Normen
§ 163 Abs 1 S 1 AO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, AlkStG
Vorinstanz
vorgehend FG Hamburg, 26. Januar 2023, Az: 4 K 139/21, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Frage, ob unter den Umständen des Einzelfalls aus Billigkeitsgründen eine Steuervergütung nach § 163 der Abgabenordnung (AO) gewährt werden kann, obwohl das Alkoholsteuergesetz keine Entlastungsvorschrift für die steuerfreie Verwendung von versteuertem Alkohol enthält, ist nicht klärungsbedürftig. Die Vorschrift des § 163 AO regelt gerade Fälle, in denen die Steuer im Einzelfall niedriger festgesetzt werden kann, und lässt damit in besonders gelagerten Ausnahmefällen Abweichungen von der gesetzlich geregelten Steuerhöhe zu.
Tenor
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Die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 26.01.2023 - 4 K 139/21 wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin), die eine Apotheke betreibt, kaufte im Zeitraum vom 25.03.2020 bis 09.04.2020 250 l versteuerten reinen Alkohol (96 % Weizenfeindestillat) zur Herstellung von Desinfektionsmitteln, weil es ihr aufgrund eines Versorgungsengpasses im Rahmen der Corona-Pandemie zuvor nicht gelungen war, unversteuertes Ethanol oder Isopropylalkohol zu erwerben. Sie verarbeitete den Alkohol zu Desinfektionsmitteln.
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Ihren Antrag auf "Erlass" beziehungsweise "Erstattung" der Branntwein- beziehungsweise Alkoholsteuer in Höhe von 3.257,50 € lehnte der Beklagte und Beschwerdeführer (Hauptzollamt --HZA--) ab. Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos.
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Das Finanzgericht (FG) urteilte, der Klägerin sei gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Alkoholsteuer in Höhe von 3.257,50 € zu vergüten. Die Ablehnung der begehrten Steuervergütung sei sachlich unbillig, weil eine Besteuerung im konkreten Einzelfall der gesetzlichen Grundwertung der einschlägigen Steuergesetze widerspreche. Die Herstellungshandlungen der Klägerin erfüllten die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach dem Alkoholsteuergesetz. Das HZA könne der Klägerin nicht die seiner Auffassung nach gegebene Biozid-Eigenschaft der Desinfektionsmittel entgegenhalten. Unabhängig davon gehe das FG davon aus, dass die hergestellten Desinfektionsmittel den alkoholsteuerrechtlichen Arzneimittelbegriff erfüllten. Ein Härtefall im Sinne von § 163 AO liege vor, zumal die Klägerin verpflichtet gewesen sei, einen für eine Woche ausreichenden Vorrat von Desinfektionsmitteln vorzuhalten, und die Klägerin das ihr Zumutbare unternommen habe, um unversteuerten Alkohol oder Isopropanol zu beziehen, was angesichts der explosionsartig angestiegenen Nachfrage keinen Erfolg gehabt habe. Es liege eine Ermessensreduktion auf Null vor.
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Das HZA begründet seine Nichtzulassungsbeschwerde mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und mit der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO).
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Indem das FG eine Steuervergütung aus Billigkeit gemäß § 163 AO gewährt habe, obwohl kein gesetzlicher Vergütungstatbestand vorhanden sei, weiche es von der Rechtsprechung anderer Gerichte ab, wonach eine Billigkeitsmaßnahme nicht im Widerspruch zur steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers stehen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen dürfe. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Verwaltung. Unter anderem sei das FG vom Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 - GrS 1/15 (BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393) abgewichen. Selbst wenn die Herstellungshandlungen der Klägerin an sich die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach dem Alkoholsteuergesetz erfüllt hätten, könne das Entlastungsziel der Richtlinie 92/83/EWG des Rates vom 19.10.1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1992, Nr. L 316, 21) nicht mehr erreicht werden, wenn das Wahlrecht zugunsten einer direkten Steuerbefreiung ausgeübt worden sei. Der Gesetzgeber lasse es im Alkoholsteuerrecht gerade zu, dass Sachverhalte auftreten könnten, in denen die Steuerbelastung trotz an sich begünstigter Verwendung bestehen bleibe. Die Nichtgewährung einer Entlastung entspreche daher den steuerrechtlichen Wertentscheidungen des Gesetzgebers im Alkoholsteuerrecht. Darüber habe sich das FG hinweggesetzt. Weiterhin stehe die Vorentscheidung in Divergenz zu dem Urteil des FG Hamburg vom 26.11.2010 - 4 K 287/09. Da die Klägerin nicht Schuldnerin der Steuer, sondern Trägerin der vom Steuerschuldner abgewälzten Steuerlast sei, gehe es vorliegend nicht um einen Anspruch aus einem Steuerschuldverhältnis.
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Demgegenüber sei der Fall, der dem zitierten Urteil des FG Düsseldorf vom 12.12.2007 - 4 K 4738/06 VSt, VM zugrunde gelegen habe, mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar, da dort mit § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 des Mineralölsteuergesetzes eine gesetzliche Anspruchsgrundlage für eine Entlastung existiert habe.
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Es sei daher zu klären, ob unter den Umständen des Einzelfalls eine Steuervergütung nach § 163 AO gewährt werden könne, obwohl das Alkoholsteuergesetz keine Entlastungsvorschrift für die steuerfreie Verwendung von versteuertem Alkohol vorsehe.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet, weil die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe nicht vorliegen.
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1. Die vom HZA geltend gemachte Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) liegt nicht vor.
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a) Das FG ist nicht von dem Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 - GrS 1/15 (BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 113) abgewichen.
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Zunächst sind die Sachverhalte im Streitfall und in dem diesem BFH-Beschluss zugrundeliegenden Fall nicht vergleichbar. Während das FG im Streitfall über eine Billigkeitsmaßnahme in einem konkreten Einzelfall entschieden hat, lag dem Beschluss des Großen Senats des BFH das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 27.03.2003 (BStBl I 2003, 240), ergänzt durch das BMF-Schreiben vom 22.12.2009 (BStBl I 2010, 18) --der sogenannte Sanierungserlass-- zugrunde. Dieser galt jedoch nicht nur für einen speziellen Einzelfall, sondern für eine Vielzahl noch offener Fälle (vergleiche IV. des Sanierungserlasses) und sah somit keine Einzelfallprüfung vor, sondern enthielt typisierende Regelungen (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 - GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 120).
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Abgesehen davon hat der Große Senat des BFH in seinem Beschluss vom 28.11.2016 - GrS 1/15 (BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 124) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Billigkeitsmaßnahmen in Einzelfällen nicht von vornherein ausgeschlossen sind, sondern in Fällen sachlicher Unbilligkeit durchaus in Betracht kommen.
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Schließlich stimmt die angefochtene Vorentscheidung insofern mit dem Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 - GrS 1/15 (BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393) überein, als das FG die für die Gewährung von Steuerbegünstigungen vorgenommene Grundwertung des Gesetzgebers im Alkoholsteuerrecht ermittelt und den Streitfall damit abgeglichen hat. Im Rahmen dieser Prüfung kam das FG zu dem Ergebnis, dass das Alkoholsteuerrecht keinen Entlastungstatbestand enthält und der Gesetzgeber keinen solchen hat regeln wollen (Vorentscheidung, Seite 13). Weiterhin ist es davon ausgegangen, dass die Herstellungshandlungen der Klägerin die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach dem Alkoholsteuergesetz erfüllten (Vorentscheidung, Seiten 10 ff.) und dass die Ablehnung der begehrten Steuervergütung im konkreten Einzelfall der gesetzlichen Grundwertung der einschlägigen Steuergesetze widerspräche (Vorentscheidung, Seiten 13 ff.). Das FG hat somit den Streitfall mit der gesetzlichen Grundwertung in Einklang bringen wollen, weil nach seiner Auffassung eine Versagung der Steuervergütung unter den Umständen des Einzelfalls dieser widerspreche. Gerade diesen Abgleich mit der gesetzgeberischen Intention hat auch der Große Senat des BFH gefordert, indem er unter Rz 113 des genannten Beschlusses ausgeführt hat, dass Billigkeitsmaßnahmen Härten im Einzelfall ausgleichen, die der steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht entsprechen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen.
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b) Es liegt auch keine Divergenz zu dem Urteil des FG Düsseldorf vom 12.12.2007 - 4 K 4738/06 VSt, VM vor, weil das FG Düsseldorf § 163 Satz 1 AO (in der Fassung vom 01.10.2002, entspricht § 163 Abs. 1 Satz 1 AO in der hier maßgeblichen Fassung) als Anspruchsgrundlage für eine begehrte Steuervergütung aus Billigkeit in Betracht gezogen, aber in dem zu entscheidenden Einzelfall sachliche und persönliche Billigkeitsgründe ausgeschlossen hat. Insofern liegt die angeführte Divergenzentscheidung anders als der Streitfall, in dem das FG einen sachlichen Billigkeitsgrund erkannt hat.
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c) Weiterhin ist das FG auch nicht von dem Urteil des FG Hamburg vom 26.11.2010 - 4 K 287/09 abgewichen, da dieses ebenfalls § 163 AO als Anspruchsgrundlage für eine Steuervergütung aus Billigkeit in Betracht gezogen und in dem zu entscheidenden Einzelfall Billigkeitsgründe verneint hat. Im Übrigen steht einer Divergenz schon entgegen, dass die Sachverhalte des Streitfalls und der angeblichen Divergenzentscheidung nicht vergleichbar sind. Denn im Fall des FG Hamburg war der Antragsteller Schuldner der Energiesteuer, während die Klägerin im vorliegenden Streitfall nicht Schuldnerin, sondern Trägerin der Steuerbelastung ist.
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2. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
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Die Frage, ob unter den Umständen des Einzelfalls eine Steuervergütung nach § 163 AO gewährt werden könne, obwohl das Alkoholsteuergesetz keine Entlastungsvorschrift für die steuerfreie Verwendung von versteuertem Alkohol vorsehe, ist nicht klärungsbedürftig. Die Vorschrift des § 163 AO regelt gerade Fälle, in denen die Steuer im Einzelfall niedriger festgesetzt werden kann, und lässt damit in besonders gelagerten Ausnahmefällen im Einzelfall Abweichungen von der gesetzlich geregelten Steuerhöhe zu.
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Dass Billigkeitsmaßnahmen nicht dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen dürfen und dass eine Regelung, die der Gesetzgeber abstrakt hätte treffen können, nicht Gegenstand von Billigkeitsmaßnahmen sein kann, ist ebenfalls nicht klärungsbedürftig, sondern durch die Rechtsprechung geklärt (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 - GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 123). Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt keine Billigkeitsmaßnahme (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 22.07.2020 - II R 42/17, Rz 21). Denn Billigkeitsmaßnahmen sollen ein vom Gesetz gedecktes, aber vom Gesetzgeber nicht gewolltes Ergebnis vermeiden (BFH-Urteil vom 22.11.2018 - VI R 50/16, BFHE 263, 44, BStBl II 2019, 313, Rz 37).
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3. Soweit das FG den Willen des Gesetzgebers ausgelegt hat und zu dem Ergebnis kam, dass eine Versagung der Steuervergütung im Streitfall vom Gesetzgeber nicht gewollt gewesen wäre, begründet dies keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Insofern könnte im Fall einer nicht zutreffenden Einschätzung der Grundwertung des Gesetzgebers allenfalls ein Fehler bei der Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts im konkreten Einzelfall vorliegen, der jedoch für sich gesehen nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 11.12.2013 - VII B 94/13, Rz 7, m.w.N.; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 116 Rz 35, m.w.N.). Gleiches gilt, falls das FG zu Unrecht einen sachlichen Billigkeitsgrund bejaht haben sollte.
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4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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